Tamedia Papers – Kapitel 3

Der Aufstieg

Die Geschichte der heutigen TX Group beginnt 1893 mit dem «Tages-Anzeiger». Gerade mal drei Verleger später ist der Verlag zum mächtigsten Schweizer Medienkonzern aufgestiegen, der seine Besitzer mit dem Börsengang noch reicher machte – und wohl einige Mitarbeiter ärmer. Tamedia Papers, Kapitel 3.

Von Marc Guéniat (Text) und Andreas Bredenfeld (Übersetzung), 11.12.2020

«Was wir wollen.» Mit diesen drei verblüffend einfachen Worten, gedruckt in Fraktur­lettern, begann am 2. März 1893 die Saga des «Tages-Anzeigers für Stadt und Kanton Zürich». Die drei Worte bildeten die Überschrift des Leit­artikels auf der ersten Titel­seite der Zeitung, die Wilhelm Girardet an diesem Tag aus der Taufe hob.

Wilhelm Girardet war Deutscher und hatte in Essen, wo er sich 1865 nieder­gelassen hatte, bereits Zeitschriften und Zeitungen herausgegeben. Als er 470 Kilo­meter weiter südlich in Zürich seine Firma gründete, investierte er im grossen Stil, baute eine eigene Druckerei und stellte 15 Beschäftigte ein.

Die freiheitlich gesinnte Stadt war damals gerade dabei, sich als wichtigster Finanz­platz der Schweiz zu etablieren, und befand sich in einem industriellen Aufschwung: Elektrifizierung, Telefonie und Eisenbahn entwickelten sich in atemberaubend rasantem Tempo. Diese Umwälzungen führten aber auch zu sozialem Unfrieden zwischen Bürgertum und Arbeitergewerkschaften.

In diesen bewegten Zeiten verstand der «Tages-Anzeiger» sich als «neutral, ohne Bindung an eine politische Partei». Und es sollte ihm gelingen, diesem Selbst­verständnis gerecht zu werden. Die Zeitung startete mit sechzehn Seiten und einer Auflage von 40’000 Exemplaren und überlebte alle anderen 41 Zeitungen, die damals im Kanton erschienen und eine nach der anderen in der Versenkung verschwanden.

Zur Serie: Tamedia Papers – eine Familie, Geld, Macht und Medien

Wem gehört die Zeitung, die Sie morgens zum Kaffee lesen? Das Online­portal, das Sie in der Mittags­pause anklicken? Die Geschichte einer reichen und mächtigen Verleger­familie. Und was sie mit ihren Medien macht. Zum Auftakt der Serie.

Was war das Erfolgsgeheimnis des «Tages-Anzeigers»? Er erschien sechsmal in der Woche; das Monats­abonnement kostete 50 Rappen. Vor allem die Idee, eine Zeitung zu gründen, die für sich in Anspruch nahm, unpolitisch zu sein, war zur damaligen Zeit ein Novum.

Zwölf Jahre später verheiratete Wilhelm Girardet seine Tochter Bertha mit dem deutschen Bergbau­ingenieur Otto Coninx, der einer Industriellen­familie im Ruhrgebiet entstammte. Im Jahr darauf, 1906, legte Girardet die Leitung der Zeitung in die Hände seines 34-jährigen Schwiegersohns.

Damit bewies Girardet einen guten Riecher, denn die Familie Coninx, erfüllt von einem ausser­gewöhnlichen Dynastie­bewusstsein, führte in der Folge die Geschäfte des Vorzeige­unternehmens mit unglaublicher Beständigkeit.

Bis heute standen an der Spitze der Firma, deren dominierende Stellung in der Schweizer Medien­landschaft heute erdrückende Ausmasse annimmt, nacheinander nur vier Verlagschefs, die alle demselben Familien­zweig entstammten.

Verleger Nr. 1: Otto Coninx-Girardet, der Steuermann

Schwiegersohn Otto Coninx-Girardet führte fünfzig Jahre lang das Regiment und steuerte das Unternehmen durch zwei Weltkriege. Im Zweiten Weltkrieg durchbrach die Zeitung die magische Grenze von 100’000 Abonnenten. Otto Coninx-Girardet wandelte das Unternehmen in eine Aktien­gesellschaft um und vollzog die erste Übernahme: 1933 kaufte er die «Schweizer Familie».

In den hochgradig politisierten 1930er-Jahren schlug im «Tages-Anzeiger» die Stunde seiner berühmtesten Gastautoren: Benito Mussolini, Herbert Hoover, Winston Churchill und – Adolf Hitler.

13 Monate vor seiner Ernennung zum Reichskanzler veröffentlichte der spätere «Führer» einen Leitartikel, dessen Titel unglücklich gewählt erscheint, weil er an die Gründungs­worte der Zeitung erinnerte: «Was wollen wir National­sozialisten?» Fast ein Jahrhundert später griff die Redaktion diese Episode auf und widmete ihr 2018 und 2019 eine Artikelserie.

Nach Otto Coninx-Girardets Tod übernahm 1956 sein Sohn das Ruder. Er trug denselben Vornamen wie der Vater, führte aber einen feudaleren Stil ein.

Mit rechteckiger Brille und im perfekt sitzenden Anzug führte Otto Coninx-Wettstein den «Tages-Anzeiger» durch die ausgesprochen prosperierenden Zeiten der Schweizer Presse – von deren glorreichen Dreissiger­jahren bis zu den ersten Fusionen und Übernahmen der 1980er-Jahre.

Verleger Nr. 2: Otto Coninx-Wettstein, der Patriarch

In den 1970er-Jahren erreichte die Zeitung eine Auflage von 250’000 Exemplaren. Wie die gesamte Schweizer Presse lebte das Familien­unternehmen vom doppelten Monopol auf Information und auf Klein­inserate. Dank des «Werbe-Eldorado», von dem der Historiker Alain Clavien in seinem Buch «La presse romande» schreibt, brach ein goldenes Zeitalter an. Damals machte die Werbung bis zu 80 Prozent der Einnahmen der Zeitungen aus – heute ist es kaum mehr ein Drittel.

Wer das Jubiläumsbuch «Medien zwischen Geld und Geist» liest, das die ersten einhundert Jahre der Unternehmens­geschichte Revue passieren lässt, gewinnt vom dritten Verlagschef den Eindruck eines echten Patriarchen.

Als Otto Coninx-Wettstein 1978 seinen Chefposten räumte und nur noch den Vorsitz im Verwaltungsrat behielt, lud er zum Abschied 1100 Mitarbeiter zu einer Schiffstour zwischen Neapel und Genua ein. Zehn Flüge wurden für den hohen Anlass gechartert. Zum Auftakt des Galadiners wurde an Bord des Passagier­dampfers SS Britanis russischer Kaviar gereicht. Stattliche acht Orchester spielten auf, während das Schiff Kurs auf Genua nahm. Das war die Familie dem Mann, der sie so reich gemacht hatte, schuldig.

Sein Prestige stand im proportionalen Verhältnis zu seiner Allmacht. In dem erwähnten Jubiläums­buch sagt sein Neffe Severin Coninx über ihn: «Die anderen Verwaltungsrats­mitglieder nach ihrer Meinung zu fragen, wäre ihm nicht in den Sinn gekommen.» Otto Coninx-Wettstein bestätigte diese Aussage einige Jahre später: «Die Entscheidungen habe immer ich getroffen, und das muss dem Verwaltungsrat klar sein.»

Dementsprechend traf Otto der Zweite auch im Alleingang eine Entschei­dung, die der Redaktion des «Tages-Anzeiger-Magazins» (des Vorfahren von «Das Magazin», kurz TAM genannt), das wegen ausführlicher Reportagen geschätzt wurde, noch lange prägend in Erinnerung bleiben sollte: Im Spätsommer 1976 erteilte er Niklaus Meienberg, einer Instanz des Schweizer Journalismus, Schreib­verbot, ausgedrückt nur in einem Wort: «Fertig!»

Im August 1976 hatte der Journalist sich der Majestäts­beleidigung schuldig gemacht, als er zum 70. Geburtstag des liechtensteinischen Prinzen Franz Joseph II. im «Magazin» ein Pamphlet über die Aristokratie des Fürstentums veröffentlicht hatte: «Einen schön durchlauchten Geburtstag für S. Durchlaucht!»

Schon der erste Absatz gab den Ton vor: «Manche sind in diesem Alter etwas tattrig, andre etwas flattrig. Der Fürst von Liechtenstein jedoch, in bemerkenswerter geistiger Frische und umgeben von seinen Kunst­schätzen und auch seinem Volk, ist beneidenswert gut erhalten. (…) Der Fürst blieb im Zustand von 1938 erhalten wie tiefgefroren, Schnauz, Lächeln, Ehefrau: Alles ist noch da.»

Zuvor hatte Niklaus Meienberg rund dreissig engagierte und packende Reportagen geschrieben – zum Beispiel über den General Ulrich Wille oder über Ernst S., der 1942 als «Vaterlands­verräter» hingerichtet wurde.

Der Rauswurf des Journalisten rief harsche Kritik hervor und wurde sogar von einem freisinnigen Regierungsrat beklagt, nachdem die Redaktion sich seit den Ereignissen vom Mai 1968 eindeutig im linken politischen Spektrum positionierte.

Peter Frey, ein Redaktor des «Tages-Anzeiger-Magazins», ging sogar so weit, Otto Coninx-Wettstein mit Ludwig XVI. zu vergleichen: «Ein wenig liberal, ein wenig absolutistisch.» Den Patriarchen focht das nicht an: Noch 17 Jahre später bezeichnete er Meienbergs Journalismus als «pseudo-historisch» und «süffig».

Was hatte so viel Groll hervorgerufen? Die Antwort: Meienberg hatte sich mit seinem durch und durch ironischen Pamphlet implizit an der Verleger­familie vergriffen und dadurch den Zorn des Patriarchen auf sich gezogen.

In einer Sammlung später veröffentlichter Reportagen schickte Meienberg dem schicksalhaften Artikel ein erläuterndes Postskriptum hinterher: «Da die Schwester des Verlegers Coninx (Irmgard Ellermann-Coninx, d. Red.) in Vaduz wohnt und periodisch zum Thee ins Schloss (des Fürsten; d. Red.) geladen wird, aber nicht mehr nach diesem Artikel (…).»

Das vertraute Verhältnis zwischen der Familie Coninx und dem Adel im Fürstentum hat bis heute Bestand. Die Erbin Antje Landshoff-Ellermann war bis 2016 Präsidentin des dortigen PEN-Clubs, der Schriftsteller unterstützt und dem auch Prinz Stefan von und zu Liechtenstein angehört, ausser­ordentlicher und bevollmächtigter Botschafter beim Heiligen Stuhl – es geht also seriös zu.

Die Verbannung des brillanten Meienberg war nicht die einzige Absolutismus­bekundung des Otto Coninx-Wettstein. Bereits zwei Jahre zuvor, 1974, hatte er rot gesehen, als sein Sohn Hans Heinrich sich zum vierten Mal scheiden liess, und entzog ihm alle Zuständigkeiten im Familienkonzern.

Der Zustand der Ungnade währte vier Jahre und wurde nur teilweise aufgehoben. Hans Heinrich Coninx musste sich damit begnügen, Teil einer vierköpfigen Direktion zu sein. Der umgängliche Mann, ein «Vorbild in Sachen gutes Benehmen», wie jemand aus seinem nahen Umfeld sagt, musste sich gedulden, bis sein Vater 1987 endgültig in den Ruhestand ging – erst dann konnte er den Vorsitz im Verwaltungsrat übernehmen.

«Man hat nicht gedacht, dass er den Laden einmal übernehmen wird», sagte der langjährige Tagi-Redaktor Hans Kurt Studer, der im Buch zum 100-Jahr-Jubiläum zitiert wird. Auch Hans Heinrich gestand seine Verwunderung: «Zu meiner grossen Überraschung trug er mir die Nachfolge an.»

Verleger Nr. 3: Hans Heinrich Coninx, der Fliegenträger

Zu diesem Zeitpunkt vermeldete der TA-Konzern mit seinen zehn Presse­titeln einen Umsatz von 510 Millionen Franken und beschäftigte 2100 Mitarbeitende. Die 1980er-Jahre waren eine glanzvolle Dekade: Zwischen 1982 und 1987 verdoppelten sich die Einnahmen. Der Kuchen wurde also immer grösser, liess sich aber immer schwerer aufteilen, weil auch die Familie wuchs. Zu den drei Angehörigen der dritten Generation hatten sich inzwischen neun Kinder gesellt. An der Einführung von Familien­konferenzen führte kein Weg mehr vorbei.

Eines der Kinder probte den Aufstand: der Arzt Severin Coninx. Auch wenn er regelmässig überstimmt wurde, äusserte er seine abweichenden Meinungen. Er hielt zwar 18 Prozent der Konzern­anteile, zog sich aber 1991 aus dem Verwaltungsrat zurück, als die Unternehmens­leitung den allzu unabhängigen «Tages-Anzeiger»-Chefredaktor Viktor Schlumpf knallhart vor die Tür setzte und damit für viel Wirbel sorgte. In der NZZ erschien eine ganzseitige Anzeige zu den Vorgängen, unterzeichnet von National­rätinnen und Völker­rechtlern, Historikerinnen und Schrift­stellern. Die Anzeige trug den Titel: «Pressefreiheit in Gefahr».

Der Konzern konsolidierte sich indessen ebenso wie die Schweizer Presse insgesamt. 1982 übernahm er die Frauen­zeitschrift «Annabelle» und das «Tagblatt der Stadt Zürich». Zudem zog er lukrative Druck­aufträge an Land. Kurz danach kaufte die Tamedia in einem Spannungs­feld, das schon einen Vorge­schmack auf den späteren Krieg der Gratis­zeitungen zu Beginn des 21. Jahr­hunderts vermittelt, den kostenlos verteilten «Züri Leu» auf. Mit Geld wollte sie den grössten Konkurrenten des «Tagblatts» ausschalten. Auch diesmal meldete sich die NZZ zu Wort und empörte sich am 28. April 1982 über einen «kannibalischen Vorgang» in der Presselandschaft.

Die Sache endete im Debakel. Denn das Team hinter dem «Züri Leu» gab nicht auf, sondern gründete mit der Unterstützung des Autoimporteurs Walter Frey innert weniger Wochen mit der «Züri Woche» ein fast identisches Blatt. Tamedia hatte vergeblich Geld versenkt.

Trotz dieses Fehlschlags ging es mit Volldampf weiter. 1986 und 1987 führte Hans Heinrich Coninx den Konzern in einen Krieg der Sonntags­zeitungen, aus dem er als Sieger hervorging. Die beiden Kontrahenten waren der «Tages-Anzeiger» und die «Berner Zeitung». Die BZ wurde damals vom Anwalt Charles von Graffenried im Auftrag der überaus wohl­habenden Berner Familie Reinhardt-Scherz geleitet, die ihr Vermögen mit Papier­herstellung verdient hatte.

Beide Verlage brachten jeweils eine eigene Sonntags­zeitung an den Start, aber der «Tages-Anzeiger» machte mit der «SonntagsZeitung» das Rennen. In Wahrheit war es allerdings nur ein Teilsieg: Allem Anschein nach wusste Charles von Graffenried, als er sich auf das Wagnis einliess, ganz genau, dass der Markt für zwei neue Titel zu klein war. Er verhandelte, und als 1987 der Waffen­stillstand unterzeichnet wurde, bekam er 15 Prozent Anteile der «SonntagsZeitung». Von Graffenried – der Einzige, der nicht zur Familie Coninx gehörte und fortan doch untrennbar mit ihr verbunden bleiben sollte – wird uns noch beschäftigen.

Feindliche Übernahme

Die Waffenruhe währte nicht lange. Als Charles von Graffenried an einem Februarmorgen im Jahr 1990 in seinem Wengener Chalet auf Urlaub weilte, läutete das Telefon. Ein ranghoher Verantwortlicher des «Tages-Anzeiger» bat dringend um ein Treffen. Tags darauf verkündete er ihm, dass der TA im Stillen 61 Prozent des Kapitals der «Berner Zeitung» erworben hatte. Charles von Graffenried war entsetzt, wie Martin Haslebacher in seinem Buch über die Geschichte des Berner Blattes berichtet.

Die Protagonisten dieser feindlichen Übernahme hatten allerdings wohl eine Kleinigkeit übersehen: Für den Fall, dass einer der Aktionäre seine Beteiligung veräussern wollte, hatte Charles von Graffenried ein Vorkaufsrecht. Dieses Detail machte den Zürchern einen Strich durch die Rechnung und brachte ihre Operation zum Scheitern. Die Botschaft war gleichwohl eindeutig: Der «Tages-Anzeiger» rüstete zur territorialen Expansion und strebte weit über sein angestammtes Zürcher Revier hinaus.

Charles von Graffenried verstand die Botschaft. Er vermied es, die Familie Coninx zu demütigen, und trat ihr 49 Prozent der BZ ab. Die Allianz schuf die Möglichkeit für Synergien auf dem Werbemarkt und eröffnete Charles von Graffenried 1991 den Weg in den Verwaltungsrat des «Tages-Anzeiger».

Der 66-jährige Rechtsanwalt, Bankier und Verleger aus Bern war 1991 nicht der einzige Neuzugang im Verwaltungsrat. Auf einem der Leder­sessel im obersten Stockwerk in der Werdstrasse nahm in demselben Jahr ein um 40 Jahre jüngerer Mann Platz. Ein Jurist, der noch viel von sich reden machen sollte und auf den wir noch ausführlich zurück­kommen werden: Pietro Supino. Auch wenn sein italienischer Familien­name es nicht vermuten lässt, ist er der Grossneffe des Patriarchen Otto Coninx-Wettstein.

Geist? Eher Geld

Die Geschäftszahlen blieben exzellent. 1989, das Jahr des Berliner Mauerfalls, wurde für den «Tages-Anzeiger» zum Rekordjahr, wie im Buch «Medien zwischen Geld und Geist» vorgerechnet wird: Mit über 10’000 Seiten allein beim «Stellen-Anzeiger», dazu kamen fast 14’000 Seiten kommerzielle Inserate­seiten. Zum Titel der Jubiläums­schrift sagt einer der Autoren, Werner Catrina, gegen­über Republik und Heidi.news: «Der Titel suggeriert, der Konzern stehe in der Mitte zwischen Geld und Geist, aber in erster Linie handelt die Geschichte von Geld.»

Besagtes Geld strömte in den 1990er-Jahren weiterhin reichlich in die Kassen des Unter­nehmens, das 1993 auf Anregung von Charles von Graffenried den Namen Tamedia erhielt (als Akronym für «Tages-Anzeiger Media»).

«Ich empfand mich als Glückskind», erinnert sich Michel Favre, CEO während der 1990er-Jahre. «60 Prozent der Gewinne wurden an die Familie ausgeschüttet, 40 Prozent wurden investiert.» Favre war auch derjenige, der am 2. Oktober 2000 den Börsen­gang des Konzerns über die Bühne brachte – auf Geheiss der Familie und unter Pietro Supinos Aufsicht, der damit seine erste wichtige Mission erfüllte. Euphorisiert von der Internet­blase glaubte man damals noch, die Presse würde zu den Profiteuren der technologischen Revolution gehören.

Als Emissionspreis der Tamedia-Aktie wurden 260 Franken festgelegt – nach Meinung des Finanz­chefs das «perfekte Pricing». Die Unternehmens­leitung ermunterte die Beschäftigten, sich Aktien zum Vorzugs­preis zuzulegen. Zigarren­liebhaber Michel Favre ging eine Wette ein, die das Wirtschafts­magazin «Bilanz» zu spöttischen Kommentaren veranlasste: Wenn der Kurs nicht binnen Jahresfrist 310 Franken erreiche, werde er mit dem Rauchen aufhören.

Ein Jahr später war der Kurs auf 82 Franken abgestürzt. Zwar erholte die Aktie sich in den folgenden Jahren wieder, aber den Emissions­kurs erreichte sie nie wieder auch nur annähernd. Favre hielt Wort und wurde Nichtraucher. «Zur grossen Freude meiner Frau», wie er heute witzelt.

Von dem Umstand, dass die Familie Coninx sich vor dem Börsen­gang mit einer Sonder­dividende von 250 Millionen Franken aus den Reserven des Unternehmens bediente, zeigte die Belegschaft sich mit Recht enttäuscht.

Zur Rechtfertigung sagte Favre gegenüber der WOZ: «Wir sind zwar nicht so spritzig wie eine Flasche Champagner, sondern eher vergleichbar mit einem feinen Weisswein, den man später einmal still geniessen kann.» Ein schwacher Trost für die Beschäftigten und besonders für die Arbeiter in den Druckereien, die sich Geld geliehen hatten, um Tamedia-Aktien zu kaufen.

Wenig später erwiesen Tamedias audiovisuelle Projekte sich als Schlag ins Wasser. Sein Fernsehsender TV3 stellte den Sende­betrieb nach nicht einmal zwei Jahren ein und strahlte als Abschieds­film am 22. Dezember 2001 den Streifen «Titanic» aus. Ebenfalls 2001 kaufte der Zürcher Konzern Radio 24 und TeleZüri. Im Rahmen dieser Transaktion übernahm Tamedia auch Tele 24 und machte es umgehend dicht. Finanziell entwickelte das Geschäft sich rasch zu einem Fass ohne Boden, verschlang neunstellige Beträge und belastete das Geschäfts­ergebnis so sehr, dass der Konzern 2003 erst­mals in seiner Geschichte auf die Ausschüttung einer Dividende verzichtete.

Als wahrer Wachstums­motor erwies sich das Kerngeschäft: die Presse. 2002 folgte auf Michel Favre als CEO der Deutsche Martin Kall, der vermehrt auf Übernahmen setzte.

Die Ära Martin Kall

Der CVP-Politiker und Kommunikations­berater Iwan Rickenbacher, der von 1996 bis 2018 dem Verwaltungsrat angehörte, erzählt: «Als ich anfing, gab es praktisch nur ‹Tages-Anzeiger›, ‹Annabelle› und ‹Schweizer Familie›. Dann ging alles sehr schnell.» Binnen sechs Jahren übernahm Martin Kall für dreistellige Millionen­beträge «20 Minuten» (2003), die Berner Espace Media Groupe (2007) und die West­schweizer Edipresse (2009).

Damit avancierte Tamedia zum führenden Presse­konzern der Schweiz. Heute beträgt sein Markt­anteil in der Romandie 69 Prozent und in der Deutsch­schweiz 42 Prozent.

Zur Chronologie der Schweizer Medienkonzentration

Von den ersten Fusionen am Ende des goldenen Zeitalters bis zur Corona-Krise: Die letzten drei Jahrzehnte im Überblick – regelmässig auf dem neuesten Stand.

Dieser unglaubliche Eroberungs­feldzug durch die Schweiz ging allerdings nicht ganz reibungslos über die Bühne.

Die Aktivitäten in Bern gerieten zu einer «blutigen» Angelegenheit. Die Übernahme der Espace Media Groupe, die insbesondere den «Bund» herausgab, führte zu einer Umstrukturierung, die als «Mai-Massaker» bekannt wurde. Im Frühjahr 2009 fielen den angestrebten Synergie­effekten 77 Stellen in Bern und Zürich zum Opfer.

«Für manche in der Branche war Kall wegen seiner Kompromiss­losigkeit eine Art Teufel in Menschen­gestalt. Doch er war ein brillanter Rechner und wusste, wie man Medien finanziert», sagt Markus Dütschler, Präsident der Personal­kommission beim «Bund».

Etwa um die gleiche Zeit entliess Edipresse in der Westschweiz 100 Beschäftigte, um sozusagen die Braut vor der Vermählung mit dem Zürcher Konzern etwas zu verschlanken. Mit diesen Übernahmen gingen auch die Druckereien in Bern und Lausanne sowie die Beteiligungen an Online-Werbe­unternehmen wie Jobcloud und Homegate, die sich in der Folge zu Wachstums­trägern entwickelten, in den Besitz von Tamedia über.

Martin Kall drückte dem Unternehmen als CEO so sehr seinen Stempel auf, dass sich die Übergabe des Verwaltungsrats­vorsitzes von Hans Heinrich Coninx an Pietro Supino im Mai 2007 fast unbemerkt vollzog.

Pietro Supino schaute sich erst einmal als Beobachter alles in Ruhe an, bevor er sich daranmachte, seine eigene Strategie festzulegen. Diese Strategie ist glasklar und wird in weiteren Episoden dieser Serie noch ausführlich thematisiert. Supino erkannte sehr schnell, dass die digitale Wende die Welt verändert und sich das Geschäfts­modell der Presse überlebt hat. Die Inserate laufen den Zeitungen davon – ebenso wie die Werbung, deren Markt erodiert. Hinzu kommt, dass die Leserinnen sich an die Gratis­kultur im Internet gewöhnen: Wer will schon für eine Information zahlen, die sich auch kostenlos abrufen lässt? Mit dieser komplexen Gleichung müssen sich alle Konkurrenten von Tamedia auseinandersetzen.

Um diese Gleichung zu lösen, setzt auch Pietro Supino auf Übernahmen und Investitionen im Digital­bereich. Diesmal hat er allerdings nicht in erster Linie die Presse im Blick, von der ausser ein paar versprengten Überresten nicht mehr viel bleibt. Tamedia kauft Online-Handels­plattformen wie Ricardo, Tutti.ch, Car for You und etliche weitere. Der Konkurrent Ringier fährt exakt dieselbe Strategie.

Der Tamedia-Konzern steckt in einem so tiefen Umbruch, dass Pietro Supino vor kurzem anlässlich der Umwandlung zur TX Group erklärte: «Der aktuelle Umsatz resultiert zu 80 Prozent aus Aktivitäten, in die wir erst nach der Jahrtausend­wende eingestiegen sind.»

Die «alte Tamedia» hat sich überlebt – und das ist Supinos Werk.

Tamedia Papers

Kapitel 2

Die Eroberung der West­schweiz

Sie lesen: Kapitel 3

Der Aufstieg

Kapitel 4

Die Rache des Pietro Supino

Kapitel 5

Strahlende Zukunft

Kapitel 6

Zwischen Handel und Hochfinanz

Kapitel 7

Die Powerpoint-Ver­ses­sen­heit

Kapitel 8

Die Wucht der Dampfwalze

Kapitel 9

Die politische Macht

Kapitel 10

Wunderkind «20 Minuten»

Kapitel 11

Goldgrube Goldbach

Kapitel 12

Profit mit Ihre Daten

Anhang

Die offenen Fragen