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Pflichtstoff

29.10.2020

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Liebe Leserinnen und Leser

Erst war sie in ein paar Kantonen im Laden obligatorisch. Dann überall in Bus und Bahn. Seit heute gilt sie fast überall, wo es eng wird: in Schulen, Restaurants, am Arbeitsplatz, am Weihnachtsmarkt.

Constantin Seibt hat die Maskendebatte an eine ganz ähnliche, 40 Jahre alte Auseinandersetzung erinnert. Und er wollte wissen, was man unterdessen darüber weiss, ob die Dinger etwas nützen. Hier das Ergebnis.

Das Coronavirus ist neu. Aber sonst?

Nicht neu ist beispielsweise die Debatte zu den Masken. Die Skepsis, ob sie wirken. Die Traktate über Freiheit gegen Staatsgläubigkeit. Die Warnungen, durch den eigenen Atem vergiftet zu werden.

Das trotz aller Leidenschaft. Etwa diesen Montag in Wien, wo sich 1500 Leute zu einer Maskenverbrennung trafen.

Denn derartige Vergnügungen kannten schon unsere Eltern. Zunächst in Deutschland: Dort starben Anfang der Siebzigerjahre bei Autounfällen jedes Jahr über 20’000 Menschen. Die Bundesregierung beschloss auf den 1. Januar 1976 die Anschnallpflicht. Und löste Empörung aus: Autofahrer warfen der Regierung versuchten Mord vor, weil sie fürchteten, durch den Gurt nach einem Unfall zu verbrennen oder in einem See zu ertrinken.

Der «Spiegel» brachte eine blutüberströmte Frau auf dem Titel mit der Schlagzeile «Gefesselt ans Auto». Während Fernsehreporter sich von gut gebauten Autofahrerinnen bestätigen liessen, dass sie um die Form ihres Busens fürchteten.

Dass die Wissenschaftler solche Szenarien für unwahrscheinlich erklärten, beruhigte niemand. Die Gegnerinnen warfen den Befürwortern Untertanenmentalität vor. Die Befürworterinnen den Gegnern Egoismus.

Die deutsche Regierung versuchte es mit einer teuren Werbekampagne, die nichts brachte. Erst als sie vier Jahre später eine Busse von 60 D-Mark einführte, schnallten sich die Deutschen an.

Da hatte die Debatte gerade die Schweiz erreicht. Wie es sich gehört, direktdemokratisch. Der Bundesrat hatte ein Gurtenobligatorium verkündet, Autofahrer das Referendum ergriffen. Was folgte, war ein wilder Abstimmungskampf mit der (zugegeben leicht suggestiven) Frage «Freiheit oder Zwängerei?».

Er endete im November 1980 mit einem Zufallssieg des Bundesrats: 50,5 Prozent für die Gurtenpflicht.

Woher der Aufruhr? Die deutsche Regierung hatte schon 1974 Psychologinnen losgeschickt. Diese stiessen bei ihren Forschungen auf wenig Begeisterung – bis hin zur «Bereitschaft zu kämpferischen Auseinandersetzungen».

Der Sicherheitsgurt, so ihre Erklärung, werde von seinen Gegnern «primär mit den Gefahren eines Unfalls assoziiert». Und verderbe damit den Spass am Fahren. Der Gurt verschaffe zwar objektiv mehr Sicherheit – aber subjektiv mehr Angst.

Tatsächlich zerfielen die Befragten, so die Psychologen, in zwei «Fahrwelten». In der «Welt des Auslebens» stand das Auto für Modernität, Spass, Freiheit. Alles andere wurde verdrängt. In der «Welt des Absicherns» hingegen wünschte man sich Risikokontrolle und hartes Durchgreifen der Behörden.

Das Resultat: Die Absicherer siegten. In Deutschland schnallen sich heute 98 Prozent an – und statt 20’000 sterben pro Jahr im Strassenverkehr nur noch 3000, davon 1400 Autoinsassen. Von Letzteren könnte man nochmals 200 abziehen, würde es nicht weiterhin 2 Prozent Unangeschnallte geben. (Fast alles Männer.)

Damit also beschäftigten sich unsere Eltern, als alle noch Zeit hatten. Heute läuft die ganze Debatte schneller: Schon deshalb, weil in einer Pandemie jeder Tag zählt.

Das heisst, wir müssen mit Unklarheiten leben. Über die Wirkung von Masken lässt sich nichts ganz Gesichertes sagen. Weil die Zeit für saubere Forschung fehlt. Und weil es fast unmöglich ist, verschiedene Effekte auseinanderzuhalten. (Zum Beispiel, ob maskierte Menschen mehr auf Abstand gehen, oder gerade umgekehrt.)

Aber trotzdem sind einige Annahmen sehr wahrscheinlich:

  • Masken senken die Ansteckungsrate. Zu dem Schluss kam im Sommer eine grosse Übersichtsstudie im altehrwürdigen Journal «The Lancet». Um wie viel genau, darüber lässt sich streiten. Ein interessantes Beispiel aus der Realität: am Schluss dieses Newsletters.

  • Ihr Schutz ist beileibe nicht perfekt, aber doch wirksam: vor allem vor Rotz und Spucke. Zwar schweben ausgeatmete Viren weiterhin wie Fallschirmspringer durch die Gaze, aber ihre Truppentransporter bleiben hängen. (Deshalb die Lamellen an der Innenseite – sie dienen als Tröpfchendepot.)

  • Masken sind also vor allem eine Frage der Höflichkeit. Sie schützen mit höherer Wirksamkeit andere vor Ansteckung, als sie einen selbst schützen.

  • Da man – jedenfalls mit den 08/15-Masken – wenig geschützt ist, empfiehlt es sich, sich mit Maske so zu verhalten wie ohne: auf 2 Meter Distanz zu bleiben.

  • Allerdings gibt es die plausible (aber nicht bewiesene) Annahme, dass eine Maske trotzdem etwas schützt: Bei einer Ansteckung bekommt man nicht die volle Invasionsarmee ab. Und der Verlauf der Infektion wäre milder.

  • Und wo ihre Gegner recht haben: Masken können einen Hautausschlag auslösen: die sogenannte Maskne. Was helfen kann: die Stoffmasken regelmässig waschen, milde Seife und Gesichtscreme. (Falls Sie Bedenken wegen einer Allergie haben, kann Ihr Doktor weiterhelfen.)

Kurz: Die Maske ist ein Mistding. Einerseits eine weitere Widerlichkeit wie das Anschnallpiepsen im Auto oder das Herumtragen der Hartschalensitze für die Kinder.

Und andererseits ist Mist, dass man ihren Nutzen nicht endgültig und präzise einschätzen kann. (Wenn man die verfluchten Kindersitze montiert, tröstet die Statistik: 3 von 4 Kindern überleben darin einen Aufprall, den sie 1970 nicht überlebt hätten.)

Doch es ist das beste Mistding, das wir haben.

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

Kurze Sondersession im Bundeshaus: Heute und morgen debattiert in Bern der Nationalrat über die Pandemie und ihre Folgen für die Wirtschaft und das Gesundheitswesen (aber auch etwa über Einkaufstourismus und die Nachhaltigkeitsziele der Nationalbank). Es herrscht eine strikte Maskenpflicht, trotzdem kritisierten verschiedene Parlamentarier, dass die Session zu riskant sei.

Nationalrat will Geschäften einen Teil der Miete erlassen. Der Rat hat sich sehr knapp dafür ausgesprochen, dass Vermieter wohl auf einen Teil der geschuldeten Miete während des ersten Lockdowns verzichten müssen. Konkret müssten die Mieterinnen für die Zeit von Mitte März bis Mitte Juni nur 40 Prozent der Miete bezahlen. Ausgenommen sind die Fälle, wo sich die Parteien selber einigen konnten. Durch ist die Sache damit nicht. Jetzt muss die zuständige Kommission die Details klären – dann stimmt der Nationalrat nochmals ab. Und der Ständerat hat ebenfalls noch nicht zugestimmt.

Franzosen müssen zu Hause bleiben. Bereits im Frühjahr hatte Frankreich einen der weltweit härtesten Lockdowns. Gestern Abend kündete Präsident Macron im Fernsehen die zweite Runde an. Das Haus darf ab morgen Freitag erneut nur mit einem Passierschein verlassen werden – die Liste wurde aber erweitert. Diesmal sollen die Schulen offen bleiben, und es darf auch in mehr Branchen normal weitergearbeitet werden (zum Beispiel auf dem Bau). Die Ausgangssperre ist vorerst bis zum 1. Dezember befristet.

Sommerurlaub könnte die zweite europaweite Welle mitverursacht haben. Eine Virusvariante (20A.EU1), die wohl zuerst unter Farmarbeitern in Spanien zirkulierte, hat sich seit dem Sommer in vielen europäischen Ländern stark ausgebreitet – zum Beispiel in der Schweiz, den Niederlanden und in Grossbritannien. Zu diesem Schluss kommt ein internationales Forschungsteam. Die Virologin Emma Hodcroft (die Ihnen in diesem Newsletter schon öfter begegnet ist) schreibt auf Twitter, dass sich daran eine Reihe von Fehlern ablesen lasse: darunter bei der Reisequarantäne und beim Testen von Reisenden.

Und zum Schluss: Das grosse Maskenexperiment in Kansas

Am 2. Juli verordnete die Gouverneurin im US-Bundesstaat Kansas eine Maskenpflicht. Sie gilt für öffentliche Gebäude, im ÖV – und überall draussen, wo es eng wird. Allerdings konnten alle Countys, also die Bezirke, frei entscheiden, ob sie die Verordnung umsetzen würden. Die meisten taten das nicht. Das Ergebnis: eine günstige Gelegenheit für die Forschung zur Wirksamkeit von Masken. Ein Team von Wissenschaftlerinnen der Uni Kansas hat verglichen, wie sich die Fallzahlen in den Bezirken mit und ohne Maskenpflicht voneinander unterscheiden. Das Ergebnis (denken Sie sich hier die übliche Litanei an Fussnoten und Einschränkungen mit) ist ziemlich eindrücklich. In den Bezirken ohne Maskenpflicht stiegen die Fallzahlen stetig. In den anderen blieben sie insgesamt ziemlich flach. Im Ergebnis schätzen die Forscherinnen, dass die Maskenpflicht in den betroffenen Countys etwa jede zweite Ansteckung verhinderte. Not bad.

Bleiben Sie umsichtig. Bleiben Sie freundlich. Und bleiben Sie gesund.

Oliver Fuchs und Constantin Seibt

PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.

PPS: Wir würden uns freuen, wenn Sie diesen Newsletter mit Freundinnen und Bekannten teilten. Er ist ein kostenloses Angebot der Republik.

PPPS: Wir wollen nicht ungerecht sein. Und zum Schluss auch noch ein paar uneingeschränkt erfreuliche Aspekte der Mistmaske erwähnen. Etwa:

  • dass man endlich eine Ausrede hat, wenn man Bekannte auf der Strasse nicht erkennt;

  • dass es im Land nun mit etwas Fantasie wie im Lustgarten eines sexuell abenteuerlichen, keine Körperform verschmähenden Sultans aussieht;

  • dass die Hipsterbärte verschwinden;

  • dass man sich weniger irrt: Menschen sind unglaublich miserabel im Ablesen von Stimmungen auf Gesichtern. Sieht man vor allem Maske, weiss man wenigstens, dass man keine Ahnung hat.

  • Dass eine Modeindustrie diesen Winter weiss Gott was an Maskenmode erfinden wird;

  • dass man nach längerem Tragen der Maske in Büro, Tram, Supermarkt, Innenstadt auch als Mann endlich die Erleichterung teilen kann, die sonst nur Frauen kennen, wenn sie daheim Schuhe und BH ausziehen.

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