Diese Ruhe, diese Natur: Das Bild mag noch so schön sein, störende Geräusche gibt es nicht preis.

Hören Sie das?

Die Welt wird immer lauter. Und unsere Körper kommen nicht mehr mit.

Eine Reportage von Bianca Bosker (Text), Bernhard Schmid (Übersetzung) und Cassidy Araiza (Bilder), 06.03.2021

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Seit ein paar Tagen sind schweizweit die Geschäfte wieder offen. Anfang vom Ende des Shutdowns. Das Leben kommt zurück. Aber wollen wir eigentlich alles wieder so, wie es vorher war? Diese Reportage aus dem «Atlantic» erschien im November 2019, wenige Monate vor Ausbruch der Pandemie. Haben wir den Wert der Ruhe für uns besser schätzen gelernt?


Karthic Thallikar hörte das Geräusch zum ersten Mal gegen Ende 2014. Damals, als er es noch genoss, in der Nachbarschaft spazieren zu gehen.

Seit zwei Jahren wohnte er da bereits mit seiner Frau und den beiden Kindern in Brittany Heights, einer relativ jungen Siedlung in Chandler, Arizona. Thallikar hatte das zweigeschossige maulwurfs­graue Haus, in dem sie wohnten, schon bei der ersten Besichtigung ins Herz geschlossen. Die hohen Zimmer wirkten luftig und gross, gleich um die Ecke gab es einen Spielplatz, und die Nachbarinnen waren freundliche, gebildete Leute mit guten Jobs im Kreditwesen, beim Chiphersteller Intel oder an der Highschool am Ort.

Besonders mochte es Thallikar, an seiner Auffahrt zu stehen und über die Heuwiese und das struppige Buschwerk des Reservats von Gila River hinweg auf die schroffen Konturen der Estrella Mountains hinauszuschauen. Bis jüngst war die Gegend um Brittany Heights grösstenteils Ackerland gewesen, und selbst jetzt noch säumte die mit knorrigen Mesquite­sträuchern bestandene Wüste hier und da ein Luzernefeld.

Dann fiel ihm bei einem seiner Spaziergänge zum ersten Mal ein monotones tiefes Summen auf, als sei in irgendeiner Küche ein gutes Stück weit weg ein Mixer in Betrieb. Es nervte irgendwie, aber Thallikar dachte sich nichts weiter dabei. Wahrscheinlich die Umwälz­pumpe eines Pools. Bei einem weiteren Spaziergang einige Tage später hörte er es wieder. Reinigt da jemand einen Teppich?, fragte er sich.

Und einige Abende darauf war es erneut da. Diesmal klang es wie Musik­fetzen einer fernen Party, aber es fehlte der dumpfe rhythmische Bass. Es war eher ein einziger steter, irgendwie penetranter Ton: IEHHNNNNNNN. Bald war der Ton Abend für Abend zu hören – überall. Schliesslich wurde das Jaulen – oder war es ein Fiepen? – zum lästigen, aber ständigen Sound­track seiner allabendlichen kleinen Ausflüge.

Und dann begann es sich auszubreiten. Anfang 2015 bemerkte Thallikar, dass ihm das Summen nach Hause gefolgt war. Wie in Arizona so üblich, verbrachten Thallikar und seine Nachbarn die lauen Winter­abende im Garten: Man grillierte, las, hielt ein Nickerchen neben dem Pool, ass unter dem Funkeln einer Lichter­kette. Thallikar hatte einen Kesselgrill und Garten­möbel hinter dem Haus aufgestellt. Wann immer er hinausging, sei es zum Grillieren oder zum Lesen, stets war da dieser verdammte Ton – am Wochenende, am Nachmittag, am Abend bis spät in die Nacht. Es war mehr als lästig, und das Unbehagen darüber nahm spürbar zu. Woher mochte das nur kommen? Würde es wieder aufhören? Würde es noch schlimmer werden? Er ging nicht mehr so oft aus dem Haus.

Lärmgeplagte Idylle: Brittany Heights in Chandler, Arizona.

Dann war es plötzlich im Schlaf­zimmer. Er hatte eines Abends eben die Augen geschlossen, da hörte er es: IEHHNNNNNNNN. Er stand auf und schloss das Fenster, doch das half nichts. «Da begann ich mir wirklich Sorgen zu machen», sagte er später. Er versuchte, mit Ohrstöpseln zu schlafen. Als das nichts half, wickelte er sich zusätzlich ein Handtuch um den Kopf. Als das immer noch nichts fruchtete, zog er ins Gästezimmer, wo das Summen nicht gar so penetrant schien.

Abend für Abend zwang er sich zum Einschlafen, Stöpsel in den Ohren, den Kopf bandagiert. Doch er spürte es in den Knochen, dieses Jaulen, spürte, wie er langsam, aber sicher in Panik geriet, als es schliesslich gar nicht mehr aufhören wollte. Es jaulte, summte, sirrte, fiepte vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, als hätte er einen Moskito im Ohr, nur lauter und penetranter. Es schien von überall gleichzeitig zu kommen. Thallikar graute es schliesslich davor, abends nach Hause zu gehen. Als die Monate ins Land zogen, kam es ihm vor, als herrsche rund um ihn Krieg. In einer SMS schrieb er, das Ganze nehme sich wie ein «akustischer Angriff» auf sein Zuhause aus.

In den Wahnsinn getrieben

Bei der ersten Lärm­beschwerde der Welt­geschichte ging es ebenfalls um eine mehr oder weniger schlaflose Nacht. Das 4000 Jahre alte nach ihm benannte Epos berichtet, wie sich Gilgamesch, einer der damaligen Götter, vermutlich etwas übellaunig, weil er wegen des Radaus der lärmigen Menschen­kinder nicht schlafen konnte, zur «Ausrottung des Menschen­geschlechts» entschied.

Lärm – oder eine «allzu dynamische akustische Umgebung», wie die Fachleute das nennen – kann den einen oder die andere auch heute noch zu mörderischen Extremen treiben, vor allem wenn die Verursacherin selbigen Lärms das Opfer zu Hause stört. So etwa im texanischen Fort Worth, wo ein Vater von zwei Kinder nach wiederholten Versuchen, seinen lärmigen Nachbarn zur Mässigung zu bewegen, wegen der lauten Musik um zwei Uhr nachts die Polizei rief. Die kam zwar vorbei, zog aber wieder ab – und rückte eine Stunde später wieder an, weil der Mann inzwischen drei Kugeln in seinen Nachbarn geschossen hatte.

In New York soll ein ehemaliger Carfahrer wegen der lärmigen Partys in der Nachbar­wohnung sogar einen Killer engagiert haben. Ein Mann in Pennsylvania lauerte nach endlosen Streitigkeiten mit dem Pärchen in der Etage über ihm den beiden eines Tages auf und erschoss erst sie und dann sich selbst – er hinterliess einen Zettel mit der Aufschrift: «Man kann einen nur bis zu einem gewissen Punkt provozieren, dann kommt es zur Explosion.»

Und dann wäre da noch der Mann, der nach einem Streit über zu viel Lärm den Sportlehrer einer Mittelschule anschoss; der Mann, der seinen Mitbewohner umbrachte, nachdem er ihn vergeblich gebeten hatte, «doch leiser zu sein»; und die Frau, die einen Nachbarn anschoss, weil er sie gebeten hatte, die Musik leiser zu stellen – und das alles allein im Jahr 2018.

Bei Lärm geht es nie nur um Geräusche; Lärm ist nicht zu trennen von Macht und Machtlosigkeit bzw. den damit verbundenen Problemen. Es ist ein Übergriff, den wir nicht kontrollieren können und dem wir uns unserer Anatomie wegen nicht einfach verschliessen können. «Wir haben irgendwann alle mal daran gedacht, unsere Nachbarn umzubringen», sagte mir (eher leise) ein mit Lärmschutz befasster Wissenschaftler.

Was Gefahren durch die Umwelt anbelangt, so rangiert der Lärm recht weit unten. Er gilt weniger als Gesundheits­risiko denn als ästhetisches Ärgernis – eine Sache für Leute, die sich zwischen Golfplatz und Vernissage über den Lärm des Laubbläsers vor ihrem Ferien­domizil echauffieren. Klagen Sie über Lärm, verdreht Ihr Gegenüber die Augen; nichts macht Sie für andere schneller zum Querulanten.

Lärm macht bösartig

Wissenschaftlerinnen wissen jedoch seit Jahrzehnten, dass Lärm – selbst auf dem scheinbar harmlosen Pegel von Strassen­verkehr – nicht gut für uns ist. «Lärm als Ärgernis zu bezeichnen, das ist, als würde man Smog als Unannehmlich­keit abtun», stellte William Stewart, zuvor viele Jahre Leiter des Public Health Service, schon 1978 fest. Seither haben zahllose Studien seine Aussage bekräftigt. Lärm ist, «egal wo, als Risiko für die Gesundheit der Menschen zu sehen».

Mal angenommen, Sie versuchen einzuschlafen. Sie mögen sich einbilden, das Brummen der LKW ausgeblendet zu haben, die vor ihrem Fenster einen Gang tiefer schalten. Ihr Körper jedoch kann das nicht: Ihre Nebennieren pumpen Stress­hormone, Blutdruck und Herz­frequenz steigen, Ihre Verdauung wird langsamer. Ihr Gehirn verarbeitet Geräusche auch noch, während Sie dösen, und Ihr Blutdruck reagiert sogar auf «Krach» von gerade mal 33 Dezibel – was einen Hauch lauter ist als das Schnurren einer Katze. Gross angelegte Studien zeigen, dass die Lärm­belastung, wenn der Radau – über Tage, Monate, Jahre hinweg – nicht aufhört, das Risiko für gewisse Krankheiten vergrössert: hoher Blutdruck, koronare Herzkrankheiten, Herzinfarkte und darüber hinaus auch Schlag­anfälle, Diabetes, Demenz und Depression.

Kinder leiden nicht nur physisch: So waren 18 Monate nach Eröffnung des Münchner Flughafens 1992 der Blutdruck und Stress­hormon­spiegel der Anwohnerkinder erheblich gestiegen, sie wiesen auch Verhaltens­auffälligkeiten und kognitive Probleme auf. Eine bahnbrechende Studie stellte bereits 1975 fest, dass die Lese­fähigkeiten von Sechstklässlern, deren Klassen­zimmer auf ein lärmiges Hochbahn­trassee hinausführte, um fast ein Jahr hinter jenen von Schülern in ruhigeren Klassen­zimmern lag – eine Differenz, die nach dem Einbau schall­dämmender Materialien rasch verschwand.

Ausserdem macht uns Lärm bösartig. Einer Studie von 1969 zufolge wurden Versuchs­personen, die sich Lärm – und sei es nur in Form eines sachten weissen Rauschens – ausgesetzt sahen, nicht nur aggressiver, sie zeigten auch eine höhere Bereitschaft, andere Versuchs­personen mit Strom­schlägen zu traktieren.

In Extremfällen werden Töne zur Waffe. Spätestens seit den 1960er-Jahren beschäftigt sich die Wissenschaft damit, Geiselnehmer, Demonstrantinnen mit Schallwellen zu überwältigen, ebenso wie feindliche Truppen. Gegen Letztere schlug ein Fachmann den Einsatz niederfrequenter Schallwellen vor, weil sie «zu Desorientierung, Erbrechen, Magen­krämpfen, unkontrollier­barer Defäkation» führen würden.

Das US-Militär, sich der verwirrenden und irritierenden Macht des Lärms wohl bewusst, hat wiederholt Soundtracks zur Bestrafung eingesetzt: So versuchte man die Kapitulation von Panamas Diktator Manuel Noriega zu beschleunigen, indem man sein Versteck mit Rockmusik beschallte (unter anderem schafften es Black Sabbath und Rick Astley in die Playlist); die Offensive auf Falluja während des Irakkriegs erfolgte unter Beschallung des Schlacht­felds mit Hardrock (Guns N’ Roses und AC/DC); man folterte Häftlinge in Guantánamo mit einem endlosen Sperrfeuer aus Rap und TV-Melodien (Eminem und die Werbemelodie für Katzenfutter); und schliesslich versuchte man unter Anleitung des FBI die Branch-Davidian-Sekte im texanischen Waco mit einer Endlosschleife von Weihnachts­liedern, Nancy Sinatra, tibetischen Gesängen und den Schreien sterbender Kaninchen zur Aufgabe zu bewegen.

Bohren, Bellen, Baggern, Weinen, Singen, Trampeln, Tanzen, Klavier­stunden, Rasen­mähen und laufende Generatoren – derartige Geräusch­kulissen erzeugen, selbst wenn sie nicht ausdrücklich zum Schaden anderer zum Einsatz kommen, ernsthafte Schmerzen für die, die sie erdulden müssen. «Man hat das Gefühl, es frisst einen auf», sagte ein Mann, der sich von einem rasselnden Boiler gepeinigt sah, zu einem Reporter. Eine Frau, die unter dem ständigen Gehupe um sie herum zu leiden hatte, sagte mir: «Der Lärm hat mich an den Rand des Selbstmords getrieben.» Menschen, die sich damit herumschlagen müssen, bezeichnen Lärm als «Chaos», «Folter», «unerträglich», «Übelkeit erregend», «deprimierend und nerven­aufreibend», «die absolute Hölle» und als «Eispickel ins Hirn».

Unterdessen haben sich Wissenschaftler, Ärztinnen, Aktivisten, Amtsträgerinnen und Gesetzgeber dem Streben nach Stille angeschlossen. Eine Mission, die schwieriger ist, als man vermuten würde. «Orte der Stille», sagt der Spezialist für akustische Ökologie, Gordon Hempton, «sind schon seit langem am Aussterben. Und das in einem Tempo, welches das Artensterben weit übersteigt.»

Die monatelange Suche nach der Übeltäterin

In Chandler, Arizona, machte sich Thallikar auf die Suche nach dem Ursprung des Tons. Zuerst durchkämmte er die Gegend zu Fuss, brach gegen zehn, elf abends auf, wann immer das dumpfe Rumoren des Verkehrslärms verklungen war. Als diese «Lärm­patrouillen», wie er sie nannte, kein Ergebnis brachten, weitete er seinen Suchradius aus – zuerst mit dem Velo, dann mit dem Auto. Alle paar Blocks hielt er an, um nach dem Heulen zu lauschen. Es war allgegenwärtig.

Er zog mehrere Nächte die Woche los, mal zehn Minuten, mal eine Stunde, machte sich Notizen darüber, wo das Geräusch am lautesten war. Die Patrouillen zogen sich hin: eine Woche, zwei Wochen, zwei Monate. Was hie und da zum Krach mit seiner Gattin führte, die wissen wollte, was er denn mitten in der Nacht da draussen trieb.

Schliesslich, die Wärme kündigte schon den Frühling an, glaubte Thallikar die Quelle des Lärms gefunden zu haben: ein graues, nahezu fensterloses Gebäude, einen knappen Kilometer von seinem Haus entfernt. Der zweigeschossige Beton­klotz mit dem Charme einer Haftanstalt und dem architektonischen Schwung eines Schuh­kartons war von Maschendraht- und schwarzen Metall­zäunen umgeben. Das Ganze gehörte einer Firma mit Namen Cyrus One.

Die Server drinnen, der Lärm draussen: Das Cyros-One-Datenzentrum in Chandler.

Die Entdeckung löste keinerlei Euphorie in ihm aus, da war nur die drückende Angst, das Geräusch könnte noch schlimmer werden. Thallikar wurde beim Stadtplanungs­amt vorstellig, und das nicht nur einmal. Die zuständige Beamtin dort meinte, sie könne ihm da nicht helfen, und verwies ihn an den Bauleiter bei Cyrus One. Eines Samstag­abends, es ging gegen Mitternacht und er konnte wegen des Lärms wieder einmal nicht einschlafen, rief Thallikar den Bauleiter an. Der protestierte und meinte, er versuche grade zu schlafen. «Dude, ich versuche auch zu schlafen!», schnaubte Thallikar. Tags darauf telefonierten sie noch einmal. Das Gespräch endete abrupt; und ohne Ergebnis.

Der Website von Cyrus One zufolge bietet die Anlage des Unternehmens in Chandler den grössten Unternehmen des Landes eine robuste Infrastruktur für systemrelevante Anwendungen. Es handelt sich mit anderen Worten um ein Daten­zentrum – eine Halle für Tausende von Servern, auf deren Daten man praktisch von überall auf der Welt Zugriff hat. Wann immer Sie Ihren Kontostand überprüfen, einen Gebraucht­wagen suchen oder ein Hotel­zimmer buchen: Sie können mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass der Datenstrom über eines der 50 Zentren fliesst, die Cyrus One rund um den Globus verteilt betreibt. Der grösste Kunde ist Microsoft.

In der Absicht, die Lärmmacher persönlich zu konfrontieren, stattete Thallikar Cyrus One einen Überraschungs­besuch ab. Gerade waren Arbeiter dabei, ein neues Gebäude hochzuziehen. Aber wie er erfuhr, hatte das ständige Heulen mit der Baustelle nichts zu tun. Es kam von den Kühl­aggregaten der Anlage, wuchtigen Konstruktionen aus Stahlgehäusen und Rohren an den Aussen­wänden der Gebäude. Server fühlen sich – genau wie Menschen – am wohlsten bei Temperaturen zwischen 16 und 32 Grad. Die enormen Kühlapparate sorgen für ein angenehmes Arbeitsklima für die heissen Maschinen im Innern des Baus. Im Herbst 2014, etwa um die Zeit, in der Thallikar das Heulen aufzufallen begann, hatte Cyrus One Platz für sechzehn dieser Kühl­aggregate gehabt. Jetzt schuf man Platz für acht mehr.

Cyrus One war kurz vor Thallikar nach Chandler gekommen und hatte, zwei Monate nachdem Thallikar sein Haus gekauft hatte, mit dem Bau seiner Serveranlage begonnen. Für Cyrus One sei Chandler ein «Traumstandort» gewesen, sagte mir Kevin Timmons, der technische Direktor des Unternehmens. Die Stadt habe Cyrus One praktisch eine Carte blanche geboten, einen der grössten Daten­speicher­komplexe der USA zu bauen: fast zwanzig Hektaren, durch biometrische Schlösser, Stahlbeton­wände, kugelsicheres Glas und eine hochmoderne Trocken­sprinkler­anlage geschützt. Cyrus One verfügt sogar über zwei eigene Trafostationen mit 112 Megawatt, ausreichend, um eine Stadt wie Basel mit Strom zu versorgen.

Die Anlage in Chandler war nicht nur die bis dato ambitionierteste des Unternehmens, sondern auch die grösste innerhalb ihrer Just-in-time-Strategie. Sprich: Kunden können in kürzester Zeit mehr Kapazität bestellen. Cyrus One ist in der Lage, in nur 107 Tagen eine Anlage von Grund auf zu bauen – schneller, als die Server der Kundschaft einsatzbereit wären. «Wir haben damit buchstäblich den Durchbruch geschafft», sagte Timmons.

Arizona zieht Rechenzentren an wie Florida Schönheits­chirurgen. Das liegt zum einen an der niedrigen Luftfeuchtigkeit, zum anderen an seiner Nähe zu Kalifornien, wo ein Gutteil der Kundschaft sitzt. Kommt hinzu, dass Arizona kein Erdbebengebiet ist, dafür hat es aber billigen Strom; und dank des erfolgreichen Lobbyings von Cyrus One gibt es obendrein auch noch erhebliche Steuer­anreize für Unternehmen, die hier ihre Server­farmen aufbauen.

Man braucht von der Cyrus-One-Anlage in Chandler nur zehn Minuten zu Fuss nach Norden zu gehen, um vor zwei weiteren Datenzentren zu stehen. Noch mal eines steht ein bisschen weiter die Strasse hoch. Mit dem Auto erreicht man von dort aus in einer Viertelstunde drei weitere. Noch weiter im Osten stösst man auf ein Daten­zentrum von Apple, zu dem sich bald eine Anlage von Google gesellen wird sowie ein weiteres von Cyrus One. Eine Dreiviertel­stunde von Thallikars Haus entfernt baut Compass Datenzentren auf einem Areal, das dreimal so gross ist wie das von Cyrus One in Chandler.

Und die Behörden? Hören nichts

Thallikar zog eine aggressive Kampagne auf, um den nervtötenden Lärm abzustellen. Im Sommer 2015 ging er in der Stadt­verwaltung auf der Suche nach Unterstützung von Pontius bis Pilatus. Er begann, E-Mails an die für Innovation und wirtschaftliche Entwicklung zuständigen Manager von Cyrus One zu schreiben. Der Direktor für wirtschaftliche Entwicklung antwortete ihm, Thallikar sei der Einzige, der sich beschwere, kam aber pflichtbewusst zweimal nach Arizona, um sich das hochfrequente Jaulen selbst anzuhören. Nur dass er es nicht hörte. «Ich glaube nicht, dass ich mir das einbilde und anderer Leute Zeit verschwende», schrieb Thallikar zurück und fügte hinzu, dass er nun auch die Familie auf seine Patrouille mitgenommen hätte, «und die haben das Geräusch auch gehört».

Thallikar mailte einem Nachrichten­sprecher, einem Produktions­leiter, einem Chefredaktor und mehreren Reportern bei dem Dutzend lokaler Nachrichten­sender und erbot sich an, «beim Erleben des Problems» behilflich zu sein. Er mailte dem Bürgermeister von Chandler und allen fünf Mitgliedern des Stadtrats. Wiederholt. Und schliesslich täglich. «Der Lärm wird nachts lauter und dringt in die Häuser ein. Und die Strassen sind voll davon», schrieb Thallikar in einer seiner Mails. In einer anderen: «Was wird es wohl brauchen, bis einer von Ihnen auf meine E-Mails reagiert?»

Schliesslich trug er seine Sache bei einer Sitzung des Stadtrats vor und verlangte die Bildung einer Arbeits­gruppe, die dem Gejaule ein Ende machen sollte. Und ja, selbst­verständlich hätte man ihn darauf aufmerksam gemacht, dass das Geräusch dem Rauschen des Verkehrs auf dem Freeway 202 in der Nähe recht ähnlich war.

Thallikar trug seine Kampagne dem Hausbesitzer­verein und natürlich auch seinen Nachbarn an. Die Reaktion war lau, obwohl er einen Nachbarn dazu brachte, eine E-Mail an die Stadt zu schreiben. Thallikar wandte sich darauf wieder an Cyrus One und an die Stadtpolizei von Chandler. Commander Gregg Jacquin versprach ihm, der Sache nachzugehen, wies aber auch gleich darauf hin, dass Thallikar womöglich mehr Erfolg beschieden wäre, wenn er mit den E-Mails an die Stadt­verwaltung ein bisschen bremsen würde. Thallikar begann ein Logbuch über die Veränderungen des Geräuschs zu führen, von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag. Es wurde lauter, so viel stand für ihn fest.

Im Herbst 2015 bekam Thallikar eine E-Mail von Commander Jacquin, der ihm mitteilte, er habe sich auf die Suche nach dem Geräusch gemacht, könne aber beim besten Willen nichts hören. «Ich erfinde das doch nicht – auch wenn ich keine Messungen vorliegen habe», antwortete Thallikar. «Das Geräusch, das übers Wochen­ende zu hören war, war von Samstag­abend gegen 10 Uhr abends und den ganzen Sonntag über wirklich schlimm. Ich bekam nervöse Kopfschmerzen und musste Medikamente einnehmen.» Danach hörte er von Jacquin nichts mehr. Kurz darauf dachte Thallikar zum ersten Mal daran, sein Haus zu verkaufen und wegzuziehen.

Schon die alten Griechen waren genervt

Lärm ist ein raffinierter Feind. Er hinterlässt keine Spuren und verschwindet, wenn man Jagd auf ihn macht. Er ist schwer zu messen und noch schwieriger zu beschreiben. Ausserdem ist er relativ. «Ein Geräusch ist, wenn man seinen Rasen mäht; Lärm ist, wenn der Nachbar den Rasen mäht; Musik ist, wenn dir dein Nachbar den Rasen mäht», sagte der Akustik­berater Arjun Shankar dazu. Lärm ist ausserdem verteufelt schwer mit Gesetzen beizukommen, obwohl man es seit Anbeginn des menschlichen Zusammen­lebens immer wieder versucht hat.

Zur ersten einschlägigen Stadt­verordnung kam es offenbar bei den alten Griechen im achten Jahrhundert vor Christi – als die Sybariter Hähne, Schmiede, Zimmerleute und andere «geräuschvolle Künste» aus ihrer Stadt verbannten. In den Vereinigten Staaten erreichte das Verlangen nach etwas Ruhe seinen Höhepunkt 1972, als Präsident Richard Nixon das erste ausdrücklich gegen die Lärm­verschmutzung gerichtete Bundes­gesetz verabschiedete. Und damit der Environmental Protection Agency (EPA) die Befugnisse zur Ruhigstellung des Kontinents übertrug. Neun Jahre später strich die Regierung dem (innerhalb der EPA eingerichteten) «Büro für Lärmminderung und Kontrolle» die Mittel, womit die Verantwortung wieder zu den Bundes­staaten und örtlichen Behörden wechselte. Seither hat sich nicht viel geändert. «Leider», so meinte New Yorks altgediente Lärmschutz­beauftragte Arline Bronzaft, «hat sich der Bund weitgehend aus dem Lärm­geschäft zurückgezogen.»

In den folgenden Jahrzehnten verlagerte sich der Kampf gegen den Lärm hin zu Rand­gruppen – ein lose organisiertes Grüppchen von Aktivistinnen, deren Aktionen in etwa den Biss und Glamour einer kirchlichen Wohltätigkeits­tombola haben. Die Stimmung bei den einschlägigen Gruppen grenzt an Defätismus, im Ton eher Selbsthilfe­gruppe als Streikzelle. (Die Website der Organisation Right to Quiet Society bietet eine höfliche Anweisung für Neulinge: «Wenn Ihnen nicht gefällt, was Sie hier lesen, ohne es uns wissen zu lassen, machen Sie mal besser leise die Tür hinter sich zu.»)

Anti-Lärm-Aktivisten sind bunt zusammen­gewürfelt, entweder eint sie die Geografie oder ein ganz bestimmtes Ärgernis. Je nach persönlichem Trigger – Flugzeuge, Züge, Gebläse, Jetski, Konzerte, Musikanlagen, Autos, Motorräder oder Muzak – findet sich hier eine Auswahl von Organisationen, denen man beitreten kann: Roar (Anwohnerinnen gegen Flugzeug­lärm), H.O.R.N. (gegen exzessiv laute Züge), Blast (gegen Laubbläser), C.A.L.M. (für alternativen, auch ruhigeren Landschaftsbau) und Pipedown («eine Kampagne zum Schutz vor Musik-Berieselung»).

Sie können es natürlich auch bei einer von gut 150 weiteren Organisationen mit unterschiedlichen Levels an Engagement probieren. Nicht gegen spezielle Störenfriede engagierte Gruppen sind eher selten. Noise Free America ist eine der wenigen Organisationen mit überregionaler Wirkung; sie hat 51 Orts­verbände, Lärmberater und wendet sich mit ihren Gesuchen an die Gesetz­geberinnen in Washington. Höhepunkt bis dato? Ein Meeting mit dem stellvertretenden Stabschef der damaligen Oppositions­führerin Nancy Pelosi.

Auf Lärm-Safari in New York

An einem Sonntag­vormittag vor einigen Wochen traf ich mich mit dem Gründer und Direktor von Noise Free America, Ted Rueter, zu einer «Lärmtour» durch Brooklyn, wie er es nannte, einer Wallfahrt zu einigen der mark­erschütterndsten Kreuzungen des New Yorker Stadtteils. Der 62-jährige Politologie­professor erwartete mich mit Lärmschutz­kopfhörern, in Khakishorts und rosa Polohemd in einem Starbucks.

Zu uns gesellten sich noch drei weitere New Yorker, die ebenfalls besorgt über den Lärmpegel in ihren Vierteln waren: ein pensionierter Börsen­analyst, der unter dem endlosen Gepiepse des Baustellen- und Liefer­verkehrs in Manhattans Battery Park City zu leiden hat; eine Frau Mitte vierzig, die dreimal umgezogen ist auf der Flucht vor lärmigen Partys; und schliesslich eine Frau, die mit dem endlosen Gehupe von Minicars, Dollar-Vans und ungeduldigen Fahrern auf Kriegsfuss steht.

Für Ted Rueter, der aus Durham, North Carolina, nach New York gekommen war, schien die Tour durch den Lärm New Yorks etwas vom exotischen Kitzel einer Safari zu haben. Die anderen drei hatten zwar online ausgiebig über das Thema korrespondiert, trafen sich aber zum ersten Mal. Sie schienen entsprechend begeistert von der Begegnung mit Leidens­genossen. «Das macht uns zu Verbündeten», sagte der Börsenanalyst.

Alle drei New Yorkerinnen hatten ihren Lärm­problemen mit den traditionellen Mitteln beizukommen versucht: die Nummer 311, die man wählt, wenn nicht direkt ein Notfall vorliegt (und bei der Beschwerden über Lärm ganz obenan steht), die Polizei, ihre Stadträtinnen, den Bürger­beauftragten, den Bürger­meister. Die Stadt reagierte teilnahmslos, kalt und – wenn überhaupt – ineffektiv. Die partygeplagte Frau hatte so oft die 311 angerufen, dass sie schon Angst hatte, verhaftet zu werden. Die andere Tourbegleiterin wies sie darauf hin, dass die Polizei sie vermutlich bereits als «Gewohnheits­nörglerin» führte, ein unter Lärm­aktivisten gefürchtetes Etikett.

Städtische Lärmschutz­verordnungen sind entweder qualitativ (verbieten mit anderen Worten subjektiv als «störend» oder «unverhältnis­mässig» laut definierten Lärm), oder sie sind quantitativ (sie definieren «störend» oder «unverhältnis­mässig laut» nach Tageszeit und Dezibelstärke). Die Lärmschutz­verordnung der Stadt New York ist quantitativ. Gebell zählt ihr zufolge (§ 24-235) zum Beispiel nur dann als Lärm­belästigung, wenn ein Hund zehn Minuten ununterbrochen zwischen sieben Uhr morgens und zehn Uhr abends oder fünf Minuten ununterbrochen zwischen zehn Uhr abends und sieben Uhr morgens kläfft. (Viereinhalb Minuten Gebell um zwei Uhr nachts ist also im Prinzip kein Problem.) Restaurants müssen in New York mit einem Bussgeld rechnen, wenn ihre Musik in einer umliegenden Wohnung a) mit mehr als 42 Dezibel zu hören ist und b) 7 Dezibel lauter ist als der übliche Strassenlärm in der Gegend.

Lärm kann Geister wecken

Die meisten Verordnungen verbinden Verstösse mit Lautstärke. Aber jeder, der mal versucht hat, bei einem tropfenden Wasserhahn einzuschlafen, der weiss, dass einen auch ein verhältnismässig leises Geräusch verrückt machen kann. Was ein Geräusch so irritierend macht, das bestätigt auch die Forschung, hat nur zum Teil damit zu tun, ob es sich um Geflüster oder Getöse handelt. Die Lautstärke, ab der ein Geräusch zu irritieren beginnt, variiert je nach Quelle – so tolerieren wir Züge eher als Autos und Autos eher als Flugzeug­lärm –, und die Tonhöhe spielt ebenfalls eine Rolle. (Der Mensch kann Töne zwischen 20 und 20’000 Hz wahrnehmen, was in etwa vom Bums eines Subwoofers bis zum hochfrequenten Gezirpe bestimmter Grillen reicht.)

Wir sind sensibler gegenüber mittelfrequenten Tönen – Stimmen, Vogel­gezwitscher, quietschenden Bremsen, kreischenden Kindern – und nehmen diese Töne lauter wahr, als sie tatsächlich sind. Und im Widerspruch zum gängigen Klischee des faust­schüttelnden Alten, sind weder Alter noch Geschlecht brauchbare Indikatoren dafür, ob jemand sich gestört fühlt.

Ebenso wenig müssen Geräusche zu hören sein, um Schaden anzurichten. Hörstöpsel mögen das Jaulen der Motor­räder vor Ihrem Schlafzimmer­fenster dämpfen, sie sind aber nutzlos gegen das niederfrequente Grummeln, das neben den Fenstern und Böden auch Ihren Brustkorb zum Schwingen bringt. Und das sind die Art von Tönen, die amtliche Lärm­verordnungen meist ignorieren. Wollen Behörden Umwelt­lärm einschätzen – um zum Beispiel zu entscheiden, ob man eine Schule in der Nähe eines Flughafens mit Schallschutz ausstatten soll –, achten sie bei ihren Berechnungen in der Regel auf die mittelfrequenten Töne, für die unser Gehör besonders empfänglich ist.

Die niederfrequenten Töne (Windturbinen, Wasch­maschinen, herumtollende Kinder in der Wohnung im oberen Stock) lassen sie aussen vor, obwohl sie erwiesener­massen eine grössere Reichweite haben und stärkere Reaktionen auslösen. «Würde man Töne tatsächlich mit den richtigen Metriken messen, würde man sehen, dass man weit mehr Leuten schadet, als man annehmen würde», sagte die Umwelt- und Gesundheits­spezialistin Erica Walker, die zusammen mit Anrainern von Einflug­schneisen überlegt, wie sich Lärm richtig quantifizieren liesse.

Vor Jahren sahen sich die Beschäftigten einer Firma für medizinische Ausrüstung von Erscheinungen einer grauen Spektral­gestalt aufgeschreckt, die in ihrem Labor herumspukte. Als eines Abends einer der Ingenieure allein im Labor war, kam – deutlich spürbar – etwas Kaltes in den Raum, und aus den Augen­winkeln sah er eine lautlose Gestalt neben sich schweben. Als er herumfuhr, war niemand da. Tags darauf, beim Justieren einer der Maschinen im Labor, stellte sich plötzlich dasselbe ungute Gefühl wieder ein. Ein Poltergeist? Er stellte fest, dass es ein vibrierender Sauglüfter war.

Er schrieb eine Arbeit über seine Erfahrung als Ghostbuster. Er kam darin zum Schluss, dass die Maschine niederfrequente Schallwellen abgab: energetische Impulse in einer Frequenz, die für den Menschen nicht mehr hörbar, aber doch stark genug war, um auf den Körper zu wirken. Er verglich das mit den unhörbaren Vibrationen im Keller eines Spukhauses oder den langen zugigen Korridoren, von denen in Grusel­geschichten gerne die Rede ist. Abgesehen davon, dass sie womöglich zu Frösteln, Schweiss­ausbrüchen, Atemnot und – infolge vibrierender Augäpfel – zu verschwommener Sicht führen, können niederfrequente Geräusche offensichtlich auch Geister heraufbeschwören.

Der sichere Hafen wurde zum Albtraum

Zwei Jahre lang beschwerte sich Thallikar bei allen und jeder – ob ihm jemand zuhören wollte oder nicht. Cyrus One baute unterdessen munter weiter. Das Unternehmen zog drei neue Gebäude hoch und kaufte in Chandler noch mal zwölf Hektaren Land dazu. In einer Presse­mitteilung lobte sich die Firma dafür, «den grössten Data Center Campus im Südwesten zu betreiben, einen der grössten der USA». Ausserdem gab man sich begeistert über die Pläne zum Bau einer vergleichbaren Anlage in Kalifornien.

Es gab Nächte, in denen Thallikar überhaupt nicht schlafen konnte. Er begann auch tagsüber Ohrstöpsel zu tragen und hielt sich nicht mehr im Garten auf. Er nutzte jegliche nur erdenkliche Ausrede, die Stadt zu verlassen, und abends fuhr er die knappe halbe Stunde rauf nach Tempe, wo er früher gewohnt hatte, um dort spazieren zu gehen. Wenn er dann nach Hause fuhr, hatte er ein flaues Gefühl im Magen. Und beim Abendessen kam er immer wieder auf das Geräusch zu sprechen, er konnte einfach nicht anders.

Es gibt noch beunruhigend viel Bauplatz für Datenzentren rund um Chandler.

Nicht nur das Gejaule – IEHHNNNNNNNN – selbst war entnervend. Genauso schlimm war, dass der Ton wie eine grausame Gedächtnis­stütze jedes Mal gleich auch an alles erinnerte, was ihm zu schaffen machte: seine Ohnmacht; die Ungerechtigkeit, dass die Stadt das Wohlergehen ihrer Bewohner nicht interessierte; die Angst, sein Haus mit einem Riesenverlust zu verkaufen, weil niemand mit diesem Lärm leben wollte; und schliesslich der Kummer darüber, dass der sichere Hafen seiner Familie (von ihrer grössten Investition ganz zu schweigen) zum Albtraum geworden war.

IEHHNNN. IEHHNNNNNNNN. IEHHNNNNNNNNNNNN.

Er versuchte es mit Meditieren. Er dachte daran, neue Fenster einbauen zu lassen, um das Geräusch zu mindern. Oder wäre es besser, Bäume zu pflanzen, um es zu blockieren? Er sah sich nach Anwälten um. Und schliesslich wandte er sich in einem letzten Versuch an die frisch gewählten Leute im Stadtrat von Chandler.

Und siehe da, er bekam eine Antwort mit dem Versprechen, dem Problem nachzugehen.

Tatsächlich meldete sich der Stadtrat ein paar Wochen später zurück. «Nach Aussage des Polizeichefs war die Polizei sechzehn Mal an der Einrichtung, um Ihrer Behauptung nachzugehen», schrieb er. «Sie hielten den Geräusch­pegel für nicht erheblich genug, um ihn als Problem einzustufen.»

Thallikar rief einen Makler an. Er würde zwar Geld verlieren und müsste mit einem kleineren Haus vorlieb­nehmen, aber gegen Ende 2017 stand sein Entschluss fest: Er würde verkaufen.

Mit «Soundwalks» und «Slow TV»

Eine frustrierende Folge meiner Zeit mit Lärm­aktivisten war, dass ich extrem sensibel auf jede Art von Glucksen, Quietschen, Klirren und Knarren wurde. Als ich schliesslich mit Rueter und den drei New Yorkerinnen zu unserer Lärmtour durch Brooklyn aufbrach, empfing uns eine chaotische Kakofonie blökender Autos, klappernder Generatoren und fauchender Flugzeuge; heulende Sirenen, pfeifende Luftschächte; eine Dose schlug scheppernde Purzelbäume auf dem Beton.

R. Murray Schafer, ein kanadischer Komponist und Pionier der akustischen Ökologie in den 60er-Jahren, propagierte mit «Soundwalks» etwas, das weit effektiver als Stadt­verordnungen gegen die Lärm­verschmutzung wirke. Und zwar weil sie beim Menschen das Bewusstsein für das Klangbild ihres Lebensraums schärften. Bei einem Soundwalk lauscht man bewusst auf die Klangmuster in seiner Umgebung. So könnte man dabei zum Beispiel zählen, wie oft man jemanden im Verlauf einer Stunde hupen hört. Für Schafer waren solche Soundwalks eine Möglichkeit, gegen unsere klangliche Inkompetenz anzugehen. Wenn man den Leuten beibringe, sich auf ihre akustische Umwelt einzustellen, würden sie auch verstehen lernen, welche Laute es zu erhalten und welche es zu eliminieren gelte – und entsprechend handeln.

Der erste Stopp auf unserer Lärmtour war glücklicher­weise ein Ort der Stille. Schweigend umringten wir einen kleinen Koi-Teich auf dem Campus des Brooklyn College. Ich zwang mich zu einem vorsichtigen Lauschversuch. Eine Klimaanlage schnurrte. Wasser blubberte. Ein Kind rief. «Seht ihr, kaum kommt ein Kind, schon geht das Geschrei los», sagte eine meiner Begleiterinnen.

Sie diskutierte mit dem pensionierter Börsen­analysten die Wirkungs­losigkeit von Hörstöpseln und das Für und Wider von analogen und digitalen White-Noise-Generatoren, die ein Geräusch erzeugen, das beruhigen soll. Sie selbst schlafe mit drei White-Noise-Generatoren (womit sie übrigens kaum eine Ausnahme unter den Lärm­geschädigten ist, die ich so kennengelernt habe); und wegen eines pfeifenden Kollegen im Büro habe sie seit einiger Zeit auch bei der Arbeit Stöpsel in den Ohren.

«Sagt dir der Begriff ‹Slow TV› etwas?», fragte der Börsen­analyst zurück. «Es zeigt nur ein Segelboot, und das zehn Stunden lang, und alles, was zu hören ist, ist, wie das Boot die Wellen bricht. Das ist alles. Hier und da ist ein brahhhh zu hören, wenn ein anderes Boot vorbeikommt. Sonst nichts. Ist schön. Wirklich schön.»

Stéphane Pigeon, ein Brüsseler Toningenieur, ist zu einer Art Taylor Swift des White Noise geworden; er bereist die Welt auf der Suche nach beruhigenden Klängen für seine Website myNoise.net, die seinen 15’000 täglichen Hörern ein enzyklopädisches Kompendium lärm­kaschierender Tonlandschaften bietet – vom «fernen Donner» bis zum «Waschsalon», den sich ein Hörer gewünscht hatte. (Weisses Rauschen enthält technisch gesehen alle hörbaren Frequenzen zu gleichen Teilen. In der Natur kommt das Geräusch von Regen diesem panfrequenten schhhhhh am nächsten.)

Impuls­geräusche wie Hupen, Bellen, Hämmern und Schnarchen sind besonders schwer zu kaschieren. Nicht dass Pigeon es nicht versucht: Auf einer Reise durch die Sahara nahm er «Berber Tent» auf, einen myNoise-Hit, der Schnarch­geplagten helfen soll, indem er das sanfte Rauschen des Winds, das Sprudeln kochenden Wassers und das leise Röcheln eines Schnarchers in Einklang bringt. Da es extrem schwierig ist, das kurze scharfe HNRROCH! eines Schnarchers zu kaschieren, «besteht das Ziel darin», so sagt mir Pigeon, «jemanden davon zu überzeugen, dass Schnarchen auch ein schönes Geräusch sein kann».

Gibt es eine Definition von Lärm­empfindlichkeit?

Verzweifelte Ohren verlangen verzweifelte Massnahmen, und Lärmgeschädigte geben sich jede nur erdenkliche Mühe, den Pegel zu senken. Ich sprach mit einer New Yorkerin, die sich einen Umzug nicht leisten konnte und im begehbaren Wandschrank schlief – mit Hörstöpseln, Kopfhörern, einem Airconditioner, einem Ventilator und zwei White-Noise-Generatoren. Einem Mann in Wisconsin, der bei sich eine zweite Schalldämmung, eine zweite Trockenwand und neue Fenster eingesetzt hatte, blieben schliesslich nur noch Schlafmittel und Antidepressiva.

Ein Mann in Chinas Hauptstadt Peking rächte sich, von den Kindern im Stock über ihm genervt, indem er einen Motor an die Decke schraubte, der die Wohnung seiner Nachbarn vibrieren liess. Das Gerät gibt es übrigens online zu kaufen. Überhaupt finden sich online so nützliche Dinge wie schalldichte Farbe mit dem sinnigen Namen Coat of Silence, Bassabsorber und – für eine «originelle Rache» – das «Sonic Nausea Electronic Disruption Device», das, korrekt bedient, bei der störenden Nachbarin Brechreiz auslösen soll.

Auf eine Definition von Lärm­empfindlichkeit hat die Wissenschaft sich noch nicht einigen können, ganz zu schweigen davon, dass man wüsste, warum manche Menschen empfindlicher zu sein scheinen als andere; wenn auch in einigen Fällen ein Zusammenhang zwischen Empfindlichkeit und Hörverlust erwiesen ist. In einem aber ist man sich einig: Ein einmal wahrgenommener Ton ist nicht mehr zu ignorieren. «Irritiert einen ein Ton erst mal, trainiert man seinen Verstand darauf, ihn zu hören», sagte Tonkünstler Stéphane Pigeon. «Durch Feedback verstärkt sich das Phänomen zu einem diabolischen Loop.»

Forschungsergebnisse legen den Schluss nahe, dass Gewöhnung, also die Vorstellung, dass wir etwas einfach überhören, ein Mythos ist. Auch ist kein therapeutisches Mittel dagegen bekannt. Selbst im Falle von Tinnitus, einem Hörleiden, das die Forschung weit besser versteht als Lärm­empfindlichkeit, haben die Spezialistinnen keine bessere Therapie zu bieten als die üblichen Freundlichkeiten: Man hört sich die Klagen der Betroffenen an und versichert ihnen dann, das Pfeifen brächte sie schon nicht ins Grab. Oder wie es mir gegenüber ein Experte ausdrückte: Man leiht ihnen ein nettes Ohr.

Und es wurden immer mehr Leidensgenossinnen

Im Sommer 2017 hörte Cheryl Jannuzzi in Clemente Ranch, nur einige Autominuten vom Haus von Karthic Thallikar entfernt, zum ersten Mal ein Brummen. Es schien von irgendwoher hinter ihrem Haus zu kommen. Sie hatte schon eine ganze Weile unter Baustellen­lärm zu leiden, aber das war etwas anderes – als brächte jemand endlos einen Motor auf Touren oder wie ein Jet beim Aufwärmen vor dem Start.

Jannuzzi fragte bei der Stadt­verwaltung nach und erfuhr, dass es sich bei dem Komplex direkt jenseits der South Dobson Road hinter ihrem Haus um ein Daten­zentrum handle. Was ihr neu war; sie wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte. «Sie speichern dort Daten», dachte sie. «Das sollte doch wohl keinen solchen Lärm machen.»

Um Halloween herum begann auch Jennifer Goehring ein Summen zu hören. Sie bekam davon Kopf­schmerzen und tat nachts kein Auge mehr zu. Nur dass weder ihr Mann noch die Kinder es hörten. Sie fürchtete schon, den Verstand zu verlieren. Sie begann bei laufendem White-Noise-Generator zu schlafen, mehrere Kissen über dem Kopf, und ging schliesslich zum Arzt, um sicherzugehen, dass es keine Ohren­entzündung war. War es nicht.

Amy Weber sass mit ihrer Bibel­gruppe im Garten hinterm Haus, als sie sich eines fortwährenden Summens bewusst wurde, das deutlich über den Stimmen ihrer Gäste zu hören war. Natürlich hatten sie und ihr Gatte Steve die sich hinziehenden Bauarbeiten an der Strasse in der Nähe mitbekommen, aber dieses Schwirren schien einfach nicht mehr aufhören zu wollen. Und blieb immer gleich. Sie versuchten, ihm durch Eliminierung auf die Spur zu kommen – einmal standen sie sogar nachts auf, um Dreck aus der Pool­pumpe zu kratzen, die, wie sich herausstellte, noch nicht einmal lief.

Schliesslich kamen sie – wie Thallikar – durch eigene Patrouillen­gänge dem Ursprung des Geräuschs auf die Spur. In der Woche nach Weihnachten tapezierten die Webers Clemente Ranch mit Flyern und richteten eine Website ein, auf der sie fragten, ob sich ausser ihnen noch jemand von einem «unaufhörlichen Brummen/Sirren» von Cyrus One gestört sah. Über 120 Leute meldeten ihre Beschwerden an.

Thallikar hatte von den Bemühungen der Webers von einem Nachbarn gehört, und am 23. Januar 2018 besuchte er die Gründungs­sitzung der «Dobson Noise Coalition» im Haus der Webers. Es waren so viele gekommen, dass es nur Stehplätze gab. Die Leute klagten über Kopf­schmerzen, Reizbarkeit, Schlaf­störungen. Jannuzzi hatte das Geräusch dadurch eliminieren wollen, indem sie schwere hölzerne Scheunen­tore vor ihre Glas­schiebetüren hatte montieren lassen; eine andere Anrainerin hatte vor ihren Schlafzimmer­fenstern Schall­absorber installiert. Fünf Jahre lang hätte man in Jannuzzis Siedlung nicht für Geld oder liebe Worte ein Haus bekommen; jetzt trugen sich einige ihrer Nachbarn mit dem Gedanken, ihr Haus zu verkaufen und wegzuziehen.

Als Thallikar an der Reihe war, sprudelte die Geschichte seiner dreijährigen Odyssee nur so aus ihm heraus: die schlaflosen Nächte, das Gefühl, angegriffen zu werden, die unempfänglichen Leute aus der Stadt­verwaltung, die E-Mails, auf die nie eine Antwort gekommen war. Die anderen trauten ihren Ohren nicht. Er fragte die Runde, warum sie nicht schon früher was gesagt hatten. «Ich denke mal, dass wir uns alle erst mal gedacht haben: ‹Vielleicht hört das ja wieder auf›», sagte einer der Nachbarn. Andere waren davon ausgegangen, dass mit ihnen selbst etwas nicht stimmte – oder sie hatten Mühe gehabt, die Quelle des Geräuschs auszumachen.

Wie auch immer, die «Dobson Noise Coalition» wurde sofort aktiv. Ihre Mitglieder reichten eine Petition herum, die Cyrus One aufforderte, dem Krach ein Ende zu machen, und im Nu hatte man 317 Unterschriften beisammen. Man schrieb Cyrus One an, dann noch einmal, bekam aber nie eine Antwort. Man setzte sich mit der Stadt­verwaltung in Verbindung – die sich der Gruppe gegenüber bei weitem empfänglicher gab als gegenüber einem Einzelnen wie Thallikar – und bekam schliesslich die City-Managerin dazu, Cyrus One per Einschreiben zur Vorlage eines «Aktionsplans» aufzufordern.

Von Stadtschreiern über Bohrer zu Datenzentren

Was im Einzelnen als Lärm empfunden wird, unterliegt Veränderungen. Geräusch­spezifisches Genörgel aus dem 18. und 19. Jahr­hundert – Kirchen­glocken, Wagen­räder, Stadt­schreier – hört sich für heutige Ohren fast schon anheimelnd an. Seither hat sich in unserer Klang­landschaft steter Maschinen­lärm durchgesetzt: Autos, Flugzeuge, Züge, Stereo­anlagen, Pumpen, Bohrer, Turbinen, Pressluft­hämmer, Kreissägen, Ketten­sägen, Handys, Alarm­anlagen, Generatoren, Ventilatoren, Kompressoren, Kehrmaschinen, Helikopter, Rasenmäher und Daten­zentren – ein Chor, dessen Volumen im Gleichschritt mit unserer Online-Besessenheit steigt und es dabei auf eine beachtliche Zahl von Beschwerden bringt.

Allenthalben protestieren Gemeinschaften gegen das Gejaule von Daten­zentren: in Frankreich, Irland, Norwegen, Kanada sowie North Carolina, Montana, Virginia, Colorado, Delaware und Illinois in den USA. Und wer weiss, was uns erst die Drohnen bescheren? «Das nächste Jahrhundert wird der Luft antun, was das 20. Jahr­hundert dem Land angetan hat: Es wird sie mit Strassen und Lärm füllen», sagte mir Les Blomberg, Exekutiv­direktor der Nonprofit­organisation Noise Pollution Clearinghouse. Lärm verselbst­ständigt sich. Und er hört nicht mehr auf. Lärmende Menschen müssen mal schlafen. Unsere mechanischen Pendants, die nicht müde werden, nicht sterben oder ihre Stimmbänder überanstrengen, können rund um die Uhr Krach machen.

Studie um Studie kommt zum wenig erstaunlichen Schluss, dass wir alles in allem die Geräusche der Natur jenen von Maschinen vorziehen. Laut einer Studie von 2008, die ihren Probanden 75 Tonaufnahmen – vom Miauen einer Katze bis hin zu kreischenden Reifen – vorspielte, sind die fünf angenehmsten Geräusche laufendes Wasser, plätscherndes Wasser, fliessendes Wasser, ein kleiner Wasserfall und das Lachen eines Babys. Andere Studien sind sich – mit den Broschüren von Wellness-Einrichtungen – darin einig, dass natürliche Geräusche entspannend wirken.

Und dennoch ersticken wir sie, zum Schaden anderer Spezies, mit unserem Radau. Die Konzentration der Stress­hormone im Kot von Elchen und Wölfen erreicht Spitzen­werte, wenn Snow­mobile in der Nähe sind, und geht wieder auf normal zurück, wenn sich die Maschinen entfernen. Ein ähnliches Muster liess sich bei Glattwalen im Nordatlantik beobachten, die sich dem Heulen des Schiffs­verkehrs ausgesetzt sahen. (Ein auf dem Gebiet der Bioakustik tätiger Wissenschaftler sagte der «New York Times», die akustischen Emissionen der Luftkanonen, mit denen man den Meeresboden vermisst, seien für Tiefsee­geschöpfe «die Hölle».) Vögel werden in geräusch­vollen Habitaten schriller, um sich Gehör zu verschaffen. Spatzen, die sich «anhörten wie – sagen wir mal – George Clooney, klangen jetzt wie Bart Simpson», sagte ein Ornithologe zu einem Reporter. Und von diesem Phänomen lässt sich eine direkte Linie ziehen zum Arten­sterben, zum Vogelschwund und zu weniger Baum­wachstum.

Stille muss man sich leisten können

Nicht jeden trifft all der Krach mit gleicher Wucht. Eine Arbeit von 2017 kommt zu dem Ergebnis, dass in den USA die städtischen Lärmpegel in Bezirken mit einem grösseren Anteil an Schwarzen, Asiatinnen und Latinos höher ausfallen als in vorwiegend weissen Vierteln. Stadtbezirke, in denen eine Mehrheit der Bewohnerinnen unter der Armuts­grenze lebt, sehen sich darüber hinaus einem erheblich grösseren nächtlichen Lärm ausgesetzt. Die Autorinnen der Studie weisen darauf hin, dass ihre Ergebnisse diese Differenzen eher unterschätzen angesichts des Umstands, dass betuchte Haus­besitzerinnen in Schall­dämmung investieren.

«Wer Zugang zu Stille will, muss mehr und mehr dafür zahlen», sagte Antonella Radicchi, eine Architektin, die bei der Kartierung stiller Räume in Städten mithilft. Radicchis Ansicht nach sollte der Zugang zu Oasen der Stille zu den Grund­rechten eines jeden gehören, nicht nur reicher Städter, die es sich leisten können, in Spas, Yoga-Retreats oder auf einem luxuriösen Firmen­campus dem Lärm zu entfliehen.

Für 6450 Dollar – ohne das Flugticket – können Sie einen Flieger, dann ein Auto, ein Motorboot und schliesslich ein Kanu nehmen, das Sie zu einem Wander­weg führt, auf dem Sie drei Tage mit einer geführten Gruppe in Ecuador den Río Sábalo entlang­wandern. Dort hat man jüngst den ersten Wilderness Quiet Park der Welt angelegt. Entwickelt hat das Projekt der Akustik­ökologe Gordon Hempton, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die «Stille zu retten». Seine Organisation entwickelt Standards zum Messen der Stille von Parks, Wander­wegen, Hotels und Wohn­gegenden und bietet Gegenden mit angemessenem Stillepegel die Akkreditierung. (Der Río Sábalo qualifizierte sich für den Status eines Wilderness Quiet Park durch geräuschfreie Intervalle von mindestens fünfzehn Minuten, während deren keine «menschen­gemachten» Geräusche zu hören sind.)

Einige Tage nach seiner Rückkehr vom Río Sábalo unterhielt ich mich mit Hempton per Skype. Er war sonnen­gebräunt, trug das graue Haar kurz geschoren und hatte auf jedem Unterarm ein Tattoo. Wie andere Apostel der Stille spricht auch Hempton mit dem ruhigen Selbst­vertrauen, den rhetorischen Wiederholungen und dem hypnotischen Rhythmus eines Gurus. Ich fragte, worin er die Qualitäten von Stille sieht. «Je tiefer wir in die Stille eintauchen, desto tiefer wird das Verständnis unserer selbst», sagte Hempton. «Wenn man von einem Ort der Ruhe aus spricht, wenn man ruhig ist, dann denkt man anders. Man ist in höherem Masse ein einzigartiges Selbst. Man ist nicht das Echo von Werbung. Man ist nicht das Echo von Plakat­wänden. Man ist nicht das Echo von Popsongs. Man ist das Echo der Umgebung, in der man ist.» Als ich Hemptons Kollegen, dem Mitgründer des Projekts, dieselbe Frage stellte, schalt er mich: «Die Frage an sich kommt schon aus einer geräusch­vollen Umgebung.»

Irgendwann hörte doch jemand hin

Im Sommer 2019 reiste ich nach Chandler, um mir das Gejaule dort selbst anzuhören. Einige Monate nach der Gründung der «Dobson Noise Coalition» hatte Cyrus One der Gruppe in einer E-Mail versprochen, «ein guter Nachbar» zu sein und bis Oktober 2018 «Geräusch­dämpfungs­pakete» an seinen Kühl­aggregaten zu installieren. Aber der Oktober kam und ging, und unter den Anwohnern war man sich einig: Der Lärm war schlimmer denn je.

Vielleicht hilft ja Meditieren gegen die Lärmbelästigung, am besten dort, wo es ganz ruhig ist.

Also verstärkten sie ihre Bemühungen. In den siebzehn Monaten ihres Bestehens haben die Mitglieder der «Dobson Noise Coalition» Anwälte zurate gezogen, Anzeigen erstattet, für Bericht­erstattung in den Lokal­nachrichten gesorgt und sich mit Chandlers Polizei­chef getroffen. Mit Videos, schriftlichen Zeugen­berichten und detaillierten Aufstellungen über die zeitliche Entwicklung des Lärms bewehrt, legten mehr als zwei Dutzend ernste, ganz in Rot gekleidete Anwohnerinnen ihre Klagen dem Stadtrat von Chandler vor. Das endlich brachte ihnen ein Meeting mit Cyrus One.

Im Mai verhandelten Delegierte der «Dobson Noise Coalition» mit Delegierten von Cyrus One, darunter ein eigens von der Firma angeheuerter Akustikberater. Seinen Messungen zufolge fällt das Jaulen der Kühl­aggregate zwischen 630 und 1000 Hz – mit anderen Worten direkt ins mittel­frequente Spektrum, den Bereich also, für den unsere Ohren besonders empfänglich sind. Darüber hinaus handle es sich um einen reinen Sinuston, der weithin als besonders irritierend gilt. Cyrus One wiederholte, dass man zwei Millionen Dollar aufwenden würde, um auch das letzte Kühl­aggregat mit massgefertigten Spezialhüllen zu verkleiden, die das Jaulen um zehn Prozent senken würden. Bei künftigen Kühl­aggregaten würde man genauso verfahren.

Kevin Timmons, der technische Direktor von Cyrus One, setzte mich auf ein Golfmobil und zeigte mir das Äussere der systemrelevanten Anlage; eine Tour durch das Innere wäre nur nach Unterzeichnung einer Verschwiegenheits­erklärung möglich gewesen. Selbst Timmons sah sich immer wieder aus bestimmten Sektoren ausgesperrt und musste einen der Wachleute um Hilfe angehen. Er habe Anfang 2018 zum ersten Mal von den Lärm­beschwerden gehört, sagte er, und sei überrascht gewesen, wie aufgebracht die Anwohner gewesen seien. «Wir waren erst mal ein paar Monate vor den Kopf gestossen, während wir rauszubekommen versuchten, ob da was dran ist», sagte er. «Uns wurde klar: Tatsache oder Einbildung, wir müssten da etwas tun.» Er bedauerte, dass nicht schneller gehandelt wurde, und äusserte die Sorge, dass einige der Leute das Jaulen womöglich selbst nach der teuren Schall­dämmung nicht mehr aus dem Kopf bekämen. «Hat er erst einmal ein irritierendes Geräusch gehört, ist es durchaus möglich, dass der Mensch danach zu lauschen beginnt.» Jüngst, so sagte er mir, seien auch unter den Anwohnern eines Daten­zentrums in Dallas Klagen über ein Brummen laut geworden.

Als ich Cyrus One besuchte, hatte das Unternehmen 24 der mittlerweile 56 Kühl­aggregate im Chandler-Komplex schallgedämmt. Die Nachbarn konnten sich nicht darauf einigen, ob die Spezial­hülle half, waren sich aber umso einiger in ihrem Zorn auf die Stadt, die es zugelassen hatte, dass man in ihrem Hinterhof ein Datenzentrum hochzog. Sie hatten eine Menge Fragen zur Sorgfalts­pflicht: Welche Studien waren in Auftrag gegeben worden? Welche Messungen hatte man vorgenommen?

Keine, wie ich erfuhr. Chandlers Stadtplaner müssen Lärm bei der Vergabe von Baugenehmigungen nicht berücksichtigen, und so liessen sie es denn auch bleiben. Ausserdem hatte man den grössten Teil des Areals, das an Cyrus One ging, bereits 1983 als Industrie­gebiet ausgewiesen, dreizehn Jahre bevor in der Nähe – in Clemente Ranch – die ersten Eigenheime gebaut wurden. Die Anrainerinnen kannten die Lärmschutz­verordnung der Stadt in- und auswendig: «Keine Person soll Frieden, Ruhe und Wohlbefinden eines Stadt­bezirks dadurch stören, dass sie in diesem störende oder unverhältnismässig laute Geräusche verursacht.» Entsprechend wollten sie wissen, warum man Cyrus One nicht wenigstens vorgeladen hatte, wo doch jetzt zweifelsfrei erwiesen sei, dass dieses Unternehmen ihren Frieden und ihre Ruhe auf so ganz und gar nicht behagliche Weise gestört hatte.

Genau diese Frage stellte ich denn auch Commander Edward Upshaw, einem Polizisten mit 33 Dienst­jahren bei der Stadt­polizei von Chandler, während wir gemeinsam um das Betriebs­gelände von Cyrus One fuhren. Das Summen war für mich knapp vernehmbar, fast übertönt vom Feierabend­verkehr. «Jemanden wegen dieses Geräusch­pegels vorladen und Strafantrag stellen? Das können Sie vergessen», sagte Upshaw. Wir hielten an und standen dann einige Meter vor der Betonmauer, die den äusseren Rand der Anlage von Cyrus One markiert. «Man verkauft Radios, die weisses Rauschen oder Wellen abgeben, die lauter sind als das», sagte er. «Es gibt Leute, die dafür zahlen! Ich sehe das Problem nicht.» Wir fuhren in die Siedlung Clemente Ranch. «Wenn Sie in New York die Polizei wegen so was rufen würden, sagen Sie mir mal, was passieren würde. Sagen Sies mir! Sagen Sie mir, was passieren würde.»

Es geht immer weiter, es werden immer mehr

Am folgenden Abend schaute ich bei Thallikar vorbei; sein Haus stand in einer tadellosen Reihe sauber verputzter Eigenheime, die von Riesen­kakteen und Jeeps gesäumt waren. Wir setzten uns ins Wohn­zimmer an einen Couchtisch, auf dessen Glasplatte sich die Ordner und Papiere häuften, die seinen Kampf gegen den Lärm dokumentierten.

Nach seinem Schulter­schluss mit der «Dobson Noise Coalition» beschloss Thallikar, mit dem Verkauf des Hauses erst mal zu warten. Er sei «vorsichtig optimistisch», sagte er, hätte aber dennoch zu gern gewusst, warum die Stadt diese «Monstrosität mit ihren gottverdammten Maschinen» ohne Strafbescheid durchgehen liess. Den Gedanken, dass jemand das Summen auf der Basis einer Stippvisite beurteilen könnte, wies er zurück: «Die fahren dahin und bekommen grade mal eine Kostprobe des Problems», sagte er. «Ich mache das Tag und Nacht durch.» Er räumte freilich ein, dass sich der Lärmpegel der Anlage um etwa 20 Prozent gebessert hätte und dass er vor kurzem wieder in sein Schlaf­zimmer zurückgezogen sei.

Während Cyrus One leiser geworden war, hatte Thallikar ein neues, etwas anders geartetes Jaulen bemerkt. Im Rahmen weiterer Patrouillen­gänge hatte er es zu GM Financial zurückverfolgt, wo man die Daten mit einer eigenen Kohorte von Kühl­aggregaten kühlt. Er legte seine Erkenntnisse der City-Managerin in einer Powerpoint-Präsentation vor, in der als Emissions­quellen «gesundheits­schädlicher Lärm­verschmutzung» neben den Kühl­aggregaten und Generatoren von GM Financial auch noch das Daten­zentrum von Digital Realty gleich um die Ecke von ihm und – als potenzielle künftige Quelle – auch der bevorstehende Northrop-Grumman-Komplex genannt waren. (Digital Realty und GM Financial sagten, sie hätten die Klagen zwar zur Kenntnis genommen, sähen aber nach einer Untersuchung keinen Handlungs­bedarf; der Eigentümer des von Northrop Grumman gemieteten Gebäudes bezeichnete jedwede Bedenken hinsichtlich einer Lärm­entwicklung als «gegenstandslos».)

Thallikar erbot sich, mich auf eine Lausch­tour mitzunehmen, um mir zu zeigen, was er unter «gesundheits­schädlicher Lärm­verschmutzung» verstand. Wir setzten uns in einen nicht mehr ganz taufrischen Toyota Camry, in dem Thallikar mich zum Parkplatz von GM Financial fuhr. Unauffällig schlenderten wir hinüber zu einem verschlossenen Metalltor. «Hören Sie?», fragte Thallikar. IEHHNNNNNNNN, kam es aus dem Innern des Areals. «Keine Ahnung, wie viele Einheiten die da drin stehen haben. Sie hören das doch, ja? Am Abend wird es dann zunehmend lauter.»

Einige Stopps später fuhren wir wieder zurück, um uns auf die Gegend um Cyrus One zu konzentrieren. Über eine Stunde lang zogen wir Kreise um das Areal, blieben dabei immer wieder mal stehen. Als Sonne und Verkehr nachliessen, nahm die Intensität des Summens zu. Es war nicht so, dass es laut gewesen wäre, aber es war durchaus zu hören. Und irritierend wurde es, als der Himmel sich vollends verdunkelte; dann wurde das asthmatische Dröhnen zu einem steten klaren, fast schneidenden Jaulen.

«Es ist schon deprimierend», meinte Thallikar, als wir schliesslich auf einem Trottoir in Clemente Ranch standen. «Gerade so, als würde einer vor Schmerzen heulen – heulen und endlos stöhnen vor Schmerzen.»

Dann lauschten wir schweigend dem Tönen des Daten­zentrums. Das in gewissem Sinne auch das Geräusch unseres Lebens war: das Geräusch, das wir online mit Möbel­käufen, der Suche nach Versicherungs­policen, Alarm­anlagen und mit dem Bezahlen von Fernseh­gebühren in Datenzentren verursachen. In Forest City, North Carolina, wo einige von Facebooks Servern Einzug gehalten haben, ist dieses Heulen das Geräusch von Kommentaren und Likes; von einem Video über fünf kreative Arten, ein Ei zuzubereiten; von Schnapp­schüssen eines Junggesellen­abschieds. Womöglich ist es sogar das Geräusch von Thallikars Nachbarn, der eben mal eine Frage an die Facebook-Gruppe der «Dobson Noise Coalition» postet: «Hat sonst noch jemand gehört, wie laut das diese Woche wieder war?» Es ist das Geräusch von jemandem auf der Suche nach einem Mittel für Bindehaut­entzündung; das Geräusch eines gestreamten Pornos oder das Geräusch der Suche nach den Lyrics eines Songs.

IEHHNNNNNNNN.

Als mich Thallikar vor dem Hotel mit Blick auf das Cyrus-One-Gelände absetzte, war das Summen zu einem unnachgiebigen, sonoren Refrain angewachsen. Wie ich sah, war bereits ein neues Gebäude in Bau; daneben bereitete man ein Areal für das nächste von gleicher Grösse vor. Darüber hinaus, direkt die Strasse hoch, an der Thallikar wohnt, sah ich einen kahlen Flecken Land, auf dem zwei weitere hingepasst hätten. Cyrus One hatte Platz für weitere 96 Kühl­aggregate. Fast doppelt so viele wie bereits durch die Abendluft stöhnten.

Zur Autorin

Bianca Bosker ist freie Journalistin, sie schreibt unter anderem für den «New Yorker», «Food & Wine» und den «Guardian». Sie hat zudem die Bücher «Cork Dork» über Wein (dt. «Das grosse Weinmaleins») und «Original Copies» über Architektur in China verfasst.

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