Gerade beim Sex wird das Miteinander von Geist und Körper unübersehbar, sagt die Philosophin. Carlota Guerrero/We Folk

«Für Menschen gibt es nichts Natürliches, wenn von Sex die Rede ist. Unser Sex ist immer Kultur»

Wieso uns Denkfehler auch beim Sex im Weg sind. Warum Freud mal wieder falsch lag. Weshalb Selbstbefriedigung wichtig ist, aber nicht so genannt werden sollte. Und was die Corona-Krise über unser Verhältnis zu körperlicher Berührung aussagt. Ein Gespräch mit der Philosophin Bettina Stangneth.

Von Daniel Graf, 20.01.2021

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Frau Stangneth, Sie sind Philosophin und haben ein Buch über Sex geschrieben. Ist das schon eine Pointe?
Leider ja. Man sollte doch denken, dass Philosophen sich mit allem beschäftigen, was ist. In diesem Fall haben das zumindest die westlichen Philosophen meist gemieden.

Warum?
Das ist eine schwierige Frage. Vermutlich fing es, wie das meiste, mit einem Zufall an. Bei uns herrschte schon sehr früh, auch schon vor dem Christentum, eine Körper­feindlichkeit, die es auch sehr schwer gemacht hat, sich für die sexuelle Erregung zu interessieren. Wir Menschen des 21. Jahr­hunderts sollten aber auch fair sein: Die Wahrnehmung des eigenen Körpers ist ohne Intensiv­stationen, Schmerz­mittel und Antibiotika vor allem beunruhigend, es ist also nachvollziehbar, wenn man die eigene Körperlichkeit als Gefahr erlebt, als Ursache von Leid, Unwohlsein und Schmerz.

Zur Person

Die Hamburger Philosophin und Historikerin Bettina Stangneth promovierte über einen Autor, dem man nicht gerade eine besondere Affinität zum Thema Sex nachsagt: Immanuel Kant. Sie ist mit zahlreichen hoch­gelobten philosophischen Sach­büchern zu unterschiedlichsten Themen hervor­getreten. Internationales Ansehen gewann sie mit ihrem Buch «Eichmann vor Jerusalem», dessen Titel auf Hannah Arendt anspielt, mit deren Werk sie sich ebenfalls intensiv beschäftigt. Ihre Essays «Böses Denken» (2016), «Lügen lesen» (2017) und «Hässliches Sehen» (2019) hat sie als «Trilogie zur Kritik der dialogischen Vernunft» angelegt. Das Buch «Sexkultur» ist ihre neueste Buchveröffentlichung.

Nun könnte man es auch umdrehen und fragen: Warum überhaupt ausgerechnet die Philosophie konsultieren, wenn es um Sex geht?
Man wendet sich immer dann an die Philosophie, wenn man mit seinem Alltags­denken nicht mehr weiterkommt und sich in Sackgassen verrennt. Sexuelle Erfahrung ist etwas, bei dem wir uns immer wieder verdenken, egal wie oft wir uns gegenseitig erzählen, dass Sex nichts weiter als eine heitere Neben­beschäftigung sei. Sex ist einfach problematisch. In solchen Fällen, also wenn wir uns im Kreis drehen, hat unser Denken etwas damit zu tun. Und da ist dann die Philosophie dran. Der Mensch braucht, wenn er lernen will, einen möglichst entspannten Zugang zu Erfahrungen. Aber wenn wir uns den schon gedanklich verstellen, können wir auch unsere Theorien nicht mehr korrigieren, weil wir nicht mehr hinschauen.

Wie äussert sich dieser gedanklich verstellte Blick?
Das ist nichts, was spezifisch für die sexuelle Erfahrung wäre. Der Mensch hat immer Vorurteile, was nicht per se etwas Schlechtes ist. Vorurteile sind einfach die ersten Urteile, mit denen wir uns der Welt zuwenden. Wer aber immer schon ganz genau weiss, was er sieht, sieht nichts mehr. Wenn Sie eine Schublade aufziehen, panisch Ihren Schlüssel suchen und denken: nein, der Schlüssel ist da garantiert nicht drin, ich komme bestimmt zu spät, dann kann er obenauf liegen, und Sie sehen ihn nicht. Dinge, denen wir uns nicht mit freien Sinnen zuwenden, können wir nicht einmal sehen. Wer Sehen lernen will, muss die Wahrnehmung von seiner Erwartung befreien.

Was wären denn Beispiele aus dem gegenwärtigen Umgang mit Sex: Was wäre das Äquivalent zu der Schublade und dem Schlüssel?
Was nicht? Es fängt schon mit der Anatomie an. Wir haben immer noch grosse Probleme, uns dem menschlichen Körper zuzuwenden, wenn es um sexuelle Erregung geht. Die Darstellung weiblicher Anatomie in Lehr­büchern ist bis heute ein Trauerspiel. Und es geht weiter damit, dass wir in der Pädagogik einfach Märchen erzählen.

Zum Beispiel?
Denken Sie an Autoerotik. Da sagt man einem jungen Menschen: Das ist etwas ganz Tolles und wunderschön, gehe hin und entdecke deine Wünsche und dich selbst! Aber: Wir wissen ja nicht, welche Visionen sich einem Kind oder einem erwachsenen Menschen aufdrängen und wie er oder sie damit umgehen kann. Das vollmundige Versprechen, dass das alles herrlich sei, macht es dann nur noch schlimmer. Viele Menschen kennen die Erfahrung, dass nicht alle ihre Visionen hübsch und bunt sind. Nur weil ich es bin, der Bilder sieht, sind sie noch lange nicht mit meinem Selbstbild oder landläufigen Vorstellungen von Erotik in Einklang zu bringen. Es kann verstörend sein, was man begehrt. Wobei das schon der nächste Fehler ist: zu glauben, dass das, was man dort erlebt, schon darum geheime Wünsche wären. Sigmund Freud dachte das, es stimmt aber nicht.

Was würden Sie Freud entgegnen?
Das Wort Wunsch legt ja nahe, dass ich etwas tatsächlich will. Es kann aber genau das Gegenteil davon sein. Vorstellungen, die mit der sexuellen Erregung verbunden sind, kommen aus der Geschichte meiner Körperlichkeit. Die Erfahrungen, die ich mit dem Denken und mit dem Fühlen habe, bedingen, was für mich in der Erregung naheliegt. Wie wir aus einem extremen Fall, der Pädosexualität, wissen, kann das Menschen in riesengrosse Konflikte bringen, und zwar auch unabhängig von der Frage, was es bedeutet, dass man seine Sexualität dann nicht ausleben darf.

Der zentrale Begriff bei Ihnen lautet Sexkultur. Was ist damit gemeint?
Wir haben uns angewöhnt zu sagen: Sexuelles Begehren und Empfinden, das ist das Tier in uns, reinste Natur. Es ist das ewige Hindernis für das geistige Wesen, das sich anstrengen muss, das Tier zu kontrollieren und zu bändigen. Völliger Quatsch! Wir haben «Natur» und «Kultur» als zwei Ordnungs­begriffe gelernt, weil wir uns damit so ausgezeichnet zurecht­finden, wenn es um die Beschreibung der Welt ausser uns geht. Wenn es aber nicht um ein Ding der Welt geht, wenn es um mich als Einzelne geht, bin ich ja sozusagen schon beides – eine Formulierung, die auch offenkundig Blödsinn ist. Denn ich bin doch eins. Erst wenn ich mich bewusst erlebe, wird es kompliziert und zerfällt. Sex wirft uns auf die Einheit zurück. Alles, was für mich oder für Sie Sex ist, ist also immer schon Kultur. Mein Sex ist das, was ich bin. Es ist das, was in meinem bewussten Umgang mit mir aus mir wurde.

Sie sprechen auch von «negativer Sexkultur».
Das ist das herrschende aufklärerische Konzept: Als Menschen entdeckten, dass man unter Schuld­gefühlen leiden kann, die einem die Gesellschaft einredet, hielt man die Kultur für die Ursache aller Probleme. Als Kind einer Kultur lerne ich Normen und Werte, die immer auch zufällig entstanden und sich in Traditionen verfestigt haben. Wenn meine Selbst­erfahrung dem nicht entspricht, erlebe ich einen Konflikt. So kam man darauf, dass Aufklärung im Sinne der philosophischen und sexuellen Aufklärung allein darin bestünde, den Menschen klarzumachen, dass nicht jede Kultur, die irgendwo zufällig entstanden ist, auch vernünftig ist. Dass es auch in Kulturen und Traditionen gefährlichen Unsinn gibt, an den wir uns nur gewöhnt haben, der dazu geführt hat, dass sich Menschen schlecht oder verflucht fühlen mussten, weil die meisten davon überzeugt waren, dass es unnatürliches Begehren gibt.

Mit dem Wort «unnatürlich» sind wir wieder beim Naturbegriff.
Das ist der Punkt: In dem Moment, in dem jemand behauptet, es gäbe den natürlichen und den unnatürlichen Sex, sitzen Sie schon längst in der Falle. Für Menschen gibt es nichts Natürliches, wenn von Sex die Rede ist. Unser Sex ist immer Kultur. Wer sich bei der Diskussion um Sex auf Natur beruft, will damit irgendwas. Besonders dann, wenn jemand politisch mit dem Natur­begriff operiert, muss man genau anschauen, was er da tut, egal wer es ist.

Wenn man nun in bester ethischer und aufklärerischer Absicht sexuelle Neigungen und Identitäten, die nach Ansicht mancher nicht der Norm entsprechen, verteidigt, indem man sagt: «Das ist doch ganz natürlich!» – dann würden Sie sagen, das Argument ist problematisch?
Sogar hoch problematisch! Vor allem deshalb, weil es einem gar nicht hilft. Auf banale Weise ist es völlig richtig: Der Mensch gehört zur Natur, damit ist alles natürlich. Nur damit ist ja nichts dagegen getan, dass es Menschen gibt, die meinen, sie müssten einige Erscheinungen der Natur «Unkraut» nennen und ausreissen. Ob das, was ich tue oder empfinde, von irgendwem als natürlich oder nicht natürlich benannt wird, hat ausserdem noch nichts damit zu tun, ob jemand anderes das Recht hat, mir zu sagen, dass ich es darf oder nicht.

Und «negative Sexkultur» bedeutet in dem Zusammenhang?
Negative Sexkultur ist eigentlich eine sehr sympathische Idee: Wer einen Menschen sexuell befreien will, muss ihm zu der Erkenntnis verhelfen, dass er immer auch mit Vorstellungen herumläuft, die gar nicht seine eigenen sind. Kritisch auf die eine Kultur zu schauen, in die man hinein­gewachsen ist, bedeutet immer auch, Kultur – also bestimmte Werte und Normen – wieder abzubauen. Negative Kultur ist praktische Kultur­kritik, weil nichts, was lange besteht, allein darum schon vernünftig ist und ewig so bleiben muss. Aber falsche Regeln und Restriktionen wieder zu verlernen, ist nicht alles. Und schon gar nicht wird dadurch sofort alles gut.

Letzteres ist der Irrtum einer eigentlich sympathischen Idee?
Ein Irrtum, den man natürlich erst in der Praxis sichtbar machen konnte. Selbstverständlich ist die negative Sexkultur notwendig. Wenn ich damit aufgewachsen bin, beispielsweise Homosexualität oder weibliche Lust systematisch abzuwerten, sie also Sünde oder Verbrechen zu nennen, muss ich das erst mal bewusst verlernen, um überhaupt wirklich zu erleben. Aber wenn man diesen Weg tatsächlich gegangen ist, dann zeigt sich, dass danach nicht alles gut ist. Die sexuelle Erfahrung ist eine so überwältigende Erfahrung, weil kein anderes Erlebnis das Miteinander von Geist und Körper so unübersehbar macht. Es ist der Moment, in dem auch all die Ungereimtheiten zutage treten, die wir aufgebaut haben, um unser Selbstbild zu stabilisieren.

Sie sprechen vom Miteinander zwischen Körper und Geist beim Sex. Können Sie das noch etwas erläutern? Es gibt ja auch die Vorstellung, Sex sei etwas primär oder ausschliesslich Körperliches.
Der Körper ist für den Menschen aber gar nicht primär Körper. Ich erfahre ja meinen Körper nicht auf die gleiche Weise, in der ich beispiels­weise eine Pflanze anschaue oder betaste. Sondern ich erfahre meinen Körper durch meinen Körper. Es ist mein Körper, der sich erfährt. Für ein selbstbewusstes Lebewesen ist diese Körper-Geist-Einheit, die wir sind, ein Problem. Mein Bewusstsein bringt eine Spaltung in mich. Ich kann meinen Körper als Körper wahrnehmen, weil ich einen Körper habe, der den Körper auf bewusste Weise wahrnehmen kann, als wäre es der irgendeines anderen. Das ist unglaublich komplex, deshalb verstolpern wir uns da auch so schnell in unseren Begriffen.

Man kann es gar nicht auseinanderdröseln?
Nein, wie denn? Der Wunsch, es auseinander­zudröseln, ist doch gerade die Ursache des Problems. Bei dem Körper der anderen habe ich es nicht. Wenn Sie vor mir stehen, dann kann ich Sie selbstverständlich problemlos als Körper behandeln. Ein Chirurg muss das auch unbedingt tun. Wenn aber insbesondere junge Menschen ihr Smartphone benutzen, als wäre es ein Teil ihres Körpers, dann geht das, weil wir den eigenen Körper durch technische Hilfsmittel sozusagen erweitern können. Und doch können sie es wieder weglegen und ihre Hand anschauen, als wäre sie ein Ding. Wir machen das alle. Wir bewegen uns mit Schuhen selbstverständlich ganz anders als ohne, wir treten beispielsweise gegen einen Stein, der uns ohne Schuhe verletzen würde. Und doch wissen wir, was ein Schuh ist. In der sexuellen Erfahrung spiele ich genau diese Spiele mit mir.

Inwiefern?
In der Autoerotik zum Beispiel kann ich meinen Körper verdinglichen, ich kann mich benutzen, steuern und mich doch neugierig erleben. Es ist das mehr oder weniger bewusste Wechsel­spiel zwischen Geist und Körper. Vorstellungen heissen ja darum erotische Vorstellungen, weil sie konkret sinnliche Erfahrungen sind, wie jeder weiss, der sich erlaubt hat, heraus­zufinden, was erotische Fantasien sind.

Was Sie Autoerotik nennen, würden die meisten Menschen Selbst­befriedigung nennen. Sie lehnen den Begriff ab. Warum?
Streng gedacht ist der Begriff unheimlich lustig. Denn da ist es wieder, das ungebärdige Tier, das es zu bändigen gilt. Diese Vorstellung ist ausserdem herrlich männlich, wenn ich das so sagen darf, also die Vorstellung, dass das kleine wilde Tier irgendwann sein Recht verlangt, vor die Tür stürmt und befriedigt werden muss, damit es wieder brav ist und im Leben nicht stört. In der Selbst­befriedigung geht es doch gerade um das nicht, also um Befriedigung. Autoerotik bedeutet zunächst einmal das Sicherregen, nicht das Sichbefriedigen. Bekanntlich gibt es den kurzen Weg zum Ziel, und es gibt die landschaftlich reizvolle Strecke. Autoerotik als Kultur, die wir alle vermutlich mehr oder weniger pflegen, bevorzugt die landschaftlich reizvolle Strecke. Eben weil es darum geht, unsere Sinne zu reizen.

Was passiert jetzt mit diesem von Ihnen beschriebenen Selbst­verhältnis, wenn die andere Person ins Spiel kommt?
Das hängt auch hier davon ab, wie bewusst man sich auf diese Begegnung einlässt. Ein anderer Mensch, der mich auf eine Weise anspricht, wie andere es nicht tun, verändert mich – genauso, wie ich mich in jeder sexuellen Erfahrung verändere, ganz egal, ob sie autoerotisch ist oder sich mit einem anderen Menschen abspielt. Es beeinflusst meine Körperlichkeit substanziell.

Bei der Wahrnehmung des eigenen Körpers als Körper wirds dann richtig komplex. Carlota Guerrero/We Folk

Aber nicht auf die gleiche Weise, oder?
Das lässt sich vorher nicht sagen. Es hängt immer davon ab, wie kultiviert jemand ist – nicht im Sinne einer irgendwie elitären Wertung. Aber wenn ich mein Sex bin, dann bedingt meine Sexkultur auch, wie ich mich einem Menschen nähere, der ja ebenfalls sein Sex ist. Es hängt davon ab, welche Vorstellung ich von der sexuellen Begegnung habe. Vor allem aber davon, wie mutig ich mich auf etwas Neues einlasse, also wie viel Angst­freiheit ich mir – ich hätte beinah gesagt: erarbeitet habe.

Das klingt tatsächlich nach Arbeit, so wie Sie das beschreiben.
Wenn Sie ein Musikinstrument oder Marathon­laufen lernen wollen, bedeutet das Üben. Einer der grössten Irrtümer, mit dem wir uns angebunden haben, ist es, zu glauben, dass es nichts zu lernen gäbe, wenn es um Sex geht. Als wäre das halt das biologische Programm, das abläuft. Aber man kann auch da unglaublich viel lernen und üben, so anstrengend das klingen mag. Das Schöne an dieser Art des Übens ist natürlich, dass es sich vermutlich besser anfühlt, wenn man eine Übung richtig gemacht hat. Was in der sexuellen Begegnung möglich ist, bedingt meine Offenheit und Ehrlichkeit und mein Mut, auch Unsicherheit zuzulassen. Wenn ich feststelle, dass mich etwas zu einem Menschen zieht, kann ich zwei Wege gehen: Ich kann all die Spielchen des Lockens und Verweigerns spielen, die wir so kennen, und hoffen, dass trotzdem etwas daraus wird. Oder ich kann offen sagen: Aus irgendeinem Grunde fühle ich mich in deiner Nähe wohl – geht dir das auch so? Wollen wir herausfinden, was das zwischen uns ist, was zwischen uns für ein Raum entsteht und was darin möglich ist? Wenn wir darüber aber in unserer Kultur bisher nur wenig gehört haben, dann liegt es daran, dass darüber nicht gesprochen wird, jedenfalls nicht positiv. Unsere Literatur, unsere Filme, auch unsere Spiele enden, wenn beide sich berühren. Wenn sie sich zu intensiv berühren, folgt die Katastrophe.

Geben Sie doch ein wenig Gegensteuer! Und erzählen Sie von diesem Möglichkeits­raum der Begegnung.
Es ist ungemein schwer, davon allgemein zu erzählen, weil niemand weiss, was einem dort begegnet. Das zu akzeptieren, ist schon für denjenigen das Schwierigste, der es erlebt: dass einem die eigene Erfahrung überhaupt nichts nützt. In der Begegnung mit einem anderen Menschen, einer konkreten anderen Körperlichkeit, werden Dinge möglich, auf die mich niemand vorbereiten kann und von denen ich vorher nichts wissen kann.

Sie sagten doch vorhin, man kann lernen.
Ja, weil man auch lernen kann zu wissen, dass man nichts weiss: nichts vom anderen, aber auch nichts von sich selbst und dem, was ich durch einen anderen zu werden vermag. In dem Moment, wo wir einander in irgendeiner Weise kategorisieren oder in eine Schublade stecken, werde ich diese Begegnung nicht finden. Vor allem aber weiss niemand, was geschieht, wenn man einander körperliches Lernen ermöglicht.

Man muss versuchen, dieses Nicht­wissen zu bejahen?
Mehr als das. Es gilt, es als Chance zu achten und zu respektieren. Lernen bedeutet immer zu akzeptieren, dass ich etwas noch nicht weiss.

Wenn das so ist, wie Sie sagen, dann stossen da ja zwei Individuen aufeinander, die jeweils ihre eigenen Konflikte mit sich herum­tragen und mit sich selbst am Hadern sind. Was muss geschehen, damit das nicht schiefgeht?
Es braucht die Offenheit dafür, dass es so ist. Jeder gemeine Ratgeber für die glückliche Beziehung empfiehlt, dass man sich dem anderen verständlich machen müsse, einander also vor allem erzählt, wie man wurde, was man ist, damit der andere nachvollziehen kann, was man ist. Aber weiss irgend­jemand von uns, wer er ist? Und wie er auf Neues reagieren wird? Sexkultur bedeutet den bewussten Umgang damit, dass man Konflikte in sich hat, dass man sich fragwürdig ist, dass sich vermutlich auch der andere fragwürdig ist. Es bedeutet zu respektieren, dass ich auch den anderen nie vollständig verstehen werde, und zu lernen, dass ich das auch gar nicht muss.

Sondern?
Man hält sich an das, was ist, nämlich eine besondere, eine neue Situation. Man kann einfach miteinander entscheiden, die sexuelle Erregung ernst zu nehmen, weil sie ist. Und weil sie doch etwas Besonderes ist. Überlegen Sie, wie viele Menschen einem normaler­weise den Tag über begegnen und auf wie viele davon Sie reagieren – wenn Sie überhaupt auf jemand reagieren. Es ist ein grosses Geschenk, einem Menschen zu begegnen, dessen Nähe man sich wünscht, und diese Nähe sich entwickeln zu lassen – unabhängig von all den Bildern, die ich im Kopf habe von mir, von all den Fragen und Zweifeln. Es geht darum, die Wirklichkeit mehr zu achten als meine Theorien von der Wirklichkeit. Genau darum macht es uns ja auch gleich wieder Angst: Wenn man sich auf solche Begegnungen einlässt und auf diese Art der Sexkultur, weiss man auch, dass man mehr als einen Tod stirbt.

Sie schreiben sinngemäss: Wer sich auf die erotische Leidenschaft mit einer anderen Person einlässt, geht eigentlich das grösste denkbare Risiko ein: Es gibt jetzt nämlich etwas Schlimmeres als den eigenen Tod – den Tod der anderen Person.
Das ist deshalb so, weil jede Begegnung, die ich in vollem Sinne zulasse, einzigartig und damit unersetzbar ist. Es ist nicht nur eine Veränderung, sondern auch eine Erweiterung meines Körpers, die hier stattfindet. Dass das möglich ist, weiss schon jeder, der in Panik gerät, wenn Leute laut an die Haustür hämmern, obwohl man im zweiten Stock wohnt. Wir können Bedrohung körperlich spüren, auch wenn sie weit weg ist. Infektions­zahlen, die zum Beispiel in Hamburg sehr hoch sind, können sich unbehaglich anfühlen, auch wenn ich meine Wohnung gar nicht verlasse. Das sind körperliche Erfahrungen, weil menschliches Lernen immer körperliches Lernen ist. In der intensiven sexuellen Begegnung mit einem anderen Menschen ist die Veränderung unvergleichlich grösser. Der andere wird mir wesentlich. Und je mehr ich das zulasse, desto mehr fehlt es, wenn es weg ist. Das ist wahrscheinlich noch intensiver, als wenn mir plötzlich die Hand fehlt.

Wenn Sie sagen, die andere Person wird mir wesentlich: Sprechen Sie da noch von Sex oder schon von Liebe?
Die Frage ist ja: Was haben Menschen gemeint, wenn sie von der Liebe sprachen? Warum dachte jemand wie Heidegger oder Adorno, man müsse unterscheiden zwischen Liebe und Passion? Fragwürdig ist doch, warum man diese beiden Begriffe unbedingt voneinander getrennt halten will. Ich verwende ja nicht ohne Grund lieber einen ontologischen Sexbegriff, frage also, was Sex ist. Das heisst, es geht mir um die substanzielle Veränderung, die mit jeder sexuellen Erfahrung unvermeidlich einhergeht. Das ist es übrigens auch, was Menschen immer wieder dazu verleitet hat, vor Onanie zu warnen. Sie fürchteten, dass es uns wesentlich verändert – und da hatten sie völlig recht.

Es verändert uns in jedem Fall?
Wer es so weit wie möglich vermeiden will, muss sich für sehr oberflächliche sexuelle Begegnungen entscheiden. Das kann man natürlich tun, auch einvernehmlich, weil man sich auch darauf einigen kann, einander als Gegenstände zu benutzen oder miteinander Wunsch­bilder zu realisieren. Natürlich können Menschen einander zu Diensten sein, und das ist auch nicht verantwortungslos. Im Gegenteil. Selbst­verständlich verändert auch das unsere Körperlichkeit. Aber das ist eine mögliche Art der sexuellen Begegnung, und es gibt noch sehr viele andere, die alle ihre eigenen Regeln und Grenzen und Veränderungen mit sich bringen. Aber wir haben uns ja bis heute geweigert, die Vielfalt der Sexkulturen zu akzeptieren. Viele kommen schon in Probleme, wenn die moderne Biologie zu vermitteln versucht, dass sich über 15 biologische Geschlechter nachweisen lassen. Und das ist nur Biologie. Vielfalt, Diversität ist etwas, was uns die Orientierung erschwert. Darum hätten viele es lieber möglichst vereinfacht. Aber so lernt man nicht. Man wiederholt nur das, was man für die einzig mögliche Erfahrung hält. Lernen beginnt immer mit der Akzeptanz der Vielfalt. Das gilt auch für Sex.

Sie haben es vorhin schon angedeutet: Wir führen dieses Gespräch inmitten der Corona-Pandemie. Verändert diese, wie wir über Körper­berührung und Nähe denken?
Das weiss ich nicht. Was ich aber weiss, ist, dass die Krise zum Ausdruck bringt, wie wir gegenwärtig über Körperlichkeit denken. Die Debatte über das Verhalten in der Pandemie hat einen auffälligen blinden Fleck: die Ebene von Sex und körperlicher Berührung. Das ist offensichtlich nicht wichtig.

Sondern?
Es geht ums Geschäft, es geht darum, dass die Kinder in die Schule kommen, darum, dass man wieder mal eine Party feiern kann oder Weihnachten unter dem Tannen­baum verbringt. Aber von Sex und Nähe ist in dieser Diskussion sehr wenig die Rede. Nicht dass es mich gross überrascht, aber in diesem Ausmass finde ich es erschreckend. Mit jeder Shutdown-Massnahme haben wir immer nur das Ziel gehabt, dass der allgemeine geschäftliche Verkehr wieder halbwegs funktioniert. Die sogenannte akzeptable Höhe der Infektions- und Todes­zahlen bemisst sich an der Kapazität der Intensiv­stationen. Wir glauben, unsere Kinder am besten auf das Leben vorzubereiten, indem wir ihr Recht auf Bildung gegen diese Zahlen aufrechnen. Der westliche Umgang mit der Pandemie ist völlig anders als beispiels­weise in Asien. Deutschland hat heute tausend Tote und jammert über ein bisschen mehr Shutdown-Massnahmen. Tokio hat tausend Infizierte und macht die Stadt dicht.

Also ist Ihr Plädoyer: Es braucht kurzfristig mehr Unfreiheit, damit es später wieder mehr Freiheit gibt, auch im Körperlichen?
Es bräuchte zunächst überhaupt ein Gefühl dafür, dass körperliche Begegnungen mit grossem Respekt zu betrachten sind und dass es ein grosses Geschenk ist, dass Menschen einander berühren können. Um zu begreifen, was wir da eigentlich tun, worum es uns eigentlich geht, worum es sich zu kämpfen lohnt. Mir würde es ja schon völlig reichen, wenn man es mal aussprechen und sagen würde: Ach, das mit dem Sex ist doch alles gar nicht so wichtig. Dann wären wir mal ehrlich. Man schützt doch normalerweise, was einem heilig ist. Und an dem, was wir im Moment schützen, kann jeder sehen, was uns heilig ist und was nicht.

Der Westen gibt da kein gutes Bild ab?
Mal ernsthaft: Man braucht jetzt nicht die Debatte über Sex, um darüber zu erschrecken, wie erbärmlich das Bild ist, das wir im Moment in der Welt abgeben. Und das moralisch hochgestimmte Getöse über westliche Werte und Normen macht es keineswegs besser. Die Konsequenz, mit der in anderen Teilen der Welt, etwa in Asien, der Schutz des Lebens an erster Stelle steht, hält uns den Spiegel vor. Steht nicht in unseren heiligen Schriften der Satz: «An den Taten sollt ihr sie erkennen»? Aber das, was wir im Moment hier zulassen, ist nicht einmal mehr mit dem Satz des deutschen Gesundheits­ministers gedeckt, dass wir viel zu verzeihen haben werden. Wir pflegen eine Lebens­verachtung, die ich nur noch erschütternd finden kann.

Zu den Bildern

Die Fotografien in diesem Beitrag zeigen Szenen aus der Performance «Love Different» der Foto­künstlerin Carlota Guerrero in Kollaboration mit Desigual an der Art Basel in Miami im Dezember 2019.

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