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Luzerner Gericht schränkt die Medienarbeit ein

In zweiter Instanz verurteilt das Kantonsgericht Luzern eine Journalistin wegen Hausfriedens­bruchs. Der Entscheid hat weitreichende Folgen für den Journalismus.

Von Dominique Strebel, 29.09.2020

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Am 20. April 2016 betrat die Journalistin Jana Avanzini das besetzte Grund­stück einer Villa in Luzern, das dem Industriellen Jørgen Bodum gehört. Die Journalistin wollte sich vor Ort ein Bild über die Besetzung und den Zustand des Gebäudes machen. Dieser Zustand war entscheidend für die Frage, ob das Haus, das unter Ortsbild­schutz steht, abgebrochen und durch einen Neubau ersetzt werden darf, wie Bodum es plante. Das Online­magazin «Zentral­plus» schickte Avanzini deshalb zum Augen­schein und publizierte am nächsten Tag einen Artikel.

Für diese Recherche vor Ort wird Avanzini vom Kantons­gericht Luzern in zweiter Instanz wegen Haus­friedens­bruchs zu 500 Franken Busse verurteilt. Nun liegt die schriftliche Begründung vor: Die Journalistin kann sich gemäss den drei Luzerner Richtern nicht damit rechtfertigen, dass sie die berechtigten Interessen der Öffentlichkeit an Information wahrgenommen habe. Dieser ausser­gesetzliche Rechtfertigungs­grund sei gemäss Bundes­gericht und Europäischem Gerichts­hof für Menschen­rechte nur zu berücksichtigen, wenn die Straftat das einzige Mittel ist, um Informationen «von wirklich erst­rangiger Bedeutung» für die Öffentlichkeit zu erlangen. Und solche Informationen habe Avanzini weder publiziert noch mit ihrer Recherche zu beschaffen beabsichtigt. Ihr Artikel ist in den Augen der Kantons­richter ein reiner Erlebnis­bericht. Die Journalistin habe bei ihrer Recherche vor Ort auch nicht erwarten können, wesentliche Neuigkeiten oder Missstände von erstrangiger Bedeutung festzustellen – etwa Giftstoffe wie Asbest oder Mängel in der Statik –, weil ihr dafür die nötige Fach­kenntnis gefehlt habe.

Trotzdem hat das Gericht Verständnis für die Journalistin. Es setzt das Straf­mass sehr tief an, weil es ihr einen Verbots­irrtum zubilligt. Die Luzerner Richter nehmen Avanzini ab, dass sie glaubte, als Journalistin das Grund­stück betreten zu dürfen. Aber Avanzini hätte sich laut Kantons­gericht bei der Polizei oder der Staats­anwaltschaft über die Rechts­lage erkundigen müssen. Darum sei der Irrtum vermeidbar gewesen. Und deshalb sieht das Gericht nicht von einer Strafe ab, sondern reduziert sie bloss. Jana Avanzini lässt noch offen, ob sie das Urteil ans Bundes­gericht weiter­ziehen wird. Dafür hat sie 30 Tage Zeit.

Das Urteil des Luzerner Kantons­gerichts ist sorgfältig begründet und setzt sich – im Unterschied zum Urteil der ersten Instanz – auch mit einem wichtigen einschlägigen Urteil des Europäischen Gerichts­hofs für Menschen­rechte auseinander. Die Luzerner Richter erkennen teilweise auch, dass es nicht darum geht, publizierte journalistische Berichte zu beurteilen, sondern die Ziele einer Recherche. Denn gute Journalistinnen recherchieren ergebnis­offen. Sie wissen nicht im Vornherein, was sie bei einer Recherche, etwa bei einem Augen­schein, heraus­finden werden. Deshalb müssen sie unter Umständen Delikte begehen, bevor sie wissen, dass sie Missstände aufdecken und somit gerechtfertigt handeln. Und da stellt das Luzerner Kantons­gericht in seinem Urteil hohe Anforderungen: Recherchen auch auf einem Grund­stück bleiben in Zukunft möglich, falls die Umstände zumindest erahnen lassen, dass man vor Ort Missstände antreffen wird und der Journalist diese auch erkennen kann.

Was soll man Journalistinnen in Zukunft raten?

Sie müssen bei einer Recherche, die eine Straftat in Kauf nimmt, noch sorgfältiger abwägen, ob sie mit einer allfälligen Straftat Informationen «von wirklich erstrangiger Bedeutung» für die Öffentlichkeit erlangen können. Zudem sollten Journalisten vor Ort Beweise sichern – in Form von Fotos oder Boden­proben beispiels­weise –, die es nötigenfalls später Fach­leuten erlauben, allfällige Missstände zu erkennen. Falls sie unter Einsatz strafbarer Handlungen keine Missstände von hohem öffentlichem Interesse finden, sollten Journalistinnen nichts publizieren. Denn: Wo kein Kläger, da kein Richter. Untauglich ist die Forderung der Luzerner Richter, dass ein Journalist bei der Polizei oder der Staats­anwaltschaft nachfragt, ob ein Augen­schein auf einem Grundstück legal ist. Die staatlichen Behörden werden immer abraten. Zudem gibt es in dieser Frage grosse Ermessens­spielräume, die nicht die Behörden, sondern die Redaktionen selbst – in Absprache mit einer Medien­anwältin – beurteilen sollten.

Was heisst das Urteil für die Gesellschaft? In der öffentlichen Diskussion über besetzte Grund­stücke werden Informationen fehlen, die Journalisten aus unabhängiger Warte recherchiert haben. Die Öffentlichkeit wird nur noch die Behauptungen von Besetzerinnen, Grund­eigentümern und Behörden erfahren. Das Urteil hat nämlich einen chilling effect, der viele Journalistinnen davon abhalten wird, sich selbst vor Ort ein Bild der Lage zu machen. Denn obwohl Jana Avanzini nur zu einer Busse von 500 Franken verurteilt wurde, wird dies im Straf­register eingetragen – fatal für Bewerbungen und Wohnungs­suche in den nächsten siebeneinhalb Jahren. Erst dann wird die Strafe aus dem Privat­auszug gelöscht.

Urteil 4M 1987 des Kantons­gerichts Luzern vom 25. März 2020, nicht rechtskräftig.

Hinweis: In einer früheren Fassung schrieben wir, der Eintrag werde nach zehn Jahren gelöscht. Richtig ist: Die Strafe wird nach siebeneinhalb Jahren aus dem Privat­auszug gelöscht.

Zur Transparenz

Dominique Strebel ist Medienrechts­dozent und Studienleiter an der Schweizer Journalisten­schule MAZ, er hat das Crowdfunding von Jana Avanzini unterstützt, das ihr erlaubte, sich gegen die Verurteilung zu wehren.

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