Am Gericht

Die erste Welle von Corona-Gerichtsfällen ist – voll Dada

Covid-19 brachte eine Flut neuer Richtlinien, Regeln – und Strafbefehle. Wenn die Gebüssten Einsprache erheben und es zur Gerichtsverhandlung kommt, zeigt sich: In dieser Pandemie kann Verwirrendes noch verwirrender werden.

Von Daria Wild, 23.09.2020

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Im Kanton Aargau seien bereits 146 Straf­befehle wegen Verstössen gegen die Covid-19-Verordnung ausgestellt worden, berichtete Ende August die «Aargauer Zeitung». Die meisten Betroffenen hätten die Bussen bezahlt, den Straf­befehl akzeptiert. Doch die rechtliche Aufarbeitung von «Corona-Verstössen» ist alles andere als einfach. Nur schon zu wissen, welche Erlasse anzuwenden sind, ist anspruchs­voll. Die aktuelle Covid-Verordnung ist seit dem 22. Juni in Kraft, zuvor galten Versionen, die laufend verändert wurden.

Sie alle basieren auf Artikel 7 des Epidemie­gesetzes, der dem Bundes­rat erlaubt, für das ganze Land Massnahmen anzuordnen. Im Epidemie­gesetz gibt es aber den Artikel 40, der besagt, dass die kantonalen Behörden Massnahmen anordnen, «um die Verbreitung übertragbarer Krankheiten in der Bevölkerung (…) zu verhindern». Ein «Corona-Verstoss» kann also entweder nationale oder kantonale Anordnungen betreffen.

Darüber hinaus sind die Gerichte auch gefordert, wenn sie Menschen zu beurteilen haben, die durch die Pandemie erst recht ins Schleudern geraten.

Ort: Bezirksgerichte Kulm und Laufenburg
Zeit: 15. September, 11.30 Uhr und 16.30 Uhr
Fall-Nr.: ST2020.120 und ST2020.1922
Thema: Widersetzen gegen Massnahmen gegenüber der Bevölkerung in Sachen des Epidemien­gesetzes (Art. 40) und Verstoss gegen Einschränkungen des grenz­überschreitenden Personen­verkehrs an geschlossenen Grenz­übergängen (Covid-19-Verordnung 2)

Fall 1: Der junge Mann auf dem Schulhausareal

Irgendwo in der Mitte des Wynentals, zwischen Aarau und Reinach, nahe des Hallwiler­sees, liegt Unterkulm – Sitz des Bezirks­gerichts Kulm. Hier wird an einem Dienstag­vormittag erstmals ein «Corona-Fall» vor Gericht behandelt. Sachverhalt: Widersetzen gegen Massnahmen gegenüber der Bevölkerung in Sachen des Epidemien­gesetzes. Ein Verstoss gegen kantonale Anordnungen.

Doch kaum hat die Verhandlung begonnen, ist sie auch schon wieder vorbei, knapp zwanzig Minuten, samt Urteils­verkündung, dauert das Ganze. Das liegt zum einen daran, dass Richter Christian Märki schneller spricht, als der Regional­zug durchs Wynental brettert – und zum anderen daran, dass der Straf­befehl schlicht nicht viel zum Verhandeln hergibt.

Spärlich beschriftete zwei Seiten lang ist der Straf­befehl, der dem damals 21-jährigen Gesundheits­pfleger Ende April zugestellt wird. Verstoss gegen Art. 40 Abs. 1 und 2 lit c des Epidemien­gesetzes, wo es heisst: Die kantonalen Behörden «können insbesondere folgende Massnahmen treffen: das Betreten und Verlassen bestimmter Gebäude und Gebiete sowie bestimmte Aktivitäten an definierten Orten verbieten und einschränken.»

Der Beschuldigte, heisst es weiter, habe sich vorsätzlich diesen Massnahmen widersetzt, indem er sich am 22. April 2020 mitten in der Nacht auf einem Schulhaus­areal in Reinach aufgehalten habe, was verboten gewesen sei. Busse: 100 Franken.

Der Strafbefehl, der im Prozess zur Anklage­schrift mutiert, erwähnt zwar, dass der Beschuldigte und seine Begleiter einen Sack voller Red-Bull-Dosen und eine Flasche Wodka dabeihatten; nicht aber, ob und wo allfällige Absperrungen und Verbots­tafeln angebracht waren. Dabei wäre das für Richter Märki das einzig Relevante, um die Frage zu beantworten, ob der Gesundheits­pfleger «mit Wissen und Willen» gehandelt hat.

Viel hat der hochgeschossene junge Mann mit kurz geschorenem, blondem Haar vor Gericht nicht zu sagen. Richter Märki sieht in diesen knapp zehn Minuten der Befragung zwei-, dreimal durch seine eckige Brille zur Decke hoch, als müsse er dort eine weitere Frage suchen, die er noch stellen könnte.

Richter: «Ist Ihnen der Abend erinnerlich?»

Beschuldigter: «Ja. Ich habe nicht gewusst, dass es verboten ist, und kein Schild gesehen.»

Richter: «Sie sind also nicht an einem Schild vorbeigekommen?»

Beschuldigter: «Es war dunkel.»

Richter: «Möchten Sie noch etwas sagen, was Ihnen wichtig ist?»

Beschuldigter: «Nein.»

Nach einer ebenso knappen Verhandlungs­pause wird der junge Mann freigesprochen. Er erhält eine Entschädigung von 100 Franken. «Weil auch Presse­vertreter anwesend sind», so der Einzel­richter, kommt es nach der Urteils­eröffnung noch zu einer kleinen Lektion in Sachen Urteils­findung. Diese, sagt Märki, bestehe aus zwei Stufen: Zuerst wird der Sach­verhalt gewürdigt und danach geprüft, ob sich der erstellte Sach­verhalt einer Straf­norm unterordnen lässt: Subsumption nennt man das.

Da der Sachverhalt im vorliegenden Fall «nicht rechts­genüglich nachgewiesen» sei, spricht das Gericht den Beschuldigten frei. Es sei Sache der Staats­anwaltschaft, die Schuld nachzuweisen. Und weder sei das kantonale Verbot in den Akten dokumentiert, noch wisse das Gericht, wo, ob und allenfalls wie Absperrungen vorgenommen worden seien. Deshalb sei es gar nicht zu Stufe zwei gekommen. Die Frage also, sagt der Richter mit Blick auf die zwei Presse­vertreterinnen, inwiefern die kantonalen Behörden das Verbot hätten aussprechen dürfen, wie das Verhältnis zur bundes­rätlichen Ordnung ausgefallen wäre, werde damit offengelassen. «Das ist nicht mehr Gegenstand dieser Verhandlung.»

Fall 2: Von natürlichen und anderen Personen

Der Regionalzug ist um die Mittags­zeit rappelvoll mit Kindern. Das Ziel ist ein zweites Aargauer Regional­gericht, ganz am nördlichen Rand des Kantons. Also zurück nach Aarau und von da eine geschlagene Stunde in Richtung Landes­grenze nach Laufenburg, Sitz des Bezirks­gerichts und mit knapp 3700 Einwohnern einer der kleinsten Bezirks­hauptorte des Kantons.

Das Postauto kurvt an einem Harley-Davidson-Laden vorbei durch den Wald, in Herznach schwappen Schülerinnen rein, und vor dem Fenster dominieren Aldi, Qualipet, Vögele-Shoes, Dosenbach und ein Autowasch­center das Bild. Nach Frick wird es wieder ländlicher, das Postauto passiert Wein­reben, Bauern­höfe mit Knospe-Tafeln, eine Werbung fürs Eidgenössische Feld­schiessen, und dann tut sich die grenznahe Ebene auf.

Das Bezirksgericht Laufenburg ist in einem einfachen Giebel­haus untergebracht, doch der Gerichts­saal ist ein prunk­volles Schmuck­stück mit Kachel­ofen, goldenen Vorhängen, Kron­leuchter und Stuck­decke. Die späte Nachmittags­sonne zeichnet helle Quadrate aufs Parkett. An diesem Prozess geht es um einen Verstoss gegen die Covid-Verordnung. Der Straf­befehl ist ebenso kurz gehalten wie jener am Bezirks­gericht Kulm. Doch die Verhandlung wird wesentlich komplizierter.

Was eigentlich beurteilt werden sollte, ist Folgendes: Der Beschuldigte habe, so heisst es im Straf­befehl, vorsätzlich «einen von der Eidgenössischen Zoll­verwaltung (EZV) geschlossenen und als so gekennzeichneten unter­geordneten kleinen terrestrischen Grenz­übergang zur Ein- oder Ausreise benützt». Ort: Laufenburg, Grenz­übergang. Datum: 14. April, 6.05 Uhr. Busse: 100 Franken.

Doch der Sachverhalt geht beinahe unter – ganz anderes steht im Vordergrund. Einzel­richter Beat Ackle spricht zu Beginn der Verhandlung eine «Auseinander­setzung um den Namen» an. Diese wird am Gericht weitaus mehr Zeit in Anspruch nehmen als die Klärung dessen, ob der Mann vorsätzlich über die geschlossene Grenze gefahren ist.

Dem Beschuldigten, einem 43-jährigen Deutschen, wohnhaft in einer basel­landschaftlichen Gemeinde, geht es – so viel wird irgendwann klar – darum, dass er von den Behörden als Kaufmann Robert (Name von der Redaktion geändert) hätte kontaktiert werden wollen, nicht als Robert Kaufmann: weil er, Robert Kaufmann, eine «freie, natürliche» Person sei, die weder von der Polizei noch von der Staats­anwaltschaft belangt werden könne und schon gar nicht vor Gericht treten müsse.

So weit, so unklar?

Es folgt ein zuweilen sehr unterhaltsamer, manchmal nerviger, meist verwirrender Dialog mit dem Richter. Der Mann, der offenbar auf dem Weg zu seiner Frau in Deutschland die Grenze unerlaubt überquert hat, ist nur schwer zu fassen. Was er mit seinem Beharren auf diesem «Form­fehler», wie er es nennt, erreichen will, bleibt unklar – seine Strategie undurchschaubar. Das klingt dann etwa so:

Beschuldigter (wedelt mit dem Pass): «Hier steht Kaufmann Robert, in Gross­buchstaben. Das ist meine Rechts­person.»

Richter: «Robert Kaufmann ist also nicht korrekt?»

Beschuldigter: «Das ist die natürliche Person. Der Mensch Robert Kaufmann hat nichts verloren in so einem Rechtsverfahren.»

Von dieser Argumentation rückt der Beschuldigte partout nicht ab. Richter Ackle bleibt nichts anderes übrig, als sich darauf einzulassen, um die Verhandlung fortsetzen zu können.

Richter: «Wer ist denn heute bei der Verhandlung da?»

Beschuldigter: «Ich bin als Vertreter meiner Rechts­person da, als Kaufmann Robert.»

Richter: «Können Sie die natürliche Person, Robert Kaufmann, fragen, ob er über die Grenze ging?»

Beschuldigter (zögert): «Ja.»

Die abstruse Logik des Beschuldigten erinnert unweigerlich an jene Menschen, die sich zur Reichs­bürger­bewegung zählen. Leute, die sich dieser Bewegung zugehörig fühlen, bezeichnen sich als «natürliche Personen» und weigern sich, Steuern und Buss­gelder zu bezahlen oder Gerichts­beschlüsse zu befolgen. Es gibt Berichte von Reichs­bürgerinnen, die vor Gericht ebendieses Argument verfolgten: als «natürliche Personen» nicht belangt werden zu dürfen, weshalb sie auf ihren Rechts­vertreter beziehungs­weise auf ihre «juristische Person» verweisen.

Vor dem Bezirksgericht Laufenburg ist die Reichs­bürger­bewegung kein Thema. Der Beschuldigte, der in Begleitung eines älteren Mannes gekommen ist, spricht auch nicht über allfällige Ideologien – und öffnet sich im Verfahren doch ein Stück weit. Lediglich auf der Sache mit dem Namen beharrt er stur.

Richter: «Machen wir ein Gedanken­experiment. Wenn ich beide verurteile, Robert Kaufmann und Kaufmann Robert, und die Strafe würde nicht bezahlt werden. Wer muss dann ins Gefängnis?»

Beschuldigter: «Immer Kaufmann Robert. Die natürliche Person darf nicht verhaftet werden.»

Richter: «Ist die natürliche Person Robert Kaufmann angehalten worden?»

Beschuldigter: «Das kann man so sagen.»

Für den Richter ist das deutlich genug und ein Zugeständnis. Irgendwann zieht der Beschuldigte dann noch ein ärztliches Attest hervor, das beweisen soll, dass seine Frau in Deutschland Hilfe gebraucht hätte, weshalb er über die Grenze gefahren sei. Doch das lässt Ackle nicht gelten; erstens sei das Papier nach dem unerlaubten Grenz­übertritt ausgestellt worden. Und zweitens, um der Logik des Beschuldigten zu folgen, laute es auf den «falschen» Namen, nämlich Robert Kaufmann, nicht Kaufmann Robert. «Da haben Sie nicht ganz unrecht», gibt der Beschuldigte zu.

Schliesslich und endlich lässt Ackle die Ton­aufnahme der Verhandlung stoppen und bietet dem Beschuldigten freundlich, aber bestimmt an, er solle doch die Einsprache trotz der Namens­differenzen zurückziehen. Er werde diesfalls die Kosten für die Verhandlung auf 100 Franken beschränken. Somit würden dem Beschuldigten die Busse und die Straf­befehls­gebühr und eben die zusätzlichen 100 Franken aufgebrummt.

Der Beschuldigte, etwas ratlos ob des Angebots, darf sich mit seiner Begleitung kurz beraten. Dann unterschreibt Robert Kaufmann/Kaufmann Robert ein vom Richter hand­beschriebenes A4-Blatt. Die Einsprache ist damit zurückgezogen, der Straf­befehl wird rechtskräftig.

Illustration: Till Lauer

Hinweis: In einer früheren Version wurde der Fall am Bezirks­gericht Kulm als erster «‹Corona-Fall› im Kanton Aargau» bezeichnet. Richtig ist: Es war der erste solche Fall am diesem Bezirksgericht.

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