
Wattierte Implosion
Im Schauspielhaus Zürich hatte «Mein Jahr der Ruhe und Entspannung» Premiere. Ein Triumph der Bühnenpräsenz! Mit einer Parabel auf die soziale Atomisierung unserer Zeit.
Von Daniel Binswanger, 27.10.2020
Die Republik ist ein digitales Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur – finanziert von seinen Leserinnen. Es ist komplett werbefrei und unabhängig. Lösen Sie jetzt ein Abo oder eine Mitgliedschaft!
Wir leben in einer Pandemie, die alle Arten der Liveperformance bedroht, behindert, der Gefahr eines schleichenden Todes aussetzt. Oder einen Impfstoff Rettung bringen lässt. Wir stehen vor der US-Präsidentschaftswahl, die eine Furcht einflössende Phase der spätkapitalistischen Dekadenz, der politischen Korruption, der gesellschaftlichen Polarisierung an ein vorläufiges Ende kommen lässt. Oder eben nicht.
Haben wir begriffen, wo wir überhaupt ansetzen sollen zum Verständnis unserer verstörenden Epoche? Und hat das Theater begriffen, wie es aufstehen kann gegen die Drohung seines langsamen Todes?
Es ist, als habe das Schauspielhaus Zürich mit einer furiosen Produktion gleich auf beide Fragen eine Antwort geben wollen. Am Donnerstag hatte «Mein Jahr der Ruhe und Entspannung» Premiere, in einer Inszenierung der lettisch-amerikanischen Hausregisseurin Yana Ross im Zürcher Pfauen. Das Stück ist die Bühnenadaptation des gleichnamigen Romans von Ottessa Moshfegh, der amerikanischen Erfolgsautorin, die mit dem Buch vor zwei Jahren die US-Bestsellerlisten stürmte.
Das Ergebnis ist ein elektrisierender, verstörender, lust- und spannungsvoller Theaterabend, gekonnt und schnell getaktet, von einem überragenden Ensemble vorangetrieben. Gerade so, als hätte die Zwangspause die Spielwut der Schauspielerinnen (nur einer der fünf Parts ist mit Maximilian Reichert mit einem männlichen Ensemblemitglied besetzt) zu umso grösseren Exzessen angestachelt. Wie grossartig es doch ist, wieder im Pfauen zu sitzen und sich mitreissen zu lassen von dieser Energie!
Dennoch erfüllt der Theaterabend die eigene Wette nicht ganz. Insbesondere, weil er daran scheitert, die Romanvorlage von Moshfegh wirklich sinnfällig umzusetzen.
Wattierte Implosion
«Mein Jahr der Ruhe und Entspannung» ist ein raffiniertes, schwebendes, ja hinterhältiges Konstrukt. Erzählt wird die Geschichte einer 26-jährigen Upper-Class-New-Yorkerin, die beschliesst, eine Auszeit zu nehmen; ihrem frustrierenden, von Kälte und Beziehungslosigkeit geprägten Leben zu entfliehen und sich mit Schlaf- und Beruhigungsmitteln vom unerträglichen Wachzustand ins erlösende Nirwana des Tiefschlafs zu befördern.
Das Projekt einer pharmakologischen Luxus-Weltflucht bringt alle Sinnangebote des heutigen American Dream zu einer wattierten Implosion. Denn die Tragödie dieser weder besonders sympathischen noch besonders berührenden Ich-Erzählerin liegt darin, dass sie doch eigentlich alles hat: nicht nur das Geld, sondern auch das Aussehen. Nicht nur den Style und die damit einhergehenden Klamotten, sondern auch das kulturelle Kapital: den Ivy-League-Abschluss in einer Geisteswissenschaft, den Job in einer coolen Galerie, die instinktiven Reflexe sozialer Überlegenheit. Doch sie will nur noch eins: sich betäuben, in traumlosen Schlaf verfallen.
Die moshfeghschen Figuren sind allesamt gefangen in tyrannischen Lifestyle-Angeboten, verzweifelten Sehnsuchtsprojektionen und sozialen Determinismen, die sie eigentlich zu blossen Klischees, zu passiven, traurigen Hüllen werden lassen. Kein Wunder, sind das einzige Thema, über das sich die Heldin mit ihrer Freundin Reva noch unterhalten mag, die Hollywoodfilme, die sie sich als letzte Beschäftigung im Wachzustand gleich reihenweise reinzieht.
Reva wiederum ist die wandelnde Karikatur einer Fitnessfanatikerin und eines Fashion-Victims, sie leidet an Bulimie und schläft mit ihrem verheirateten Chef. Sie kommt aus bescheidenen Verhältnissen, hat weder die perfekte Linie noch die finanzielle Unabhängigkeit ihrer Freundin und reibt sich auf in der von vornherein hoffnungslosen Jagd nach Status und seinen Symbolen.
Im Grunde verbindet die beiden Frauen nichts, ausser gemeinsame College-Jahre, ein austariertes System von gegenseitigen Ressentiments und Klassendünkel sowie eine geteilte, alles beherrschende Einsamkeit. Und ja: Gelegentlich leiht die Erzählerin ihrer Freundin ein paar Designerklamotten, die sie zuverlässig zurückzubringen versäumt.
American Psycho 2.0
Es ist die grausame Präzision, mit der diese Persönlichkeitsschablonen gezeichnet werden, die ihnen eine bizarre Authentizität verleiht. Es wird vollkommen sinnfällig, warum in einem Universum konformistischer Hoffnungslosigkeit der Rückzug in den eigenen Tiefschlaf zur letzten Verheissung wird. Moshfeghs Roman ist «American Psycho» 2.0, das bedrückende Tableau einer generalisierten Soziopathie. Allerdings erzählt er nicht eine Geschichte von Gewalt, Perversion und Exzessen. Er erzählt von einer Isoliertheit, die alles atomisiert – und als Versprechen nur noch den Blackout lässt.
Die Handlung des Romans ist ins Jahr 2000 zurückverlegt. Zwar erarbeitet Moshfegh unzweifelhaft die Genealogie unserer heutigen, der trumpschen Epoche. Doch um dies zu tun, geht sie zwanzig Jahre zurück – ein bisschen wie damals Christian Kracht, der «1979» schrieb, um das Lebensgefühl der Jahrtausendwende zu fassen. Auch Moshfeghs Figurenschemen kommen von weit her, aus jenen 1990er-Jahren, die vielleicht doch nicht so frivol, sondern ein erster Höhepunkt der grossen universellen Beziehungslosigkeit gewesen sind.
Die Erzählung endet mit dem Anschlag auf das World Trade Center, den die aus ihrem Koma wieder ins Leben zurückgekehrte Erzählerin als Verheissung, ja als Epiphanie von Menschlichkeit erlebt. Sie glaubt, in einer Frau, die man in Fernsehaufnahmen aus dem 78. Stock des World Trade Center springen sieht, ihre Freundin Reva zu erkennen – und ist beglückt: «Da ist sie, ein menschliches Wesen, das ins Unbekannte eintaucht. Und sie ist hellwach.»
Wie bringt man solche Figuren auf die Bühne? Wie inkarniert man diese Schemen? Yana Ross hat auf Tempo und Schrillheit gesetzt – und das durchaus mit Könnerschaft. Unterstützt wird sie dabei durch das Bühnenbild von Zane Pihlstrom. In einem kühlhausartigen Raum werden mobile Elemente herumgeschoben, verwandeln sich in den Spätkauf, in eine Sauna, in die Praxis von Dr. Tuttle, die exzentrische, aus Polanskis «Rosemaries Baby» entlaufen scheinende Psychiaterin, welche all die Schlafmittel verschreiben muss – eine Paraderolle für Karin Pfammatter.
Bei Gelegenheit purzelt dann auch mal die Mutter der Erzählerin aus dem Getränkeschrank des Spätkaufs, eine ehemalige Südstaaten-Beauty, die sich mit Alkohol und Tabletten zu Tode gebracht hat und weiterhin die Psyche ihrer Tochter in ihren Bann schlägt. Sie wird von der wundervoll flackrigen Lena Schwarz gegeben.
Der Hauptrolle der Erzählerin verleiht Alicia Aumüller eine beeindruckende Präzision und Präsenz, während Henni Jörissen als Reva mit billig aussehenden Designerkleidern und blonder Perücke die nackte Verzweiflung frustrierter Ambitionen evoziert. Als zynische Galeristin und Chefin der Erzählerin glänzt schliesslich die ebenfalls zum Schauspielhaus-Ensemble gehörende Tänzerin Perle Palombe und liefert eine Steilvorlage für die gnadenlose Abrechnung mit der Kunstwelt, die ein zentrales Motiv bei Moshfegh darstellt. Kunst ist hier nur ein Mittel, um Ehrgeiz, Distanz und Verachtung zu kanalisieren. Sonst ist sie nichts.
Immer wieder Zurückweisung
Und dann ist da noch Trevor. Der einzige Mann, mit dem die Erzählerin eine On-and-off-Liebesgeschichte hatte, die sich aber weitgehend auf das Ausagieren seiner sexuellen Dominanzbedürfnisse beschränkte. Und eigentlich nicht einmal das: Obwohl der schon etwas ältere Banker davon träumt, die Sado-Maso-Spiele aus dem Film «9½ Wochen» nachzustellen – Glücksversprechen sind nie mehr als Filmskripts –, und obwohl die Erzählerin sich auf spöttisch-offensive Weise zum Mitspielen bereit erklärt, ist er auch dazu nicht imstande. Sein Dominanzbedürfnis lebt er schliesslich aus, wie in diesem Roman eigentlich alle Emotionen ausgelebt werden: durch Zurückweisung. Dadurch, dass er zur Erzählerin auf definitive Distanz geht.
Die Bühnenversion geht hier allerdings einen anderen Weg. Die Sado-Maso-Szenen nehmen einen grösseren Raum ein, die kinematografischen Phantasmen finden ein theatrales Acting-out. Ross erzählt die Geschichte der New Yorker Nineties ihren obszönen Abgründen entlang. Das entspricht einer dramaturgischen Logik, doch die schwankende Inkonsistenz der Figuren geht auf diese Weise verloren. Die Rollen sind plötzlich wieder klar verteilt: Es gibt Opfer, es gibt Täter. Der Ambivalenz der Gesamtanlage wird dieser Zugriff nicht gerecht. Es ist bei aller Schrillheit und allen heftigen Gesten letztlich eine sehr klassische Narration, mit der Yana Ross den Stoff präsentiert.
Doch vielleicht ist es auch einfach die Macht des Livetheaters, der Realpräsenz, die hier über alle Verwicklungen unserer dystopischen Epoche triumphiert. Der Abend im Pfauen kulminiert darin, dass die Erzählerin nackt mit Rollschuhen auf der Bühne ihre Kreise zieht – einsam, selbstversunken und verletzlich. Das ist kein durch die Vorlage offensichtlich motiviertes Finale. Aber es ist stark und sehr berührend.
Also tanken Sie schnell noch Liveperformance, bevor die Theater wieder schliessen müssen. «Mein Jahr der Ruhe und Entspannung» ist eine grossartige Gelegenheit dazu. Dann mögen wir selber wieder der sozialen Atomisierung anheimfallen.
«Mein Jahr der Ruhe und Entspannung» im Schauspielhaus Zürich. Inszenierung: Yana Ross. Bis 3. Dezember, alle Termine und weiteren Infos finden Sie hier.