Am Klavier und am Mikrofon: Tomas Bächli (Bild), Regie und Aufnahme: Dietrich Petzold.

Am Klavier

Abgesang auf die Wiener Walzerseligkeit

Charles Ives: «Waltz-Rondo»

Musik mit radikaldemokratischem Anspruch.

Von Tomas Bächli (Podcast) und Maximilian Virgili (Bilder), 24.12.2020

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Abgesang auf die Wiener Walzerseligkeit
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«The Masses are singing / Whence comes the Art of the World»: So lautet eine Zeile des Lieds «Majority» von Charles Ives. Der Text stammt vom Komponisten selbst. Die Botschaft: Die Kunst ist entstanden, weil die Menschen singen, und zwar in Massen.

Charles Edward Ives (1874–1954) ist der Begründer der experimentellen musikalischen Tradition in Amerika. Er wollte sich nicht damit begnügen, das Bildungs­bürgertum zu unterhalten, er wollte in seiner Musik die ganze Gesellschaft abbilden. Ives war Sohn eines Band­leaders und studierte Komposition in Yale, doch er empfand zunehmend Distanz zur Musik des akademischen Betriebs. Er wurde daher Unter­nehmer: Mit seinen Versicherungen war er so erfolgreich, dass sein musikalisches Schaffen von der Notwendigkeit befreit war, damit Geld zu verdienen.

Ives hat seinen radikal­demokratischen Anspruch umgesetzt: In seinen Kompositionen hört man das Amerika des frühen 20. Jahr­hunderts. In seine Musik integriert er die Klänge seiner Umwelt: Avant­garde, Populär­kultur, sentimentale kirchliche Hymnen, Ragtimes.

Und nicht nur das: Ives komponierte gewisser­massen auch die Aufführungs­praxis mit ein – die Umstände, in denen Musik gespielt und gehört wird. Ihn interessierte etwa, dass die Bauern, die die amerikanischen Hymnen im Chor sangen, sich nicht genau an den Noten­text hielten. Ives hörte den unterschiedlichen Versionen aufmerksam zu: Was für andere einfach nur falsch klang, war für ihn eine aufregende Variante und Inspiration für sein eigenes Komponieren.

Im dritten seiner Viertelton­stücke für zwei Klaviere hat er eine solche Hörerfahrung verarbeitet. In anderen Kompositionen wird die Musik durch Umwelt­geräusche unter­brochen, und gelegentlich hören wir verschiedene Musiken, die sich überlagern.

Das alles ist von beträchtlichem Unterhaltungs­wert – und doch sollte uns die Collage­technik nicht dazu verleiten, diese Musik nur ironisch wahrzunehmen. Ives beobachtet seine akustische Umwelt, ohne sie zu bewerten. Seine Hör­haltung ist auch ein politisches Statement.

Charles Ives hat 1911 in seinem Text «The Side Show» einen seinerzeit populären Gassen­hauer zitiert – und das Ganze dann in ein «hinkendes» Waltz-Rondo für Klavier überführt.

The Side Show

«Is that Mister Riley,
who keeps the hotel?»
is the tune that accomp’nies
the trotting-track bell;
an old horse unsound,
turns the merry-go-round,
making poor Mister Riley
look a bit like a Russian dance,
some speak of so highly,
as they do of Riley!

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