Sitzen gelassen

Der Hockeyspieler Eric Walsky knallt mit dem Kopf aufs Eis und bleibt reglos liegen. Der Unfall beendet seine Karriere. Doch dann sieht er sich mit einem neuen Gegner konfrontiert: seiner Versicherung. So geht es vielen Sportlerinnen.

Von Nina Fargahi (Text) und Anoush Abrar (Bilder), 04.11.2020

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Kämpft seit seinem Unfall um die Versicherungs­leistungen: Eric Walsky.

Stühle. Nach seinem Unfall fing Eric Walsky an, Stühle zu malen. Schwere, schwarze Stühle auf grossen Leinwänden. Er konnte nicht mehr liegen oder aufrecht gehen. Nur sitzen, das ging. Ohne zu lesen, ohne Musik zu hören, ohne zu sprechen. Nur sitzen.

Es geschah am Nachmittag des 20. November 2016. Walsky spielte als Stürmer im Team des Lausanne HC gegen den EHC Biel. Das Spiel lief gut; Lausanne lag drei Tore im Vorsprung. Im Publikum sass zum ersten Mal Walskys Sohn Finn, der damals neun Monate alt war. Doch dann flog der Puck in die Luft, und ehe es sich Walsky versah, rammte ihn ein Gegner derart stark, dass er mit dem Kopf aufs Eis schlug und bewusstlos liegen blieb.

Das Video der Liveübertragung zeigt in Zeitlupe, wie Träume zerbrechen.

Woher kommen die Aussetzer?

«Es gibt ein Vorher und ein Nachher», sagt Walsky, wenn er über den Unfall und die Gehirn­erschütterung spricht, die er beim Sturz erlitten hat. Der 36-Jährige sitzt auf dem Balkon seiner Wohnung in Montreux. Als die Sonne auf sein Gesicht scheint, schiebt er den Stuhl rasch in den Schatten. Gegenüber befindet sich ein altes Gebäude mit einem spitzen Turm. Sein Sohn Finn erzählt, dass in diesem Turm ein Drache wohne, der die Familie beschütze.

Einmal kletterte Finn übers Balkon­geländer. Sein Vater sass daneben, sah, wie sich sein damals zwei­jähriger Sohn in Gefahr begab – und hatte einen Aussetzer. Er reagierte nicht. Seine Frau, sagt Walsky, habe die Szene durch das Fenster beobachtet und sei heraus­gestürmt. In letzter Sekunde erwischte sie das Kind am Arm und zog es in Sicherheit.

Seit dem Unfall vor vier Jahren quälen Eric Walsky verschiedene Symptome. Manchmal sei es ein Schwindel, der morgens beginne und im Laufe des Tages stärker werde. Manchmal ein Augen­flimmern. Manchmal Schmerzen und Druck in den Ohren, manchmal ein Krampf im Nacken. Immer wieder habe er Aussetzer, so wie damals, als sein Sohn fast vom Balkon stürzte. Manchmal fühlten sich sein Kopf und sein Gesicht an, als seien sie «elektrisch aufgeladen», sogar die leichte Bise in den Haaren schmerze dann. «Nichts ist mehr so, wie es vor dem Unfall war», sagt Walsky.

Doch die Versicherung glaubt ihm nicht.

Die Symptome, so die Vaudoise, hätten keinen unmittelbaren und ursächlichen Zusammen­hang mit dem Unfall – sprich: Es fehle am adäquaten Kausal­zusammenhang. Ausserdem habe Walsky nach dem 20. November 2016 Versuche unternommen, sein Training fortzusetzen. Für die Versicherungs­gesellschaft ein Zeichen dafür, dass der Unfall keine Auswirkungen auf die Leistungs­fähigkeit des Spielers gehabt habe.

Walsky ist in Alaska aufgewachsen. Als Zehn­jähriger fing er an, mit den Nachbars­kindern auf dem See Eishockey zu spielen. «Sobald ich aufs Eis trat, fühlte ich mich frei», sagt er. Vor der Schule, nach der Schule und bis abends spät – wann immer er konnte, jagte er einem Puck nach. Dass ihn ein Unfall zwingen sollte aufzuhören, wollte er lange nicht wahrhaben.

Das zeigt sich auch in den Unterlagen: Walsky tat alles, um vom Unfall zu genesen. Ärzte, Therapeutinnen, Coaches, Spezialistinnen aus dem In- und Ausland zog er bei – zwischen November 2016 und April 2018 unterzog er sich mehr als zweihundert Behandlungen. «Ich habe noch viele Jahre Eishockey in mir», schreibt er am 17. November 2017 der Vaudoise. Manchmal verschwinden die Symptome, und Hoffnung keimt auf. Doch immer kehren die Schmerzen zurück – unberechenbar und oft mit voller Wucht.

Am 18. Juni 2018 gibt Walsky seinen Rücktritt bekannt.

Versicherungen haben viel Spielraum

Gehirnerschütterungen kommen im Sport häufig vor. Allein im Jahr 2018 waren es laut der Schweizerischen Unfall­versicherungs­anstalt (Suva) rund 4720 Fälle, in allen Sport­bereichen. Trotzdem scheint die rechtliche Handhabung von Gehirn­erschütterungen noch ganz am Anfang zu stehen.

Professor Thomas Gächter, Dekan der Rechts­wissenschaftlichen Fakultät an der Universität Zürich und Spezialist für Gesundheits- und Sozial­versicherungs­recht, sagt: «Ob die Kriterien noch zeitgemäss sind, ist eine seit über einem Jahr­zehnt kontrovers diskutierte Frage. Insbesondere wenn es darum geht, wie anstelle der bisherigen Praxis die langfristigen Folgen rechtlich beurteilt werden sollten.»

Die Versicherungen berufen sich gerne auf den «adäquaten Kausal­zusammenhang», um die finanziellen Folgen einer Gehirn­erschütterung nicht übernehmen zu müssen. Das heisst: Die Schädigungen werden nicht auf den Unfall zurück­geführt, sondern auf eine beliebige andere Ursache in der Vergangenheit.

Dass Versicherungen den adäquaten Kausal­zusammenhang bei Gehirn­erschütterungen nach einem gewissen Zeit­ablauf verneinen, ist bekannt. «Das kommt leider häufig vor», sagt der Luzerner Anwalt und ehemalige Spitzen­sportler Ulrich Kurmann. Er ist Athleten­vertreter im Exekutiv­rat von Swiss Olympic und vertritt als Anwalt recht­suchende Geschädigte gegenüber den Versicherungen.

Die heutige Recht­sprechung, so Kurmann, bevorteile häufig die finanz­starken Versicherungen statt die Verunfallten. Denn manche Folgen einer Gehirn­erschütterung seien auf Röntgen­bildern schlicht nicht zu sehen. Und daher aus Sicht der Versicherungen nicht vorhanden. Eine Einzelfall­beurteilung finde nicht statt.

«Das ist wirklich ein Problem in der Sport­welt», sagt auch Thilo Pachmann, Zürcher Anwalt für Sport­recht. Die Rechts­figur des adäquaten Kausal­zusammenhangs biete viel Spiel­raum, weshalb Versicherungen oft mit dem Begriff argumentierten. Dies zu ändern, sei letztlich eine politische Frage.

Die Rechtsprechung ist veraltet

Die Versicherungen können zwar auf die aktuelle Rechts­praxis verweisen, aber aus medizinischer Sicht lassen sich die teils massiven Beschwerden nicht einordnen. Das bestätigt Gery Büsser, seit 1996 Arzt des Hockeyteams ZSC Lions. «Den Versicherungen geht es nicht um den Patienten, sondern um den Befund.» Es brauche dringend eine neue Recht­sprechung, und das geltende Gesetz hinke Realität und Wissenschaft hinterher. «Wenn in den 1980er-Jahren ein Kind aus dem Kajüten­bett fiel und die Eltern erschrocken den Hausarzt anriefen, fragte dieser immer: ‹War das Kind bewusstlos und hat es erbrochen?› Wenn nicht, dann war es keine Gehirnerschütterung.»

«Es gibt ein Vorher und ein Nachher»: Dass ihn der Unfall derart aus der Bahn werfen könnte, wollte Walsky lange nicht wahrhaben.

Obwohl man heute wisse, dass diese Annahmen überholt seien, stütze man sich immer noch darauf. «Es ist absolut nicht so, dass es bei einer Gehirn­erschütterung immer zur Bewusstlosigkeit kommen muss», so der ZSC-Teamarzt. Und die ersten Symptome träten häufig viel später auf.

Gemäss Büsser kommen in den ersten zwei Profi­ligen durchschnittlich vier bis sieben Gehirn­erschütterungen pro Team und pro Saison vor.

Nach der Karriere kommt das Loch

Man spreche kaum darüber, was mit jungen Profi­sportlern passiere, wenn ihre Karrieren mit einem Unfall abrupt enden, sagt Walsky. Die Identitäts­krise sei enorm. Viele würden die Kurve nicht kriegen, hätten keine richtige Ausbildung, kein Auffang­netz. «Wenn man nur für den Sport lebt und dieser von einem Tag auf den anderen wegfällt, hängt man im luftleeren Raum.»

Der Schweizer Eishockeyverband kennt das Problem und versucht, das heikle Thema «punktuell an Vorträgen» aufzugreifen. Dessen CEO, Patrick Bloch, verweist auf die laufenden Diskussionen mit Swiss Olympic. Man führe zurzeit Gespräche, wie man junge Sportler dabei unterstützen könne, wenn ihre Karrieren enden – nicht selten aufgrund eines Unfalls. «Wir müssen uns als Verband weiter­entwickeln und dafür sorgen, dass Sport und Ausbildung gleichzeitig möglich sind.»

Er sieht die Verantwortung aber vor allem bei den Athletinnen selbst. «Es ist an jedem Einzelnen, sich während der Karriere Gedanken darüber zu machen: Wie soll mein Leben nach der Sport­karriere aussehen?»

Auch der ehemalige Fussball-Nationalspieler Benjamin Huggel kennt das Gefühl, wenn die Profi­karriere endet. «Viele ehemalige Spitzen­sportler entwickeln Sucht­probleme, erkranken psychisch oder liegen sogar dem Sozial­staat auf der Tasche», sagt er. Das Thema sei in der Szene bekannt, aber immer noch ein Tabu. Er selbst habe sich zu wenig mit diesem Übergang auseinander­gesetzt und sei in ein Loch gefallen. Deshalb hat er das «Athletes Network» gegründet, um mehr Bewusstsein zu schaffen und Sportlerinnen nach dem Karriere­ende unter anderem bei der Jobsuche zu helfen.

Aber stehen nicht auch die Clubs wenigstens teilweise in der Verantwortung? Sollten sie den ehemaligen Profi­sportlern nicht weiterhelfen in solch schwierigen Situationen? Fragt man bei den Eishockey­clubs in Kloten, Bern und Davos nach, treffen schwammige, ausweichende, nichts­sagende Antworten ein. Das Thema ist offensichtlich unbeliebt.

«Um einen ehemaligen Profi­sportler macht sich kaum jemand Sorgen», sagt auch Eric Walsky. Die Leere, die nach dem Karriere­ende komme, könnten nicht einmal die allernächsten Menschen verstehen. Umso belastender sei der Rechts­streit, den er mit der Vaudoise-Versicherung auszufechten habe.

Walsky zieht seinen Fall vor Bundesgericht.

Die Vaudoise-Versicherung solle anerkennen, dass seine Schädigungen vom Unfall herrühren. Er sei keine Ausnahme, und er möchte, dass es anderen verletzten Athleten in Zukunft nicht so ergeht wie ihm. «Dieser Missstand muss sichtbar werden», sagt er. Die Vaudoise sagt auf Anfrage, dass sie sich zum laufenden Verfahren nicht äussern möchte.

Der Missstand, dass Athletinnen die langfristigen Schäden eines Unfalls ständig unter Beweis stellen müssen. Dass manche Beschwerden einfach nicht beweisbar sind. Dass Sportler nach einem Unfall von den Clubs und Verbänden fallen gelassen werden. Und dass ihnen oft nichts anderes übrig bleibt, als die Schmerzen auszusitzen. Auf schweren, schwarzen Stühlen.

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