Tamedia Papers – Kapitel 7

Die Macht der Berater bei der TX Group – und was in Zürich gilt, gilt auch in der Westschweiz.

Die Powerpoint-Versessenheit

Zahlen, Bulletpoints, Sparmöglichkeiten: Was einst vielfältige Zeitungsverlage waren, wurde in zwei Fabriken umgebaut, in denen Content produziert wird. Was in Zürich funktionierte, musste überall funktionieren. Ohne Widerrede. Und unter zwei dreistelligen Kürzeln: ppt und xls. Tamedia Papers, Kapitel 7.

Von Serge Michel (Text), Andreas Bredenfeld (Übersetzung) und Berto Martinez (Illustration), 16.12.2020

Erinnern Sie sich an «All the President’s Men» («Die Unbestechlichen»)? Jenen Film von 1976, in dem Robert Redford und Dustin Hoffman durch die Redaktionsräume der «Washington Post» flitzen, wie wild auf ihre Schreib­maschinen einhämmern? Oder mal verschämt, mal triumphierend im Büro des Chefredaktors stehen, der entscheidet, ob ihre Artikel in den Papierkorb oder in die Druckerei wandern – und die schliesslich die Watergate-Affäre aufdecken und damit Präsident Nixon zu Fall bringen?

Nun – diese romantische Vorstellung von Journalismus vergessen wir am besten. Mit dem führenden Schweizer Medienkonzern hat sie so wenig gemein wie ein mittelalterliches Ritterturnier mit einem Formel-1-Rennen.

Dies gilt vor allem für die Unternehmensführung des Konzerns, der seine strategischen Prioritäten in anderen Bereichen als den Redaktionen setzt und eine sehr spezielle Unternehmens­kultur pflegt. Trotz der ungünstigen Rahmen­bedingungen gelingt es den Tamedia-Journalistinnen allerdings, weiterhin ihre Arbeit zu tun und tagein, tagaus immer wieder gute Artikel und gelegentlich auch Scoops zu produzieren.

Vielleicht wegen dieser Qualität zollt Grégoire Nappey, ein ehemaliger Chefredaktor von «Le Matin», dem Konzern Anerkennung: «Eines muss man der Tamedia lassen: Sie weiss, wie man Talente entdeckt. Sie bildet sie aus und sorgt dafür, dass sie sich im Unternehmen entfalten können. Verleger Pietro Supino hat es möglich gemacht, dass sich der Datenjournalismus entwickeln und ein erstklassiges Recherchedesk entstehen konnte.»

Zur Serie: Tamedia-Papers – eine Familie, Geld, Macht und Medien

Wem gehört die Zeitung, die Sie morgens zum Kaffee lesen? Das Online­portal, das Sie in der Mittags­pause anklicken? Die Geschichte einer reichen und mächtigen Verleger­familie. Und was sie mit ihren Medien macht. Zum Auftakt der Serie.

Dass die Konzernstrategie sich von der Redaktions­arbeit ab- und den Online-Handels­plattformen zugewandt hat, haben wir bereits in mehreren Kapiteln dieser Serie thematisiert. Darüber hinaus: Wie lässt sich die spezielle Tamedia-Unternehmens­kultur beschreiben?

Zwei Stichwörter haben wir von den Dutzenden Gesprächspartnerinnen, die wir für diese Recherchen befragten, immer wieder zu hören bekommen: «deutsche Berater» und «Powerpoints» – jene Dokumente mit der Dateiendung «ppt», die man mit Microsofts Präsentations­software erstellt.

Die Firmenkultur in drei Buchstaben

Das vielleicht härteste Urteil fällt Eric Hoesli, ehemals publizistischer Direktor der Westschweizer Tamedia-Zeitungen: «[In diesem Konzern] gab es nur Powerpoints», sagt er. «Das ist verrückt. Ich habe einmal ausgerechnet, dass wir in einem Jahr genauso viele Powerpoint-Seiten produziert haben, wie der Konzern jeden Tag Zeitungsseiten bedruckt hat.»

Grégoire Nappey kann das bestätigen: «Tamedias Firmenkultur lässt sich in drei Buchstaben zusammenfassen: ppt.»

Doch was steht auf diesen Tausenden von Powerpoint-Seiten, die als E-Mail-Anhänge zwischen den Konzernlenkern zirkulieren und sich auch in den Unterlagen des Verwaltungsrates finden? Diesmal braucht es für die Antwort nicht drei, sondern fünf Buchstaben: alles. Bei Tamedia wird alles durch das Powerpoint-Sieb gedrückt: Organigramme, Zielvorgaben, Strategien, Budgets, Einsparungs­möglichkeiten, Sozialpläne, jede noch so kleine Kosten-Nutzen-Analyse in jedem x-beliebigen Bereich.

Kurzum: Es geht darum, die Ideen, die der Präsident des Verwaltungsrates in eleganten Worten in Geschäftsberichten darlegt zu Bulletpoints zu verarbeiten – wie das folgende Beispiel aus dem Geschäftsbericht 2017: «In den vergangenen Monaten [haben wir] unter dem Arbeitstitel ‹Karriereperspektiven für Journalisten› ein Konzept entwickelt, das die bisherigen Karrierepfade um eine Expertenlaufbahn erweitert. Damit möchten wir die Kompetenz­entwicklung und die digitale Transformation auf unseren Redaktionen beschleunigen sowie den Know-how-Transfer in der Gruppe verbessern.»

Der amerikanische Professor Edward Tufte, ein erklärter Powerpoint-Gegner, konnte nach dem Absturz der Weltraumfähre Columbia im Jahr 2003 die Untersuchungs­kommission davon überzeugen, dass das Programm von Microsoft für die verheerende Katastrophe mitverantwortlich war – weil dessen Systematik mit ihren verschiedenen Gliederungs­ebenen in der Kommunikation mit den Ingenieuren offenbar so viel Verwirrung gestiftet hatte, dass die Gefahren für Leib und Leben der Crew nicht erkannt wurden.

Sofort profitabel oder chancenlos

Bei Tamedia geht es zum Glück nicht um Leben und Tod – ausser für die eine oder andere Zeitung des Konzerns. Grégoire Nappey beschreibt die Tamedia-Unternehmens­kultur noch mit drei weiteren Buchstaben: xls. So lautet die Dateiendung beim Tabellen­kalkulations-Tool Excel, einem weiteren Produkt von Microsoft. Beide Software­programme werden bei Tamedia vor allem dafür benutzt, um die Geldströme zu regeln.

«Jedes Projekt muss schon profitabel sein, bevor es überhaupt existiert», sagt der frühere «Le Matin»-Chefredaktor. «Man erhält vollgepackte ppt-Dateien mit 150 Folien und Excel-Dateien, in denen alles bis ins allerkleinste Detail ausgerechnet wird. Man geht keine Risiken ein: Lieber kauft man für teures Geld funktionierende Fremdunternehmen, als zu investieren und sich selbst weiterzuentwickeln. Ein gutes Beispiel ist der Werbevermarkter Goldbach: Das war ein Meisterstück und ein strategischer Drahtseilakt, aber es ist nicht gelungen, so etwas von innen heraus zu entwickeln.» Ebenso könne man sich fragen, warum aus Doodle, einem Terminplanungs-Tool, das Tamedia 2011 zu 49 Prozent und 2014 zu 100 Prozent übernommen hat, kein globaler Gigant wurde: «Die Antwort liegt meines Erachtens in der Unternehmenskultur.»

Auf Goldbach kommen wir in einem weiteren Kapitel dieser Serie zurück.

Ähnlich äussert sich ein Deutschschweizer Ex-Mitarbeiter, der lieber anonym bleiben möchte: «Jeder Vorschlag, den ich unterbreitete, musste vom ersten Tag an profitabel sein. Risiken ging man nicht ein. Investitionen wurden nicht genehmigt.»

Mithilfe von ppt und xls wird das unternehmerische Denken des TX-Group-Präsidenten Supino also wohlgeordnet und mit System von oben nach unten weitergereicht. Das Ganze hat allerdings einen Haken: Dieses standardisierte Denken nimmt keine Rücksicht auf regionale publizistische Gegebenheiten.

Was in Zürich funktioniert, gilt

Pierre Ruetschi, aufmüpfiger Chefredaktor der «Tribune de Genève», der sich 2018 weigerte, eine Liste der Streikenden in seiner Redaktion an die Leitung des Konzerns zu übermitteln und dafür mit seinem Posten bezahlte, drückt es so aus: «Die Art und Weise der Entscheidungs­findung ist verwirrend. Alles läuft vertikal, und alles kommt aus Zürich. Früher gab es eine echte Direktion in Lausanne. Heute ist Lausanne eine Zweigstelle von Zürich und Genf eine Zweigstelle von Lausanne. Wenn ich ein Problem ansprach, bekam ich zur Antwort, dass bei kleineren Medientiteln in Winterthur oder in anderen Regionen alles bestens laufe. Dass Genf die zweitgrösste Stadt der Schweiz ist und eine internationale noch dazu, spielte keine Rolle.»

Ein weiterer ehemaliger Chefredaktor, der nicht genannt werden will, sagt: «Ich habe erlebt, wie man beim ‹Tages-Anzeiger› Dinge erprobt und das, was sich dort bewährte, überallhin exportiert hat. Manchmal nahm das absurde Züge an: Innovationen, die wir in der Westschweiz schon eingeführt hatten, wurden weggewischt mit den Worten: ‹Nein, so macht man das nicht.› Dann wurde genau das Gleiche beim ‹Tages-Anzeiger› mit Erfolg ausprobiert, und man forderte uns auf, es auch in der Romandie einzuführen. Das bedeutete jeweils zwei oder drei verlorene Jahre.»

So zum Beispiel 2011, als die Edipresse von Tamedia übernommen wurde: Die Westschweizer Redaktionen waren damals schon dazu übergegangen, Artikel sowohl für die Printversion als auch für die Online­ausgabe des jeweiligen Mediums aufzubereiten, während beim «Tages-Anzeiger» die Redaktionen noch strikt getrennt waren und erst einige Jahre später vereint wurden.

«Meiner Meinung nach liefert das Verhalten des Konzerns in der Romandie die Erklärung, warum er nicht imstande ist, ins Ausland zu expandieren. Er hat Mühe, sich auf Erfahrungen oder Situationen einzustellen, die anders sind als die eigenen», sagt Eric Hoesli, der das Vorgehen der Tamedia nach der Übernahme von Edipresse aus nächster Nähe erlebte.

Und wo dies auf Widerstände traf, rief man die Kavallerie zu Hilfe – sprich: die Berater.

Die rechnenden Berater

«Tamedia gibt Millionen für Berater aus [die genauen Zahlen tauchen in den Jahres­abschlüssen nicht auf]. Zudem gibt es eine inzestuöse Beziehung zwischen den Beratern und den für Forschung und Entwicklung zuständigen Mitarbeitern, und wenn sie sich zusammentun, dient dies im Wesentlichen der Powerpoint-Produktion», sagt Grégoire Nappey, der frühere «Le Matin»-Chefredaktor. «Ich habe Leute von Richard Consulting aus Hamburg gesehen, die sich mit dem Westschweizer Markt nicht auskannten und mir erklären wollten, wie man ‹Le Matin› zu führen hat, und die über das Schicksal der Zeitung entschieden. In die Westschweiz kamen sie nur ein einziges Mal – zum Skifahren. Rechnen können sie, keine Frage. Aber von den Gegebenheiten vor Ort und vom Journalismus haben sie keine Ahnung.»

Richard Consulting wollte keine Fragen beantworten.

Eric Hoesli hat andere Erfahrungen gemacht, er findet noch deutlichere Worte: «Andauernd kreuzten diese deutschen Berater auf, die kein Wort Französisch sprachen. Sie waren das Sinnbild des permanenten Kontroll­bedürfnisses der Zürcher Konzernleitung. Ständig musste alles per ppt kommuniziert werden, für redaktionelles Denken blieb kein Platz.» Laut einer Journalistin der «Tribune de Genève», die anonym bleiben möchte, tauchten diese Berater eines Tages in der Redaktion auf, setzten allen eine oder mehrere Powerpoints vor und sassen im Anschluss zwei Wochen in einer Ecke, ohne dass man wusste, was sie machten.

Ein waschechtes Beraterprojekt waren die «Mantel­redaktionen», die Ende 2016 unter dem Titel «Projekt 2020» auf den Weg gebracht wurden.

Das «Pullover-Bootcamp»

Im Geschäftsbericht 2017 beschrieb Verleger Pietro Supino diese Vision mit wohlklingenden Worten: «Im sogenannten Projekt 2020 beantworteten die Chef­redaktoren und Verlagsleiter sämtlicher Zeitungen zusammen mit weiteren Schlüssel­personen die Frage, wie wir uns aufstellen müssen, um weiterhin guten Journalismus leisten zu können, wenn die Einnahmen aufgrund des anhaltenden Trends auf absehbare Zeit um einen Drittel zurückgehen würden. (…) mehr als 30 Kolleginnen und Kollegen aus allen Bereichen des Unternehmens [entwickelten] Ideen, Lösungs­ansätze und Umsetzungs­pläne. Im August 2017 konnte das Konzept verabschiedet werden. In den folgenden Wochen wurde es verfeinert, und ab dem 8. Januar 2018 hat die Umsetzung begonnen. Seither sind die Kompetenzen in den Bereichen nationale und internationale Politik, Wirtschaft, Wissen, Kultur, Gesellschaft und Sport sowie das Recherchedesk unternehmensweit in den beiden neuen Redaktionen Tamedia in der deutschen Schweiz und in der Suisse romande zusammengefasst.»

Die «Ideenentwicklung» durch die 30 Kolleginnen und Kollegen stellt sich etwas anders dar, wenn Grégoire Nappey davon erzählt, der damals dabei war: «Im Januar 2017 wurden wir zu einem ‹Bootcamp› nach Zürich geladen. Alle Beteiligten einschliesslich Pietro Supino mussten statt Jackett einen Pullover tragen. Ziel war, uns in ‹Design Thinking› zu bilden, also im Denken in grossen Massstäben und in der Projekt­konzeption nach der Methode des kalifornischen Unternehmens Matter, das auf Kreativität und Intuition setzt. Das machten wir drei Tage lang, und am Ende kam eine Liste von Spar­massnahmen heraus. Es war unglaublich. Was folgte – das Aus für «Le Matin», die Zusammen­legung von lematin.ch und 20minutes.ch –, resultierte alles aus diesem Pullover-Bootcamp.»

Pierre Ruetschi überrascht das nicht: «Sie sind Meister des Kürzens. Die maximale Profitabilität ist eine Dauer­obsession. Dafür haben sie einen Riecher, ein einzigartiges Gespür. Nehmen wir als Beispiel die Pandemie, von der die ganze Presse in Mitleidenschaft gezogen wird. Tamedia reagierte am schnellsten und hat seine Teams in grossem Stil in Kurzarbeit geschickt.» Diesen Umstand hoben mehrere unserer Gesprächspartner hervor.

Journalismus aus zwei Fabriken

Der ehemalige Chefredaktor der «Tribune de Genève» betrachtet das Ganze mit einer Mischung aus Bitterkeit und nüchterner Analyse. «Wie absurd es ist, alles rigoros auf die Romandie zu übertragen, zeigte sich an den ‹Mantel­redaktionen›», sagt Ruetschi. «In der Deutsch­schweiz mussten rund zehn Medientitel ‹synergetisiert› werden. Bei uns dagegen waren es nur drei, darunter eine Sonntagszeitung [‹Le Matin Dimanche›]. Das Sparpotenzial war also mehr oder weniger gleich null, weil die Synergie­möglichkeiten zwischen ‹24 Heures› und ‹Tribune de Genève› mit Ausnahme der Lokalnachrichten und der Kultur schon ausgeschöpft waren. Trotzdem wurde die Tamedia-Redaktion Westschweiz geschaffen, was für Genf ein Riesenverlust ist.»

Unter diesen Rahmenbedingungen hat selbst der Begriff «Pressetitel» keine grosse Bedeutung mehr. «Ein Medientitel, eine Redaktion, eine Stadt oder eine Region, eine Leserschaft: Das ist aus und vorbei», sagt Pierre Ruetschi. «In Zukunft gibt es nur noch zwei grosse Fabriken, die Inhalte produzieren: eine in Lausanne, eine in Zürich.»

Bei aller Bitterkeit hat Ruetschi den Humor noch nicht ganz verloren: «Letzten Endes», so sein Fazit, «hat es auch seine Vorteile, wenn der eigene Verlagschef in Zürich sitzt: Er liest nicht, was man schreibt. Das lässt einem ein beträchtliches Mass an redaktioneller Freiheit.»

Tamedia Papers

Kapitel 2

Die Eroberung der West­schweiz

Kapitel 3

Der Aufstieg

Kapitel 4

Die Rache des Pietro Supino

Kapitel 5

Strahlende Zukunft

Kapitel 6

Zwischen Handel und Hochfinanz

Sie lesen: Kapitel 7

Die Powerpoint-Ver­ses­sen­heit

Kapitel 8

Die Wucht der Dampfwalze

Kapitel 9

Die politische Macht

Kapitel 10

Wunderkind «20 Minuten»

Kapitel 11

Goldgrube Goldbach

Kapitel 12

Profit mit Ihre Daten

Anhang

Die offenen Fragen