In Dänemark kommen nur noch wenige Kinder mit Downsyndrom zur Welt. Eines von ihnen ist die 6-jährige Elea Aarsø.

Die letzten Kinder mit Downsyndrom

Die Pränataldiagnostik verändert die Entscheidung darüber, wer zur Welt kommen darf und wer nicht. Damit stellt sich aber auch eine grundlegende Frage: Wer entscheidet in unserer Gesellschaft über das Leben?

Von Sarah Zhang (Text), Bernhard Schmid (Übersetzung) und Julia Sellmann (Bilder), 16.01.2021

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Alle paar Wochen bekommt Grete Fält-Hansen einen Anruf von Fremden, die sich zum ersten Mal mit einer Frage konfrontiert sehen: Wie es wohl wäre, ein Kind mit Downsyndrom grosszuziehen?

Manchmal ist eine Schwangere am Apparat, die mit der Entscheidung über einen Abbruch ringt, zuweilen auch ein bis an die Schmerz­grenze uneiniges Paar. Einmal, so erinnert sich Fält-Hansen, rief ein Paar an, das sich der «Normalität» seines Kindes erst durch ein Pränatal-Screening vergewissert hatte, bevor es die Schwangerschaft im Freundes- und Familien­kreis bekannt gab. «Wir wollten warten», hatten sie ihren Lieben gesagt, «weil wir hätten abtreiben lassen, wenn sie das Downsyndrom gehabt hätte.» Sie riefen Fält-Hansen an, nachdem ihre Tochter zur Welt gekommen war – mit schrägen Augen, platter Nase und – das schlagende Indiz – mit einem überzähligen Exemplar des Chromosoms 21, durch das sich das Downsyndrom definiert. Sie hatten Angst, Freunde und Familie könnten auf den Gedanken kommen, sie hätten ihre Tochter nicht lieb – so schwer können die moralischen Urteile auf denen lasten, die ein Kind mit einer Behinderung zur Welt oder nicht zur Welt bringen wollen.

Alle diese Menschen melden sich bei Fält-Hansen, einer 54-jährigen dänischen Lehrerin, weil sie dem Landsforeningen Downs Syndrom – der Nationalen Vereinigung für Downsyndrom – vorsteht und weil sie mit Karl Emil selbst einen 18-jährigen Sohn mit Downsyndrom hat. Karl Emil wurde erst nach der Geburt diagnostiziert. Sie erinnert sich noch gut daran, wie zart er in ihren Armen schien und dass sie sich Sorgen um seine Gesundheit machte. Vor allem aber ist ihr eines im Gedächtnis geblieben: «Ich fand ihn so was von süss.»

Zum Essay: Nicht dieses Kind

Die Möglichkeiten für vorgeburtliche Tests nehmen zu. Was bedeutet das für die Frau, das Paar, die Gesellschaft? Auch in der Schweiz ist es Zeit für eine ehrliche Diskussion.

2004, zwei Jahre nach Karl Emils Geburt, bot Dänemark als eines der ersten Länder weltweit allen Schwangeren, ungeachtet ihres Alters oder anderer Risiko­faktoren, die Möglichkeit eines pränatalen Downsyndrom-Screenings an. Nahezu alle werdenden Mütter nehmen dieses Angebot an.

Und 95 Prozent all derer, die positiv getestet werden, entscheiden sich für einen Schwangerschaftsabbruch.

Nicht dass sich Dänemark durch eine offenkundige Feindseligkeit gegenüber Menschen mit Behinderung auszeichnen würde. Menschen mit Downsyndrom haben Anspruch auf Gesundheits­fürsorge, Bildung, bekommen sogar Geld für spezielle Schuhe für breitere, biegsamere Füsse. Wenn Sie einen Dänen nach dem Syndrom fragen, dann werden ihm wahrscheinlich Peter und Morten einfallen, zwei Freunde mit Downsyndrom, Stars einer beliebten TV-Serie, in der sie unter anderem auf witzige Weise Fussball­spiele kommentieren.

Allem Anschein nach tut sich jedoch eine tiefe Kluft auf zwischen öffentlich geäusserten Haltungen und privaten Entscheidungen. Seit Einführung der allgemein zugänglichen Tests ist die Zahl der mit Downsyndrom geborenen Kinder stark gesunken. 2019 wurden in ganz Dänemark nur 18 Kinder mit Downsyndrom geboren. (In den USA sind es jährlich etwa 6000, in der Schweiz etwas unter 100.)

Fält-Hansen sieht sich in der merkwürdigen Situation, einer Organisation vorzustehen, die von Jahr zu Jahr weniger Neuzugänge haben dürfte. Ziel ihrer Gespräche mit werdenden Eltern, so sagt sie, sei keineswegs, diesen den Schwangerschafts­abbruch auszureden; sie steht voll und ganz hinter dem Recht auf die freie Entscheidung der Frau. Sie will mit diesen Gesprächen lediglich für die Alltags­textur sorgen, die dem wohl­meinenden Klischee, Menschen mit Downsyndrom seien immer «glücklich», ebenso abgeht wie der Litanei möglicher Symptome, mit der Ärzte für gewöhnlich nach der Diagnose aufwarten: geistige Behinderung, niedriger Muskel­tonus, Herz­fehler, Magen-Darm-Erkrankungen, Immun­schwäche, Arthritis, Fett­leibigkeit, Leukämie und Demenz. So erklärt sie etwa: «Ja, sicher doch kann Karl Emil lesen. Seine Notiz­bücher sind voller Gedichte in seiner kräftigen, aber sorgfältigen Hand­schrift. Als er kleiner war, brauchte er Physio- und Sprach­therapie. Er hört gern Musik – Vorbild für seine gold­gefasste Brille war die seines liebsten dänischen Popstars. Und wie alle anderen Teenager auch ist er zuweilen schlecht gelaunt.»

Aus einem Anruf können durchaus mehrere werden; manchmal schauen Leute sogar bei ihr vorbei, um ihren Sohn kennenzulernen. Einige treten mit ihren Kindern ihrem Verband bei, von anderen hört sie dagegen nie wieder.

Alle diese Eltern wenden sich an Fält-Hansen, weil sie sich mit der Qual der Wahl konfrontiert sehen – einer Entscheidung, die die Technik durch einen Blick auf die DNA ungeborener Kinder ermöglicht hat. Das Downsyndrom gilt immer wieder als «Versuchs­ballon» für die selektive Fortpflanzung. Dies war einer der ersten genetischen Defekte, die man routinemässig in utero zu untersuchen begann, und er ist einer der moralisch umstrittensten, weil er zu den weniger schweren gehört. Es lässt sich damit sehr wohl leben – und das durchaus auch lang und glücklich.

Die Kräfte des wissenschaftlichen Fortschritts bewegen sich heute unaufhaltsam in Richtung pränataler Tests auf eine ständig wachsende Zahl genetischer Defekte. Jüngste Fortschritte in der Genetik geben Anlass zu Befürchtungen, dass Eltern künftig wählen, welche Art von Kind sie haben wollen – oder eben nicht haben wollen. Aber diese hypothetische Zukunft ist längst hier. Und das bereits seit einer ganzen Generation.

Laut Fält-Hansen geht es ihren Anruferinnen in erster Linie um Informationen, die ihnen bei einer wirklich fundierten Entscheidung helfen sollen. Aber es gibt auch Augenblicke der Suche, Augenblicke, in denen man fundamentale Fragen über Elternschaft stellt. «Machen Sie sich», so fragte ich sie, «auch Gedanken über die Familien, die sich für einen Abbruch entscheiden? Haben Sie das Gefühl, Sie konnten denen nicht beweisen, dass Ihr Leben – und das Leben Ihres Kindes – die Entscheidung wert ist?» Wie sie mir sagte, denke sie heute nicht mehr so. Aber anfangs habe sie sich durchaus Sorgen gemacht: «Was, wenn man meinen Sohn nicht mag?»

Karl Emils Kummer

Im Januar 2020 nahm ich den Zug von Kopenhagen in die knapp 100 Kilometer südlich davon gelegene kleine Hafen­stadt Vordingborg. Dort holten mich Grete Fält-Hansen, Karl Emil und seine 30 Jahre alte Schwester Ann Katrine Kristensen vom Bahnhof ab. Eine kleine Phalanx in dunklen Mänteln, winkten die drei mir zu. Das Wetter – kalt, grau und böig – war typisch für den Januar, aber Karl Emil zog mich rüber zur Eisdiele, weil er mir zeigen wollte, dass er die Leute dort kennt. Sein Lieblings­eis, sagte er mir, sei Lakritz. «Wie dänisch!», sagte ich. Grete und Ann Katrine übersetzten für mich aus dem Englischen. Dann lief er in ein Geschäft für Herren­bekleidung schräg gegenüber und unterhielt sich mit einem Mann, der eben ein Interview mit Karl Emil und seiner Freundin Chloe im dänischen Kinder­fernsehen gesehen hatte. «Du hast mir gar nicht gesagt, dass du eine Freundin hast», scherzte der Verkäufer. Karl Emil lachte so schelmisch wie stolz.

Der 18-jährige Karl Emil Fält-Hansen schreibt Gedichte, mag Pop und ist auch mal schlecht gelaunt.

Wir setzten uns in ein Café, wo Grete Karl Emil ihr Handy gab, um ihn zu beschäftigen, während wir uns auf Englisch unterhielten. Er machte Selfies, ich begann mit den beiden Frauen über das Downsyndrom und das dänische Pränatal-Screening-Programm zu reden. Grete kam auf einen Dokumentar­film zu sprechen, der in ganz Dänemark für einen Aufschrei gesorgt hatte. Sie bat Karl Emil um ihr Handy, um nach dem Titel zu sehen: «Død over Downs» («Tod dem Downsyndrom»). Als Karl Emil, der ihr über die Schulter guckte, den Titel las, zerfiel sein Gesicht. Er kauerte sich in die Ecke und wollte uns nicht mehr ansehen. Er hatte so offensichtlich verstanden, worum es ging, und sein Kummer war ihm anzusehen.

Grete sah zu mir auf: «Er reagiert, weil er lesen kann.»

«Dann ist er sich der Diskussion bewusst?», fragte ich und kam mir pervers dabei vor. Dann weiss er also, dass es Menschen gibt, die nicht wollen, dass man Menschen wie ihn zur Welt bringt? Ja, antwortete sie; ihre Familie ist immer offen zu ihm gewesen. Als Kind war er stolz auf sein Downsyndrom. Es war etwas, was ihn einzigartig, was ihn zu Karl Emil machte. Als Teenager dann bekam er Probleme damit; er schämte sich. Er merkte, dass er anders war. «Irgendwann hat er mich mal gefragt, ob es an dem Downsyndrom lag, dass er manchmal was nicht verstand», sagte Grete. «Ich habe ihm ganz ehrlich gesagt: Ja.» Als er älter wurde, sagte sie, habe er sich damit abgefunden. Diese Entwicklung war mir vertraut; sie gehört zum Erwachsen­werden. Die Selbst­sicherheit, die wir als kleine Kinder haben, kentert in den Stürmen der Adoleszenz, bis wir – im Ideal­fall – irgendwann akzeptieren können, wer wir sind.

Macht über Leben und Tod

Die Entscheidungen, die Eltern nach einem Pränatal­test treffen, sind so privat wie individuell. Aber wenn sie gar so erdrückend einseitig – zugunsten des Schwangerschafts­abbruchs – ausfallen, dann reflektiert das doch etwas mehr: nämlich das Urteil einer ganzen Gesellschaft über ein Leben mit Downsyndrom. Und genau das spiegelte sich in Karl Emils Gesicht. Ich konnte es deutlich sehen.

Dänemark ist ungewöhnlich sowohl hinsichtlich der Universalität seines Test­programms als auch der Vollständigkeit seiner einschlägigen Daten. Aber das Muster hoher Abbruch­zahlen nach der Downsyndrom-Diagnose lässt sich in ganz Westeuropa erkennen und, in etwas geringerem Ausmass, auch in den USA. In Wohlstands­ländern scheint die Zeit für Menschen mit Downsyndrom gleichzeitig besser und schlimmer denn je. Eine bessere Gesundheits­fürsorge hat die Lebens­erwartung verdoppelt; verbesserter Zugang zu Bildung bedeutet, dass die überwiegende Zahl der Kinder mit Downsyndrom lesen und schreiben lernen wird. Nur wenige äussern sich öffentlich darüber, das Downsyndrom «eliminieren» zu wollen; die Gesamtheit der individuellen Entscheidungen jedoch läuft mehr oder weniger darauf hinaus.

In den 1980ern, als sich das pränatale Screening zur Erkennung des Downsyndroms durchzusetzen begann, bezeichnete die Anthropologin Rayna Rapp die Eltern in der vordersten Linie der Fortpflanzungs­technik als «moralische Pioniere». Praktisch über Nacht gab man völlig gewöhnlichen Menschen eine ganz neue Macht in die Hand – die Macht, zu entscheiden, welche Art von Leben es wert ist, zur Welt gebracht zu werden.

Auch die Medizin setzt sich mit ihrer Fähigkeit auseinander, diese Macht anzubieten. «Wenn es nie jemanden mit Downsyndrom gegeben hätte oder nie geben würde – wäre das schrecklich? Ich weiss nicht», sagt Laura Hercher, Genetik­beraterin und Director of Student Research am Sarah Lawrence College. Nehme man die gesundheitlichen Implikationen des Downsyndroms, etwa die erhöhte Gefahr einer frühen Alzheimer-Erkrankung, einer Leukämie oder eines Herzfehlers, «dann glaube ich nicht, dass irgend­jemand behaupten wollte, dass daran etwas Gutes ist».

Sie fuhr jedoch fort: «Wenn es auf der Welt nicht Menschen mit besonderen Bedürfnissen und diesen Schwächen gäbe, würde uns dann ein Teil unseres Menschseins fehlen?»

Epoche der Eugenik

Vor 61 Jahren fand in Kopenhagen der weltweit erste bekannte pränatale Test auf genetische Störungen statt. Die Patientin war eine 27-jährige Frau, Trägerin des Hämophilie-Gens, eine so seltene wie ernste erbliche Blutungs­störung, die sich von der Mutter auf den Sohn überträgt. Die Frau hatte bereits einen Sohn zur Welt gebracht, der gerade mal fünf Stunden alt geworden war. Ihr Geburts­helfer – Fritz Fuchs – riet ihr, vor einer weiteren Schwangerschaft zu ihm zu kommen. Und so kam sie denn, laut der veröffentlichen Fallstudie, 1959 wieder zu ihm und sagte ihm, ihr Kind unmöglich austragen zu können, wenn es ein weiterer Sohn sei.

Fuchs hatte sich bereits überlegt, was zu tun war. Zusammen mit dem dänischen Zytologen Povl Riis hatte er zur Geschlechts­bestimmung von Babys mit Fötal­zellen aus der gelben Amnion­flüssigkeit im Frucht­wasser der Mutter experimentiert. Ein Junge hätte ein Risiko von 50 Prozent, das Hämophilie-Gen der Mutter zu erben; bei Mädchen dagegen sei das Risiko sehr gering. Aber zunächst brauchte man etwas Amnion­flüssigkeit. Vorsichtig führte Fuchs eine lange Nadel in den Unterbauch der Frau ein; Riis studierte die Zellen unter einem Mikroskop. Es war ein Mädchen.

Einige Monate später brachte die Frau eine Tochter zur Welt. Wäre das Baby ein Junge gewesen, so wäre sie bereit gewesen, es nicht auszutragen, was – wie Riis und Fuchs in ihrer Fall­beschreibung schrieben – nach dänischem Recht damals aus «eugenischen Gründen» durchaus legal gewesen wäre. Das heisst, wenn für den Fötus das Risiko ernsthafter geistiger oder physischer Störungen bestanden hätte. Sie räumten die möglichen Gefahren durch das Einführen der Nadel in den Abdomen einer Schwangeren zwar ein, schrieben aber, dass dies durchaus gerechtfertigt gewesen sei, «da die Methode in der präventiven Eugenik durchaus von Nutzen zu sein scheint».

Der Begriff Eugenik beschwört heute so spezifische wie grässliche Bilder herauf, so etwa die Zwangs­sterilisierung von «Schwach­sinnigen» in den USA fast von Beginn des 20. Jahr­hunderts an. Dieser Eingriff inspirierte wiederum die Rassen­hygiene der National­sozialisten, die Zigtausende von Menschen mit Behinderungen vergasten oder auf andere Weise umbrachten, viele davon Kinder.

Die Eugenik war jedoch durchaus einmal ein anerkanntes wissenschaftliches Betätigungs­feld, und Eugeniker waren fest davon überzeugt, etwas zur Verbesserung der Menschheit zu tun. Auch Dänemark hatte, von den Amerikanern inspiriert, 1929 ein Sterilisations­gesetz verabschiedet. Im Verlauf der nächsten 21 Jahre wurden in Dänemark 5940 Menschen sterilisiert, überwiegend weil sie «geistig zurück­geblieben» waren. Wer sich gegen die Sterilisierung wehrte, dem drohte die Einweisung in eine Anstalt, welcher Art auch immer.

Die Dänen betrieben die Eugenik nie so systematisch und brutal wie das national­sozialistische Deutschland, aber hinter der einschlägigen Politik stand ein und dasselbe Ziel: die Verbesserung der «Volks­gesundheit» durch die Verhinderung der Geburt von Menschen, die man als Bürde für die Gesellschaft erachtete. Der Begriff Eugenik kam zwar schliesslich aus der Mode, aber in den 1970ern, als Dänemark werdenden Müttern über 35 Jahren pränatale Downsyndrom-Tests anzubieten begann, diskutierte man sie im Kontext der Kosten­ersparnis – was nichts anderes heisst, als dass die Kosten für einen Test geringer waren als die Kosten für die lebens­lange Institutionalisierung eines Kindes mit einer Behinderung. Der erklärte Zweck war, «die Geburt von Kindern mit einer schwer­wiegenden, lebens­langen Behinderung zu verhindern».

Die Sprache hat sich seither geändert. 1994 erklärte man den Zweck von Tests damit, «Frauen eine Entscheidungs­möglichkeit bieten» zu wollen. Aktivistinnen wie Fält-Hansen wehren sich gegen die mehr oder weniger subtilen Methoden, mit denen das Gesundheits­wesen Frauen in Richtung eines Schwangerschafts­abbruchs zu bugsieren versucht. Wie ich von einigen dänischen Eltern erfahren habe, unterstellt die Ärzteschaft offensichtlich ganz automatisch, dass die Betroffenen einen Termin für einen Schwangerschafts­abbruch wollen, als gäbe es wirklich keine andere Möglichkeit.

Dem sei aber nicht länger so, sagt Puk Sandager, eine Spezialistin für Fötalmedizin am Universitäts­krankenhaus Aarhus. Vor 10 Jahren, so sagte sie mir, sei die Wahrscheinlichkeit, dass Ärzte, vor allem ältere, einen Schwangerschafts­abbruch erwarten, noch weit höher gewesen. Dies habe sich stark verändert. Die National Down Syndrome Association arbeitet ebenfalls mit Ärztinnen an der Sprache, die sie ihren Patienten gegenüber verwenden; so spricht man jetzt eher von «Wahrscheinlichkeit» statt von «Risiken», von einer «Chromosomen­aberration» statt von «Chromosom- oder Gendefekt». Und dann bringen Spitäler heute erwartende Eltern ganz selbst­verständlich mit Leuten wie Fält-Hansen zusammen, um besagte Gespräche über die Erziehung von Kindern mit Downsyndrom zu führen.

«Niemand ist normal», sagt der Vater des 4-jährigen August Bryde Christensen.

Vielleicht hat all das eine Wirkung gehabt, wenngleich so etwas schwer zu sagen ist. Die Zahl der Babys dänischer Eltern, die sich trotz einer positiven Downsyndrom-Pränatal­diagnose gegen einen Schwangerschafts­abbruch entscheiden, schwankt seit Einführung des kostenlosen Screenings zwischen 0 und 13. 2019 waren es 7 (11 weitere kamen zur Welt, weil sich ihre Eltern gegen den Test entschieden oder weil sie eine falsche Negativ­diagnose bekommen hatten).

Eine schier unmögliche Entscheidung

Warum so wenige? «Von aussen gesehen bietet ein Land wie Dänemark für jemanden, der ein Kind mit Downsyndrom grossziehen möchte, ein gutes Umfeld», sagt Stina Lou. Die Anthropologin befasst sich damit, wie Eltern nach der Pränatal­diagnose einer fötalen Anomalie zu einer Entscheidung kommen. Seit 2011 arbeitet sie eingebettet in die Abteilung für Fötal­medizin am Universitäts­spital Aarhus, einem der grössten Spitäler Dänemarks, wo sie die Arbeit von Sandager und Kollegen aus nächster Nähe beobachten kann.

Unter den Richtlinien von 2004 bietet man in Dänemark allen Schwangeren im ersten Trimester ein kombiniertes Screening an, das heisst sowohl Blut- als auch Ultraschall­test. Anhand der dabei gewonnenen Daten­punkte und des Alters der Mutter wird dann die Wahrscheinlichkeit des Downsyndroms errechnet. Patientinnen mit hoher Wahrscheinlichkeit bietet man einen invasiveren Test mittels DNA, die entweder den in der Amnion­flüssigkeit schwimmenden fötalen Zellen (Amniozentese oder Fruchtwasser­untersuchung) oder aus Plazenta­gewebe (Chorionzotten­biopsie) entnommen wird. Beide Tests erfordern das Einführen einer Kanüle oder eines Katheters in die Gebär­mutter und bergen somit ein – wenn auch geringes – Risiko einer Fehlgeburt. Seit einigen Jahren bieten Spitäler auch nicht invasive vorgeburtliche Tests mittels Fragmenten fötaler DNA aus dem Blut der Mutter an. Diese Option konnte sich in Dänemark bislang nicht durchsetzen, wahrscheinlich weil sich mit invasiven Tests über das Downsyndrom hinaus noch eine ganze Reihe anderer genetischer Störungen feststellen lassen. Je mehr Krankheiten sich ausschliessen lassen, desto ruhiger lässt es sich schlafen.

Stina Lou interessiert sich jedoch vor allem für jene Fälle, in denen Tests nicht einen ruhigen Schlaf bringen, sondern genau das Gegenteil. In einer Studie mit 21 Frauen, die sich nach einer positiven Downsyndrom-Pränatal­diagnose für einen Abbruch der Schwangerschaft entschieden hatten, stellte die Anthropologin fest, dass sie bei ihrer Entscheidung von Worst-Case-Szenarien ausgegangen waren. Ein überzähliges Chromosom 21 kann eine Reihe von Symptomen verursachen, deren Ausprägungs­grad sich erst bei der Geburt oder sogar noch später zeigt. Die meisten Menschen mit Downsyndrom lernen lesen und schreiben; andere sind nonverbal. Einige haben keine Herzfehler; andere müssen wegen einer Herzklappe Monate, wenn nicht gar Jahre immer wieder ins Krankenhaus. Die meisten haben einen gesunden Verdauungs­trakt; anderen fehlen die nötigen Nerven­enden, um einen Stuhlgang zu antizipieren, was weitere chirurgische Eingriffe nötig macht, möglicher­weise sogar einen Stoma­beutel oder Windeln. Die Frauen, die sich für einen Schwangerschafts­abbruch entschieden, befürchteten das Schlimmste. Einigen machte der Gedanke durchaus zu schaffen, womöglich ein Kind mit einer milden Form von Downsyndrom abzutreiben. Aber letzten Endes, so sagte mir Lou, «wird die Ungewissheit dann einfach zu viel».

Diese Betonung der Ungewissheit kam auch bei meinem Gespräch mit David Wasserman zur Sprache, einem Bioethiker bei den National Institutes of Health in den USA. Er hat zusammen mit seiner Mitarbeiterin, der 2013 verstorbenen Adrienne Asch, einige der pointiertesten Kritiken gegen den selektiven Schwangerschafts­abbruch verfasst. Die beiden vertreten die Ansicht, dass pränatale Tests ein ungeborenes Kind auf einen einzigen Aspekt – wie etwa das Downsyndrom – reduzieren, was die Eltern das Leben des erwarteten Kindes allein auf dieser Basis beurteilen lässt. Wasserman sagte mir, er glaube nicht, dass es den Eltern, die solche Entscheidungen zu treffen haben, um Perfektion gehe. Er sehe da vielmehr, wie er es ausdrückte, «eine starke Risikoscheu».

Es lässt sich schwer sagen, ob sich die Leute in Lous Studie tatsächlich aus den von ihnen angegebenen Gründen zum Schwangerschafts­abbruch entschlossen hatten oder ob es sich dabei um Rechtfertigungen im Nachhinein handelt. Allerdings konnte Lou bei Interviews mit Eltern, die sich – was eher ungewöhnlich ist – dafür entschieden hatten, ihr Kind trotz des positiven Befunds zu bekommen, eine grundsätzlich höhere Aufgeschlossenheit gegenüber der Ungewissheit feststellen.

Eltern von Kindern mit Downsyndrom haben mir gegenüber die erste Zeit der Trauer um das Kind geschildert, das sie sich gewünscht hatten: das Kind, das studieren sollte, das sie an den Traualtar führen wollten, das Präsident werden sollte. Selbstverständlich lässt sich das bei keinem Kind garantieren, aber während die meisten Eltern ihre Erwartungen im Lauf der Jahre allmählich auf die Realität zurück­schraubten, war für sie die Pränatal­diagnose ein jäher Sturz in den Abgrund der Enttäuschung – all ihre Träume, wie unrealistisch sie auch sein mochten, platzten auf einen Schlag. Und dann präsentieren einem die Ärzte eine lange Liste von Erkrankungen, die man mit dem Downsyndrom in Verbindung bringt. Man müsse sich das so vorstellen, sagte mir Karl Emils Schwester Ann Katrine: «Wenn Sie werdenden Eltern eine ellenlange Liste mit all dem geben, was ihrem Kind das ganze Leben über zustossen könnte – Krankheiten und was weiss ich –, dann bekäme es doch jede mit der Angst.»

«Niemand würde mehr ein Baby wollen», sagte Grete.

Wenn der Test versagt

Eine eigenartige Nebenwirkung von Dänemarks universellem Screening-Programm und der damit einhergehenden hohen Rate an Schwangerschafts­abbrüchen nach Down­syndrom-Diagnosen ist, dass eine stattliche Zahl von Babys mit Down­syndrom geboren werden, weil die Eltern eine falsche negative Diagnose bekommen hatten. Die Ergebnisse ihres Screenings in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft zeigten eine ausgesprochen geringe Downsyndrom-Wahrscheinlichkeit – so gering, dass ein invasiver Folgetest nicht für nötig befunden wurde. So setzten sie einfach eine vermeintlich völlig normale Schwangerschaft fort. Es sind mit anderen Worten Eltern, die sich womöglich für einen Abbruch entschieden hätten, wie das Paar, das Grete einst beraten hatte, hätten sie nur Bescheid gewusst.

Ihr Verstand verarbeite die Welt eben anders als der seine, sagt der Vater von Sally Dybkjær Andersson über die 6-Jährige.

Am Tag nach meinem Treffen mit Grete besuchte ich ein Meeting der örtlichen Downsyndrom-Gruppe in Kopenhagen. Die Frau, die mich eingeladen hatte, Louise Aarsø, hat eine Tochter mit Downsyndrom, die damals 5-jährige Elea. Aarsø und ihr Gatte hatten die ungewöhnliche Entscheidung getroffen, auf ein Screening zu verzichten. Obwohl sie das Recht auf Schwangerschafts­abbrüche unterstützen, wussten sie, sie würden das Baby auf jeden Fall haben wollen.

Zwei der sieben Familien bei dem Meeting sagten mir, ihr Pränatal-Screening habe eine extrem niedrige Wahrscheinlichkeit vermuten lassen. Bei der Geburt seien sie dann aus allen Wolken gefallen. Einige der anderen sagten, sie hätten die Schwangerschaft trotz der hohen Wahrscheinlichkeit nicht abgebrochen. Ulla Hartmann erzählte mir, ihr mittlerweile 18-jähriger Sohn Ditlev sei noch vor Einführung des dänischen Screening-Programms zur Welt gekommen. «Wir waren wirklich dankbar, dass wir nicht Bescheid wussten, weil wir schon zwei Jungs hatten, Zwillinge, als ich mit Ditlev schwanger war. Und ich glaube nicht, dass wir uns gesagt hätten: ‹Okay, nehmen wir das auf uns, wo wir doch schon mit den beiden Krümeln genug um die Ohren hatten›», sagte sie. «Aber man wächst eben mit der Herausforderung.»

Daniel Christensen war einer von den Eltern­teilen, denen eine niedrige Wahrscheinlichkeit für ein Downsyndrom diagnostiziert worden war: in etwa 1 zu 1500. Er und seine Frau brauchten sich also erst gar nicht gross zu entscheiden, und wenn er so zurückdenke, sagte er, «was mir am meisten Angst macht, ist, wie wenig wir letztlich über das Downsyndrom wussten». Worauf hätten sie ihre Entscheidung gegründet? Ihr Sohn August ist jetzt vier, und er hat eine Zwillings­schwester, die Christensen, wenn auch nicht ganz ernst gemeint, als «fast normal» bezeichnet. Die anderen Eltern lachten. «Niemand ist normal», sagte er.

Dann meldete sich die Frau zu meiner Rechten; sie bat mich, ihren Namen nicht zu nennen. Sie trug eine grüne Bluse, und ihr blondes Haar war zu einem Pferde­schwanz zusammengefasst. Als sich ihr alle zuwandten, merkte ich, dass ihr Tränen in den Augen standen. «All die Geschichten hier haben mich so bewegt, ich bin etwas …» Als ihr der Atem stockte, hielt sie inne. «Meine Antwort ist nicht so schön.» Die Wahrscheinlichkeit für ein Downsyndrom für ihren Sohn, sagte sie, lag bei 1 zu 969.

«Sie wissen die Zahl noch so genau?», fragte ich.

«Allerdings. Ich habe mir die Papiere noch mal angesehen.» Die Wahrscheinlichkeit sei niedrig genug gewesen, um nicht mehr daran zu denken, bis er geboren war. «Auf der einen Seite sah ich die Probleme. Und auf der anderen Seite war er perfekt.» Es habe vier Monate gedauert, bis man ihn mit Downsyndrom diagnostizierte. Er sei jetzt sechs, und er könne nicht sprechen. Es sei furchtbar frustrierend für ihn, sagte sie. Er streite mit Bruder und Schwester. Er beisse, weil er sich nicht anders ausdrücken könne. «Es passiert einfach so oft, und man fühlt sich nie sicher.»

Ihre Erfahrung ist nicht repräsentativ für alle Kinder mit Downsyndrom; der Mangel an Impuls­kontrolle ist vielen gemein, nicht aber die Gewalt. Was sie sagen wollte: Das Bild vom sorglosen Kind, wie es in den Medien so oft zu sehen sei, sei eben nicht repräsentativ für alle. Sie hätte sich auf keinen Fall für dieses Leben entschieden: «Wir hätten um eine Abtreibung gebeten, hätten wir das gewusst.»

Die Entscheidung richtig finden – und doch das Gefühl haben, das Falsche zu tun: Filmemacherin L. hat die Schwangerschaft nach dem Testergebnis abgebrochen.

Jemand der anderen Eltern meldete sich zu Wort, sprach ein ähnliches Thema an, und beim nächsten Beitrag ging es um etwas ganz anderes. Doch am Ende des Meetings, als die anderen aufstanden und ihre Mäntel holten, wandte ich mich noch mal an die Frau, weil ich noch immer schockiert darüber war, das sie so etwas tatsächlich bewusst gesagt haben sollte. Ihr Eingeständnis schien wie ein Verstoss gegen einen unausgesprochenen Kodex der Mutterschaft.

«Natürlich», meinte sie, «schäme ich mich, wenn ich solche Sachen sage.» Sie liebe ihr Kind, wie sollte sie auch nicht als Mutter? «Aber liebt man einen Menschen, der einen schlägt, beisst? Wenn einen der Gatte beisst, kann man sich verabschieden … aber wenn einen das eigene Kind schlägt, dann können Sie nichts machen. Sie können nicht einfach sagen: ‹Ich möchte keine Beziehung mit dir.› Schliesslich ist es Ihr Kind.»

Ein Kind zu bekommen, ist der Beginn einer Beziehung, die sich nicht einfach beenden lässt. Sie sollte bedingungslos sein, was uns womöglich auch am selektiven Schwangerschafts­abbruch die grössten Sorgen bereitet – er ist ein Eingeständnis, dass diese Beziehung eben doch mit Bedingungen kommen kann.

Die grosse Trauer

Die Elternschaft ist ein Sprung ins Unbekannte, ein Verlust von Kontrolle. Was mit das Schöne daran ist – aber eben auch beängstigend.

Für die kalte wissenschaftliche Domäne der Biologie beginnt die Fortpflanzung mit einem willkürlichen Mischen der genetischen Karten – es ist ein Schicksals­akt, wenn man es weniger kalt, vielleicht poetischer ausdrücken will. Die 23 Chromosomen­paare in unseren Zellen reihen sich so aneinander, dass die DNS von Mutter und Vater neu gemischt und in Sätze zu je 23 Einzel­chromosomen aufgeteilt werden kann. Jede Ei- beziehungsweise Samen­zelle enthält einen solchen einfachen Satz. Bei der Frau beginnt diese Chromosomen­teilung bemerkenswerter­weise bereits, wenn sie selbst noch ein Fötus im Leib ihrer eigenen Mutter ist. Die Chromosomen bleiben dann unverändert, 20, 30 oder gar 40 Jahre lang, während der Fötus zum Baby wird, das Baby zum Mädchen, das Mädchen zur Frau. Erst mit der Befruchtung der Eizelle schliesst sich der Kreis.

Während der Jahre dazwischen kann es passieren, dass die Proteine, die die Chromosomen zusammen­halten, «baufällig» werden, was zu Eizellen mit zu vielen oder zu wenigen Chromosomen führt. Das ist der biologische Mechanismus hinter den meisten Fällen von Downsyndrom – 95 Prozent der Menschen, die mit einem Extra­exemplar des Chromosoms 21 geboren werden, haben dieses von der Mutter geerbt. Was wiederum der Grund ist, weshalb das Syndrom oft, wenn auch nicht immer, mit dem Alter der Mutter in Verbindung gebracht wird.

In meinen Interviews wie auch in jenen der Anthropologin Stina Lou und Forscherinnen in den Vereinigten Staaten fiel die Entscheidung über das Vorgehen nach einem Pränatal­test überproportional den Müttern zu. Sicher, es gab auch Väter, die mit der Entscheidung rangen, aber der Hauptteil der Last fiel in der Regel auf die Mütter. Es gibt hierzu eine feministische Erklärung («Mein Körper, meine Entscheidung») und eine weniger feministische (die Familie ist nach wie vor in der Hauptsache die Domäne der Frau) – aber das ändert nichts an der Tatsache selbst. Und bei vielen Betroffenen schienen schon bei der Entscheidung die späteren Urteile anderer über sie eine Rolle zu spielen.

Wie ich von Lou erfuhr, suchte sie das Gespräch mit Frauen, die sich nach der Downsyndrom-Diagnose für einen Abbruch der Schwangerschaft entschieden, weil sie die schweigende Mehrheit sind. Selten werden sie von den Medien interviewt; in den seltensten Fällen sind sie bereit dazu. Die Dänen sind, was die Abbrüche von Schwangerschaften anbelangt, recht offen (erstaunlich offen für meine amerikanischen Ohren), aber Abbrüche wegen einer Anomalie beim Fötus stehen auf einem anderen Blatt – und für das Downsyndrom gilt das ganz besonders. Sie sind nach wie vor mit einem Stigma belegt. «Meiner Ansicht nach liegt das daran, dass wir uns als Gesellschaft gern inklusiv verstehen», sagte Lou. «Wir sind eine reiche Gesellschaft und halten Diversität für wichtig.» Und bei einigen der Frauen, die sich letztlich für den Abbruch ihrer Schwangerschaft entscheiden, «rührt das an ihrem Selbst­verständnis, weil sie damit akzeptieren müssen, dass sie doch nicht die Art Mensch sind, für die sie sich gehalten haben». Sie waren eben doch nicht die Art Mensch, die ein Kind mit einer Behinderung haben wollen.

Für die Frauen in Lous Studie war der Schwangerschafts­abbruch nach einer positiven Pränatal­diagnose etwas ganz anderes als die Beendigung einer ungewollten Schwangerschaft. Es handelte sich in den meisten Fällen um gewollte, in einigen Fällen um langersehnte Schwangerschaften nach einem langen Kampf gegen die Unfruchtbarkeit. Man machte sich die Entscheidung für den Abbruch nicht leicht. Eine Dänin, die ich hier L. nennen möchte, sagte mir, wie schrecklich es für sie gewesen sei, ihr Baby in sich zu spüren, nachdem sie sich für den Schwangerschafts­abbruch entschieden hatte. In ihrem Krankenhaus­bett begann sie so heftig zu schluchzen, dass man alle Mühe hatte, sie zu sedieren. Sie war selbst überrascht von der Tiefe ihrer Gefühle, so sicher wie sie sich ihrer Entscheidung gewesen war. Mittlerweile waren zwei Jahre vergangen seit dem Abbruch ihrer Schwangerschaft, und sie denkt nicht mehr gross daran. Aber als sie mir am Telefon davon erzählte, begann sie zu weinen.

«Den meisten wird die Ungewissheit einfach zu viel»: Die Anthropologin Stina Lou untersucht, wie Eltern nach der Pränatal­diagnose einer fötalen Anomalie zu einer Entscheidung kommen.

Sie war enttäuscht, in den Medien so wenig über die Erfahrungen von Frauen wie ihr zu finden. «Ich hielt es für richtig, und ich bedauere es nicht im Geringsten», sagte sie mir, aber sie sprach auch von ihrem Gefühl, «etwas Falsches zu tun». L. ist Filme­macherin, sie hatte einen Dokumentar­film machen wollen über die Entscheidung, nach der Downsyndrom-Diagnose abzutreiben. Sie dachte sogar daran, ihre eigene Geschichte mit einzubringen. Sie konnte jedoch nicht ein einziges Paar finden, das bereit gewesen wäre, in ihrer Doku mitzuwirken. Und damit ganz alleine an die Öffentlichkeit zu gehen, so weit war sie dann doch wieder nicht.

Die Gesellschaft will mitreden

Rayna Rapp, die als Anthropologin den Begriff «moralische Pioniere» prägte, interviewte Eltern, die sich in den 1980er- und 1990er-Jahren in New York einem pränatalen Screening unterzogen. Dabei stellte sie fest, dass eine bestimmte Gruppe von Frauen etwas ganz Bestimmtes beschäftigte. Die von ihr Befragten standen für einen durchaus repräsentativen Querschnitt der Stadt, aber insbesondere Frauen der weissen Mittelschicht schienen fixiert auf den Gedanken, «egoistisch» zu sein.

Diese Frauen gehörten zu den ersten in ihren Familien, die das Hausfrauen­dasein zugunsten nicht nur eines beliebigen Jobs, sondern zugunsten einer Karriere verwarfen, die eine zentrale Bedeutung für ihre Identität gewann. Und mithilfe der Geburten­kontrolle bekamen sie nicht nur weniger Kinder, sie bekamen sie auch später. Sie verfügten damit über mehr reproduktive Autonomie als jede andere Generation von Frauen in der Menschheits­geschichte. (Rapp selbst war auf ihr Forschungs­gebiet gekommen, nachdem sie – Professorin, 36 Jahre alt – ihre Schwangerschaft nach einer Downsyndrom-Diagnose abgebrochen hatte.) «Die Medizinal­technik verändert ihre ‹Entscheidung› auf individueller Ebene, sie erlaubt es den Frauen – wie ihren männlichen Partnern –, sich aus freien Stücken gesetzte Grenzen hinsichtlich ihrer Verpflichtungen ihren Kindern gegenüber vorzustellen», schrieb Rapp in ihrem Buch «Testing Women, Testing the Fetus».

Nur wird die Inanspruchnahme dieser «freiwilligen» Grenzen hinsichtlich der Mutterschaft – die Entscheidung, ein Kind mit einer Behinderung nicht auszutragen, zum Beispiel aus Angst vor beruflichen Auswirkungen – plötzlich als «Egoismus» ausgelegt. Sicher, die medizinische Technik kann Frauen eine Entscheidungs­möglichkeit bieten, verändert aber noch lange nicht die Gesellschaft um sie herum. Sie ändert weder etwas an der Erwartung, dass Frauen in der Familie für die Fürsorge verantwortlich sind, noch am Ideal einer guten Mutter, die ihrer Hingabe an ihre Kinder schlicht keine Grenzen setzt.

Auch bringt die zentrale Rolle der Entscheidungs­freiheit den Feminismus in einen unbequemen Konflikt mit der Behinderten­rechts­bewegung. Militante Abtreibungs­gegner in den USA haben das Problem aufgegriffen, um in mehreren Bundes­staaten Gesetzes­vorlagen für ein Verbot selektiver Abtreibung bei Downsyndrom einzubringen. Auf Behinderungen spezialisierte feministische Wissenschaftlerinnen versuchen den Konflikt durch das Argument zu lösen, dass von einer wirklichen Entscheidungs­möglichkeit hier ja wohl keine Rede sein könne. «Die Entscheidung, einen Fötus mit einer Behinderung abzutreiben, auch nur weil es ‹einfach zu schwierig scheint›, muss respektiert werden», schrieb Marsha Saxton, Forschungs­direktorin am World Institute on Disability, 1998. Dennoch handelt es sich hier ihrer Ansicht nach um eine Entscheidung «unter Zwang»; eine mit dieser Entscheidung konfrontierte Frau, so führt sie ins Feld, sehe sich auch heute noch dazu genötigt – durch allgemein herrschende irrige Vorstellungen, die das Leben mit einer Behinderung als schlimmer darstellen, als es tatsächlich ist, und durch eine Gesellschaft, die Menschen mit Behinderungen feindselig gegenübersteht.

Und je weniger Menschen mit Behinderungen zur Welt kommen, desto schwieriger werde es für die, die geboren werden, ein gutes Leben zu führen, argumentiert Rosemarie Garland-Thomson, Bioethikerin und ehemalige Professorin an der Emory University. Weniger Menschen mit Behinderungen bedeuteten weniger Dienste, weniger Therapien, weniger Ressourcen. Aber sie erkennt auch, dass diese Logik die gesamte Last einer inklusiven Gesellschaft den einzelnen Frauen auferlegt.

Wen wollte es da wundern, dass sich diese «Entscheidungs­freiheit» wie eine Bürde anfühlen kann. In einer kleinen Studie über Amerikanerinnen, die nach der Diagnose einer fötalen Anomalie ihre Schwangerschaft abgebrochen hatten, sagten zwei Drittel der Betroffenen, sie hätten auf eine Fehlgeburt gehofft – ja um eine solche gebetet. Es ist nicht so, dass sie von Ehegatten, Ärztinnen oder Gesetz­gebern hätten hören wollen, was sie tun sollten, sie hatten nur erkannt, dass diese Entscheidungs­freiheit mit Verantwortung und Urteilen kommt. «Ich fühle mich schuldig, nicht die Art von Mutter für ein Kind mit dieser Art von speziellen Bedürfnissen zu sein», sagte eine der Frauen aus der Studie. «Schuldig, schuldig, schuldig.»

Die Einführung der Entscheidungs­freiheit sorgt für eine Neuordnung des Terrains, auf dem wir uns alle bewegen. Sich nicht testen zu lassen, macht eine zu einer Person, die sich gegen den Test entscheidet. Sich testen und nach einer Downsyndrom-Diagnose die Schwangerschaft abzubrechen, macht einen zu einer Person, die sich gegen ein Kind mit einer Behinderung entscheidet. Sich testen zu lassen und das Kind trotz positiver Diagnose auszutragen, macht eine zu einer Person, die sich für ein Kind mit einer Behinderung entscheidet.

Jede Entscheidung positioniert einen hinter die eine oder andere Demarkations­linie. Ein Niemands­land gibt es nicht, ausser in der Hoffnung, dass der Test negativ ausfällt und es erst gar nicht zum Dilemma einer Entscheidung kommt.

Was ist das für eine Entscheidungs­freiheit, wenn man darauf hofft, sich erst gar nicht entscheiden zu müssen?

Bald eine Frage der Klasse?

Es ist eher unwahrscheinlich, dass das Downsyndrom je ganz verschwinden wird. Da Frauen heute ihren Kinder­wunsch länger aufschieben, steigt auch die Zahl der Schwangerschaften mit einem zusätzlichen Chromosom 21. Darüber hinaus kann ein vorgeburtlicher Test im einen oder anderen Fall durchaus eine falsche Diagnose erbringen, und einige Eltern werden sich gegen einen Schwangerschafts­abbruch entscheiden oder gegen den Test an sich. Anderen wiederum wird die Möglichkeit zum Abbruch nicht offenstehen.

In den Vereinigten Staaten – wo man ein staatliches Gesundheits­system im europäischen Sinne und damit auch eine gesetzliche Verpflichtung, Frauen ein pränatales Screening anzubieten, nicht kennt – liegt die zuverlässigste Schätzung hinsichtlich der abgebrochenen Schwangerschaften nach einer Downsyndrom-Diagnose bei 67 Prozent. Hinter dieser landes­weiten Zahl verbergen sich jedoch starke sowohl regionale als auch soziale Unterschiede. So findet sich einer Studie zufolge eine höhere Abbruch­quote im Westen und Nordosten sowie unter Müttern mit bester Bildung. «An Manhattans Upper East Side sieht das ganz anders aus als in Alabama», sagte mir die Genetik­beraterin Laura Hercher.

Für sie sind diese Unterschiede Anlass zur Sorge. Wenn nur die Reichen es sich leisten können, sich gewisser genetischer Defekte routine­mässig durch Screenings zu erwehren, dann können diese Defekte bald für die Klassen­zugehörigkeit stehen. Sie können mit anderen Worten buchstäblich zu anderer Leute Problem werden. Hercher sorgt sich um eine «Empathie­lücke» in einer Welt, in der die Betuchten sich immun gegen Krankheit und Behinderung fühlen.

Wenn Menschen zu Produkten werden

Für Leute mit dem nötigen Kleingeld nehmen die Möglichkeiten der genetischen Selektion rapide zu. Das Allerneueste ist die genetische Präimplantations­diagnostik (PID) bei durch In-vitro-Fertilisation gezeugten Embryonen, deren Kosten sich alles in allem auf Zehntausende von Dollar belaufen können. Labors bieten mittlerweile einen Katalog genetischer Defekte an, auf die sich testen lässt – die meisten von ihnen selten und schwerwiegender wie etwa Tay-Sachs-Syndrom, Muko­viszidose und Phenylketonurie –, was den Transfer ausschliesslich gesunder Embryonen in die Gebär­mutter erlaubt.

Die Wissenschaft hat darüber hinaus Fortschritte beim Verständnis häufigerer Defekte gemacht, die durch Hunderte, wenn nicht gar Tausende von Genen beeinflusst sind: Diabetes, Herz­krankheiten, familiäre Hyper­cholesterinämie, Krebs und – weit kontroverser – psychische Erkrankungen und Autismus. Seit Ende 2018 bietet Genomic Prediction, eine Firma in New Jersey, Screenings von Embryonen auf Hunderte von Defekten, darunter Schizophrenie und geistige Behinderungen, obwohl hinsichtlich der Letzteren still und leise zurückgerudert wurde. Ein Test, nach dem sich seine Kundschaft immer wieder erkundigt, so sagte mir der wissenschaftliche Chef des Unternehmens, ist der auf Autismus. Die Wissenschaft ist noch nicht so weit, aber die Nachfrage wäre da.

Politisch gesehen verbinden sich pränatales Downsyndrom-Screening und Schwangerschafts­abbruch derzeit zur schieren Notwendigkeit – die einzige Eingriffs­möglichkeit, die nach einer positiven Downsyndrom-Diagnose angeboten wird, ist, das Baby nicht zu bekommen. Die moderne Fortpflanzungs­medizin eröffnet Eltern aber mehr Möglichkeiten, sich auszusuchen, welche Art von Kind sie haben wollen. Die Präimplantations­diagnostik ist ein Beispiel dafür.

Auch Samen­banken bieten heute Spender­profile mit Details von Augen- und Haarfarbe bis hin zum Bildungs­stand; ausserdem testen sie Spender auf genetische Defekte. Bereits mehrere Eltern haben Samen­banken verklagt, nachdem sie festgestellt hatten, dass ihr Spender­samen womöglich unerwünschte Gene enthält, nachdem ihre Kinder Autismus oder eine degenerative Nerven­erkrankung entwickelt hatten. Im September 2020 gab Georgias Oberster Gerichtshof in einem dieser Fälle grünes Licht – ein Samen­spender hatte die Vorgeschichte einer psychischen Erkrankung verschwiegen. Man könnte die «irreführenden Geschäfts­praktiken» einer Samen­bank, die den Prozess ihres Spender-Screenings falsch darstellt, so entschied das Gericht, «im Wesentlichen als einen gewöhnlichen Betrug am Konsumenten sehen».

Die Bioethikerin Garland-Thomson bezeichnet diese Kommerzialisierung der Fortpflanzung als «samtene Eugenik» – der leisen, subtilen Art wegen, in der sie der Ausmerzung von Behinderungen Vorschub leistet. Wie die Samtene Revolution in der Tschechoslowakei, an die ihre Wort­schöpfung angelehnt ist, geht sie ohne offene Gewalt vonstatten. Aber sie nimmt darüber hinaus eine andere Konnotation an, insofern die menschliche Fortpflanzung immer mehr der Konsumenten­wahl unterliegt: «Samt» suggeriert in diesem Sinne hochkalibrig, erstrangig – Qualität. Wer wollte nicht das Beste für sein Baby? Zumal wenn man bereits Zigtausende für eine In-vitro-Fertilisation ausgegeben hat. «Hier», so sagt Garland-Thomson, «werden Menschen zu Produkten.»

Schicksal war gestern

Nichts von alledem soll heissen, dass man die Pränatal­diagnose in Bausch und Bogen verwerfen sollte. Die meisten Eltern, die sich für genetische Tests entscheiden, wollen ihren Kindern reales physisches Leid ersparen. Die Tay-Sachs-Krankheit, um nur ein Beispiel zu nennen, wird von Mutationen im HEXA-Gen verursacht, die zur Zerstörung von Neuronen in Gehirn und Rücken­mark führt. Im Alter von 3 bis 6 Monaten beginnen Babys, erst ihre Motorik zu verlieren, dann ihre Sehkraft und Hörfähigkeit. Es kommt zu Anfällen und Lähmungen. Die meisten überlebten die Kindheit nicht. Heilbar ist Tay-Sachs nicht.

Ihre Eltern hatten bewusst auf eine Pränatal­diagnose verzichtet: Die 6-jährige Elea Aarsø mit ihrem Vater und ihrer Schwester.

In der Welt der Gentests ist Tay-Sachs eine Erfolgs­geschichte, da das Syndrom so gut wie ausgemerzt ist. Grund dafür ist eine Kombination aus Pränatal- beziehungsweise Präimplantations­diagnostik und Träger-Screening. Letzteres hilft vor allem unter der von der Mutation besonders betroffenen aschkenasisch-jüdischen Bevölkerung bei der frühzeitigen Identifizierung möglicher­weise besonders riskanter Ehen.

Die Kehrseite dieses Erfolgs ist freilich, dass es heute kein blosser Schicksals­schlag mehr ist, ein Baby mit dieser Krankheit zur Welt zu bringen, weil man nichts dagegen hätte tun können. Es lässt sich stattdessen als Mangel an persönlicher Verantwortung sehen.

Fertilitätsspezialisten haben sich mir gegenüber leidenschaftlich darüber ausgelassen, mehr Eltern den Zugang zur In-vitro-Fertilisation zu ermöglichen, die sich andernfalls zur Verhinderung ernster Krankheiten für ein Embryo-Screening entscheiden würden. In einer Welt, in der die künstliche Befruchtung erschwinglicher wird und den Körper der Mutter nicht mehr gar so stark belastet, wird sie womöglich zu einer Frage der Vernunft. Und wenn man schon all das durchmacht, um sich auf eine Krankheit testen zu lassen, warum nicht gleich vom ganzen Katalog profitieren? Das hypothetische Szenario, das Karl Emils Schwester sich ausgemalt hatte – dass man den Eltern eine Liste sämtlicher Risiken für ihr Kind vorlegen könnte –, scheint näher denn je.

Wie entscheidet man sich zwischen einem Embryo mit einem geringfügig erhöhten Risiko einer Schizophrenie und einem mit moderatem Brustkrebsrisiko?

Das Problem mit dem Zählen

Es muss nicht weiter überraschen, dass die Befürworterinnen der Präimplantations­diagnostik es vorziehen, die Debatte auf monogene Mutationen einzugrenzen, bei denen die Mutation eines einzelnen Gens schwere Auswirkungen auf die Gesundheit hat. Jedes Gespräch über die Risiken von Krankheiten wie Diabetes und psychischen Erkrankungen – die auch stark vom Umfeld beeinflusst werden – kommt rasch auf «Designer­babys». «Warum sollten wir das wollen?», fragt David Sable, ein ehemaliger IVF-Arzt, der heute ein auf Biowissenschaften spezialisierter Risiko­kapital­geber ist. «Fangen wir doch mit den wissenschaftlich unkompliziertesten, den monogenen Krankheiten an – Muko­viszidose, Sichelzellen­anämie, Hämophilie –, bei denen sich ganz klar definieren lässt, wie dabei der Nutzen aussieht.»

Und was ist mit dem Downsyndrom, fragte ich ihn, bei dem die Folgen schliesslich weit weniger schwerwiegend ausfallen können als bei all den anderen genannten Defekten, auf das aber trotzdem getestet wird? Seine Antwort überraschte mich – immerhin hatte er fast sein ganzes Berufs­leben über in Labors gearbeitet, die Chromosomen zählen: «Das Konzept des Zählens von Chromosomen als definitiver Indikator der Wahrheit – also meiner Ansicht nach werden wir mal darauf zurück­blicken und sagen: ‹Mein Gott, wie töricht waren wir doch.›» Man möge nur an die Geschlechts­chromosomen denken, sagte er. «Wir sind derart auf diese binäre Struktur von männlich-weiblich fixiert, die wir mit XX und XY erzwungen haben.»

Aber so klar sei das alles gar nicht. Mit XX geborene Babys können männliche Fortpflanzungs­organe haben; mit XY geborene können weibliche Fortpflanzungs­organe haben. Und andere kommen mit einer ungewöhnlichen Anzahl von Geschlechts­chromosomen – X, XXY, XYY, XXYY, XXXX – mit Folgen unterschiedlichster Ausprägung zur Welt. Manch eine wird womöglich nie erfahren, dass mit ihren Chromosomen etwas nicht stimmt.

Als die Anthropologin Rayna Rapp sich in den 80er- und 90er-Jahren mit der Pränatal­diagnostik befasste, stiess sie gleich mehrfach auf Paare, die Föten mit Anomalien bei den Geschlechts­chromosomen allein aus der Angst heraus abtreiben liessen, dass diese zu Homosexualität führen könnten – nicht dass es Nachweise für derlei Verbindungen gibt. Ausserdem machten sie sich Sorgen, aus einem Jungen, der nicht XY entsprach, würde womöglich kein richtiger Kerl.

Als ich 30 Jahre danach von derlei Befürchtungen las, meinte ich das Ausmass der tektonischen Verschiebung unter unseren Füssen zu spüren. Natürlich können einige Eltern nach wie vor solche Ängste haben, nur umspannen heute die Grenzen der «Normalität» hinsichtlich Gender und Sexualität weit mehr als nur das schmale Spektrum von vor 30 Jahren. Ein Kind, das weder XX noch XY ist, passt weit leichter in unsere heutige als in eine streng genderbinäre Welt.

Anomalien bei Geschlechts­chromosomen und Downsyndrom gehörten zu den ersten Zielen der Pränatal­diagnostik – nicht etwa weil sie zu den gefährlichsten Abweichungen gehören, sondern weil sie am einfachsten zu testen sind. Es geht hier schliesslich nur darum, Chromosomen zu zählen. Da die Wissenschaft sich jedoch mehr und mehr über diese relativ rudimentäre Technik hinausbewege, überlegte Sable, werde «der Begriff Downsyndrom wahrscheinlich irgendwann verschwinden, weil wir womöglich dahinter­kommen, dass ein drittes Chromosom 21 ja vielleicht doch kein vorher­sagbares Level an Leid oder Funktions­änderung mit sich bringt».

Überhaupt enden die meisten Schwangerschaften mit einem dritten Chromosom 21 mit einer Fehlgeburt. Nur 20 Prozent der Babys überleben bis zur Entbindung, und die Menschen, die tatsächlich zur Welt kommen, weisen ein breites Spektrum an intellektuellen Beeinträchtigungen und physischen Leiden auf. Wie kann ein Extra­chromosom in einigen Fällen mit dem Leben unvereinbar sein und in anderen zu einem Jungen führen, der lesen und schreiben und einem die tollsten Tricks mit seinem Diabolo zeigen kann? Hier ist doch wohl eindeutig mehr als nur ein überzähliges Chromosom im Spiel.

Was ist schlechter am anderen Normal?

Mit der zunehmenden Verbreitung von Gentests stellte sich heraus, mit wie vielen weiteren genetischen Anomalien viele von uns leben – nicht nur mit überzähligen oder fehlenden Chromosomen, sondern ganzen Chromosomen-Klumpen, die gelöscht, dupliziert, auf andere Chromosomen aufgepfropft sind; wir sprechen hier von Mutationen, die eigentlich tödlich sein sollten, und doch weist sie der völlig gesunde Erwachsene auf, der uns gegenübersitzt. Jeder Mensch trägt einen Satz von Mutationen in sich, der einzigartig für ihn ist. Deshalb sind neue und seltene genetische Krankheiten auch so schwer zu diagnostizieren – wenn man die DNA eines Individuums mit einem Referenz­genom vergleicht, dann finden sich Hundert­tausende von Abweichungen, von denen die meisten für die Krankheit völlig irrelevant sind. Was also ist «normal»? Gentests als medizinische Dienst­leistung dienen dazu, die Grenzen des «Normalen» zu zementieren, wo doch all diese mit dem Leben durchaus kompatiblen Anomalien die Grenzen unseres Verständnisses von «normal» durchaus erweitern könnten. «Die meinen hat das durchaus erweitert», sagte mir Sable.

Sable stellte das als allgemeine Beobachtung in den Raum. Er hielt sich nicht für qualifiziert, darüber zu spekulieren, was das für die Zukunft des Downsyndrom-Screenings bedeuten könnte. Aber wie ich fand, klang in unserem Gespräch über Genetik eine Menge dessen an, was ich auch von Eltern hörte. David M. Perry, ein Autor aus Minnesota mit einem 13-jährigen Sohn mit Downsyndrom, sagte mir, es stosse ihm auf, Menschen mit Downsyndrom als engelhaft und putzig dargestellt zu sehen. Er empfinde das als so verallgemeinernd wie entmenschlichend.

Er verwies stattdessen auf die Arbeit der Neurodiversitäts­bewegung, die Autismus und Aufmerksamkeits­defizit-Hyperaktivitäts­störung innerhalb der Grenzen normaler neurologischer Variationen unterzubringen versucht. «Wir brauchen mehr Kategorien von ‹normal›», sagte mir Johannes Dybkjær Andersson, ein anderer, in Kopenhagen als Musiker und Kreativitäts­chef tätiger Vater. «Es ist doch was Gutes, wenn in unserem Leben Menschen auftauchen, die einfach auf ganz andere Weise normal sind.» Wie seine Tochter Sally vor sechs Jahren. Ihr Verstand verarbeite die Welt eben anders als der seine, sagt er. Sie hat keine Filter und ist völlig offen. Viele Eltern sagten mir, dass diese Eigenschaft zuweilen durchaus peinlich und störend sein kann. Aber sie kann genauso auch das beengende Joch gesellschaftlicher Schicklichkeit sprengen.

Stephanie Meredith, Direktorin des National Center for Prenatal and Postnatal Resources an der University of Kentucky, erzählte von einem Zwischen­fall, bei dem ihr 20-jähriger Sohn seine Schwester beim Basketball mit einer anderen Spielerin zusammen­prallen und zu Boden gehen sah. Sie prallte so hart auf dem Boden auf, dass der Knacks in der ganzen Halle zu hören war. Noch bevor Meredith überhaupt reagieren konnte, war ihr Sohn bereits über die Sitzreihen gesprungen, um seiner Schwester aufzuhelfen. «Er dachte nicht einen Augenblick an irgendwelche Regeln oder daran, was sich gehört. Er reagierte einfach und kümmerte sich um sie», sagte mir Meredith. Man hatte ihr kurz vor unserem Gespräch eine einfache, aber tiefschürfende Frage gestellt: Was sie, abgesehen von besonderen Leistungen und Meilen­steinen, mit besonderem Stolz auf ihren Sohn erfüllt habe? Der Zwischenfall auf dem Basketball­platz war das Erste, was ihr in den Sinn kam. «Das hat nichts mit grossen Leistungen zu tun», sagte sie. «Es geht schlicht darum, sich um einen anderen Menschen zu kümmern.»

Karl Emil Fält-Hansen und seine Mutter Grete sprechen manchmal auch gemeinsam mit werdenden Eltern über das Downsyndrom.

Die Frage hatte sich nicht nur Meredith ins Gedächtnis gebrannt, sondern auch mir – hebt sie doch so subtil wie nachdrücklich die Werte hervor, auf die Eltern eigentlich bei ihren Kindern achten sollten: nicht auf die Noten oder die Basketball­trophäen oder die Aufnahme ins College oder womit auch immer Eltern in der Regel sonst noch so prahlen. Nur so liesse sich die Tür zu einer Welt öffnen, die weniger besessen von Leistung ist.

Meredith wies darauf hin, dass das Downsyndrom von einem Medizinal­wesen definiert und diagnostiziert wird, in dem Leute tätig sind, die über die Massen erfolgreich sein müssen, um es so weit zu bringen – Menschen, deren Identität aller Wahrscheinlichkeit grösstenteils auf Intelligenz gebaut ist. Und ebendieses System gibt den Eltern die Werkzeuge für die Entscheidung darüber in die Hand, welche Kinder sie haben sollen.

Könnte es möglich sein, dass dieses System vorbelastet ist, wenn es um die Entscheidung geht, welches Leben Wert hat und welches nicht?

Michael, der in die Anstalt sollte

Als Mary Wasserman 1961 ihren Sohn Michael zur Welt brachte, lieferte man Kinder mit Downsyndrom noch routine­mässig in staatliche Anstalten ein. Sie erinnert sich, wie ihr Arzt ihr sagte: «Es ist ein mongoloider Idiot» – das war der Begriff, der benutzt wurde, bevor man Chromosomen zu zählen begann –, und ihr dann erklärte, «es» gehöre auf der Stelle in eine staatliche Anstalt.

Wasserman hatte einmal eine Woche lang als Volontärin in einer solchen Anstalt gearbeitet und konnte weder die Bilder noch die Laute vergessen, vom Geruch ganz zu schweigen. Die Kinder waren verdreckt, niemand kümmerte sich um sie, von Förderung konnte keine Rede sein. Allen Argumenten ihres Arztes zum Trotz nahm sie Michael mit nach Hause.

Die ersten Jahre waren alles andere als leicht für Wasserman, die – geschieden – den grössten Teil von Michaels Kindheit über allein mit ihm lebte. Um sie beide durchzubringen, arbeitete sie. So etwas wie formelle Tages­stätten gab es damals nicht. Und die Frauen, die als inoffizielle Tages­mütter Kinder bei sich zu Hause aufnahmen, wollten Michael nicht haben. «Den anderen Müttern ist das unangenehm», sagte ihr eine von ihnen nach einer Woche. Andere wiesen ihn vom Fleck weg ab. Sie stellte private Babysitter ein, aber Michael hatte keine Spiel­kameraden. Er war 8 Jahre alt, als in der Nähe eine Schule für Kinder mit Behinderungen öffnete; hier ging Michael zum ersten Mal zur Schule.

Michael ist jetzt 59. Das Leben eines Kindes mit Downsnydrom sieht heute anders aus. Besagte staatliche Anstalten wurden geschlossen, nachdem Skandal­berichte über die unhygienischen und grausamen Zustände erschienen waren, die Wasserman als Highschool-Schülerin im Volontariat selbst mitbekommen hatte. Wenn Kinder mit Behinderungen heute aus dem Kranken­haus nach Hause kommen, haben sie Zugang zu einer ganzen Reihe physischen, Beschäftigungs- und Sprach­therapien durch den Staat – für gewöhnlich ohne Kosten für die Familie. Öffentliche Schulen sind verpflichtet, Kindern mit Behinderungen gleichberechtigten Zugang zu Bildung zu gewähren. 1990 verbot der Americans With Disabilities Act die Diskriminierung am Arbeits­platz, in öffentlichen Transport­mitteln, Tages­stätten und anderen Geschäften.

Inklusion hat viele Menschen mit Behinderung zu einem sichtbaren und normalen Teil der Gesellschaft gemacht. Anstatt in Anstalten versteckt zu werden, leben sie heute «unter uns». Dank dem Aktivismus von Eltern wie Wasserman ist all das zu Lebzeiten ihres Sohnes passiert.

Ob sie sich für Michael all die Möglichkeiten gewünscht hätte, die Kinder heute haben? «Na ja», sagt sie, «ich finde, dass wir es in vieler Hinsicht leichter hatten.» Nicht dass Michael die Therapien nicht geholfen hätten. Aber heute laste auf Kindern wie auf Eltern ein höherer Druck. Sie musste Michael nicht ständig zu Terminen fahren oder mit der Schule streiten, damit er in eine normale Klasse kommt; sie musste ihm nicht bei all den Bewerbungen für Colleges helfen, die heute massenhaft Programme für Schüler mit geistigen Behinderungen anbieten. «Es war weniger Stress für uns als heute», sagt sie. Ein Kind mit einer Behinderung grosszuziehen, ist weitaus aufreibender geworden – so, wie die Erziehung anderer Kinder auch.

Letztlich gehts um gegenseitige Toleranz

Ich könnte noch nicht einmal sagen, wie oft mir im Verlauf dieser Reportage jemand gesagt hat: «Wissen Sie, heute arbeiten Leute mit Downsyndrom und gehen aufs College!» Es ist dies ein wichtiges Korrektiv gegenüber den niedrigen Erwartungen, die sich hartnäckig halten. Und es ist auch eine schmerzliche Erinnerung daran, wie eine sich verändernde Gesellschaft das Leben von Menschen mit Downsyndrom verändert hat.

Es erfasst jedoch keineswegs das gesamte Spektrum von Erfahrungen, vor allem von Menschen, deren Behinderungen ernsterer Art sind und deren Familien weder über Geld noch Beziehungen verfügen. Jobs und College sind Leistungen, die gefeiert werden wollen – wie die Meilen­steine anderer Kinder auch –, aber ich frage mich doch immer wieder, warum wir so oft auf Leistungen als Beweis dafür verweisen müssen, dass auch das Leben von Menschen mit Downsyndrom von Bedeutung ist.

Ich hatte Grete Fält-Hansen gefragt, wie es denn gewesen sei, ihr Leben Eltern gegenüber zu öffnen, die sich zu entscheiden versuchen, was sie nach einer pränatalen Downsyndrom-Diagnose machen sollen. Für mich war das so, als würde ich fragen, wie es gewesen sei, ihr Leben dem Urteil dieser Eltern zu öffnen – und Leuten wie mir, einer Journalistin, die ihr dieselben Fragen stellt. Wie sie mir sagte, hatte sie sich zuerst tatsächlich Sorgen gemacht, die Leute könnten ihren Sohn nicht mögen. Aber sie verstehe jetzt, wie unterschiedlich die Umstände der einzelnen Familien sein können, wie schwierig ihre Entscheidung sein kann. «Es macht mich traurig, wenn ich an schwangere Frauen und künftige Väter denke, die sich vor diese Entscheidung gestellt sehen. Es ist fast unmöglich», sagte sie. «Deshalb urteile ich auch nicht.»

Karl Emil war während unseres auf Englisch geführten Gesprächs langweilig geworden. Er zupfte an Gretes Haar und lächelte verlegen, um uns daran zu erinnern, dass er auch noch da – und dass der Gegenstand unserer Unterhaltung sehr real und sehr menschlich war.

Zur Debatte: Welche Erfahrungen haben Sie mit vorgeburtlichen Tests gemacht?

Haben Sie Bekannte, Angehörige, Freunde, die eine bestimmte Unter­suchung haben durchführen lassen? Oder standen Sie als werdende Eltern selber einmal vor der Entscheidung? Warum haben Sie sich dafür oder dagegen entschieden? Was hat das Testergebnis bei Ihnen ausgelöst? Vielleicht beschäftigen Sie sich als Ärztin, Forscher, Hebamme, Jurist beruflich mit Pränatal­diagnostik? Wie gehen Sie mit Ihrem Fachwissen um? Welche Heraus­forderungen stellen sich Ihnen dabei in Ihrem Alltag? Hier geht es zur Debatte.

Zur Autorin

Sarah Zhang ist Redaktorin beim US-Monats­magazin «Atlantic». Der Beitrag erschien erstmals unter dem Titel «The Last Children of Down Syndrome» im Dezember 2020.

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