Der neue Klassenkampf von rechts
In den Auseinandersetzungen um die Personenfreizügigkeit ändert die SVP ihren Diskurs. Ist das ein Strategiewechsel für den Rechtspopulismus in der Schweiz?
Von Daniel Binswanger, 19.09.2020
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Selbst Christoph Blocher findet den Abstimmungskampf zur Begrenzungsinitiative «gespenstisch» – und führt dies auf die Zwänge der Corona-Distanzregeln zurück. Schliesslich lebe die direkte Demokratie vom direkten Kontakt mit den Leuten. Da ist dem Alt-Bundesrat vorbehaltlos zuzustimmen, aber die geisterhafte Blutleere der aktuellen Europa-Diskussion dürfte auf Gründe zurückzuführen sein, die weniger mit der Pandemie als mit der verhandelten Vorlage zu tun haben.
Nicht einmal das viel bemühte Marx-Zitat, die Tragödien der Geschichte wiederholten sich als Farce, wird der aktuellen Stimmungslage gerecht. Eher schon hat man das Gefühl, das x-te Sequel des immer selben Blockbusters über sich ergehen zu lassen. Ein arg gealterter Cast, viel Pulverdampf und langweiliges Geballer, ein quälend voraussehbares Drehbuch: die Schweizer Europa-Debatte oder «Die Hard», Folge 27.
Die Begrenzungsinitiative dürfte, wie es laut den Umfragen aussieht, relativ klar verworfen werden. Allerdings haben wir gelernt, solche Prognosen mit Vorsicht zu geniessen: Zum einen sind Überraschungen an der Urne bekanntlich immer möglich. Zum anderen wird die kommende Abstimmung der erste nationale Test unter Pandemiebedingungen sein. Bisher scheint es so, als würde die Corona-Krise Protestparteien und rechtspopulistischen Bewegungen nicht guttun. Wenn sich konkrete Bedrohungsszenarien aufbauen, wollen die Leute erwachsenes Führungspersonal: Kontinuität, Berechenbarkeit und keine «konservative Revolution».
Diese politische Dynamik könnte sich jedoch auch ins Gegenteil verkehren. Was wird geschehen, wenn die Wirtschaftskrise wirklich schwerwiegend, die Verzweiflung wirklich gross wird? Wenn die Aluhüte der Anti-Corona-Demos plötzlich einen Resonanzraum finden in der breiten politischen Öffentlichkeit? Dass in Zeiten von Reisebeschränkung und Quarantäne die Unterbindung von Freizügigkeit auf Sympathien stösst, wäre grundsätzlich nicht überraschend. Vorderhand scheint die SVP davon nicht zu profitieren.
Die Spitzkehren
Für die Volkspartei wäre es eine sehr bedrohliche Niederlage, wenn ihre Initiative durchfiele. Am erfolgreichsten ist die SVP immer dann gewesen, wenn sie ihr Kernanliegen der «nationalen Souveränität» mit der Zuwanderungspolitik verbinden konnte. Mit der Selbstbestimmungs- und der Durchsetzungsinitiative erlitt sie Schiffbruch, ganz einfach weil es bei diesen Vorlagen zwar um Fragen der Souveränitäts- und der Rechtsvorstellung ging, die Zuwanderungspolitik aber nur indirekt tangiert wurde. Die Masseneinwanderungsinitiative hingegen war erfolgreich, weil sie die Souveränitätsfrage auf dem Feld der Ausländerpolitik verhandeln konnte. An diesen Erfolg soll nun die Begrenzungsinitiative anschliessen. Wenn das nicht klappt, stellt sich für die SVP das ungemütliche Problem, mit welchem Typus von Volksinitiativen sie überhaupt noch punkten will.
Es könnte sich als brutaler strategischer Fehler entpuppen, dass die Volkspartei nach dem Erfolg der Masseneinwanderungsinitiative auf die «fremden Richter» und nicht sofort darauf setzte, weiterhin die Einwanderungspolitik zu beackern. Das seit sechs Jahren quasi in Dauerschleife geäusserte Argument, die Schweizer Regierung müsse die Personenfreizügigkeit endlich kündigen oder sie begehe Verrat am Volk, hat inzwischen viel von seiner Zugkraft verloren. Ein Remake der Masseneinwanderungsinitiative wird unter diesen Bedingungen schwierig. Was auch damit zu tun hat, dass man Tricks nicht beliebig häufig anwenden kann.
Blenden wir zurück: Die Basis für den Erfolg der Masseneinwanderungsinitiative war die gezielte Irreführung der Stimmbürgerinnen durch die Initianten. Eine Mehrheit der Schweizerinnen war auch 2014 für die Fortsetzung des bilateralen Wegs. Pausenlos behaupteten die Initianten deshalb im damaligen Abstimmungskampf, das Personenfreizügigkeitsabkommen und die Bilateralen seien mit dem geforderten Kontingentsystem vereinbar. Die EU sei ohnehin in einer Position der Schwäche und jederzeit bereit, alles «nachzuverhandeln». Selbst im Abstimmungsbüchlein liess sich das Initiativkomitee so vernehmen. Doch sofort nach dem Abstimmungssieg wurden völlig andere Töne angeschlagen: Eine Kündigung sei überhaupt kein Problem und jederzeit in Kauf zu nehmen. Bald wurde auch explizit mit einer Kündigungsinitiative gedroht – eine Bezeichnung, die kein Geringerer als Christoph Blocher himself ins Spiel gebracht hat.
Auf keinen Fall kündigen – bedenkenlos kündigen: Das ist völlig austauschbar, ganz nach gerade vorliegendem Propagandabedürfnis. Sofern es hier einen Widerspruch geben sollte, so lautet bis heute die Schutzbehauptung, liegt er natürlich nicht an den eigenen Spitzkehren, sondern ausschliesslich daran, dass «Bern» gar nie zu verhandeln versuchte, sondern einen nun schon dreissig Jahre währenden Geheimplan zum Ausverkauf der Heimat verfolgt und sich mit «Brüssel» gegen das Schweizer Volk verschworen hat.
Wahrscheinlich müssen wir dankbar sein, dass nicht auch noch George Soros als Strippenzieher aufgeboten wurde in diesem schauerlichen Verschwörungskomplott – oder jedenfalls nur in einer Nebenrolle und nur am äusseren Rand des rechtspopulistischen Amok-Segments.
Die trumpsche Wende
Und jetzt? Versucht man, mit dem ganzen Spielchen einfach noch einmal von vorne anzufangen. Alle Zähler wieder auf null, «Die Hard», nächste Folge. Empört weist die SVP den Begriff «Kündigungsinitiative» ganz plötzlich wieder zurück. Man könne mit der EU selbstverständlich alles «nachverhandeln». Brüssel sei in einer Position der Schwäche und werde niemals die Guillotine-Klausel umsetzen. Die SVP versucht nun also durchzukommen mit demselben Täuschungsmanöver, auch wenn man die Kündigung nicht mehr ganz so dezidiert ausschliessen will wie beim letzten Mal. Eigentlich muss man davon ausgehen, dass so etwas nicht funktionieren kann. Es sei denn, man habe von der Manipulierbarkeit der Stimmbevölkerung eine wirklich sehr, sehr hohe Meinung.
Interessant an diesem Abstimmungskampf ist eigentlich nur eins. Es lässt sich eine fundamentale Verschiebung beobachten. Die SVP versucht, die trumpsche Wende hinzubekommen. Aber sie hat damit Schwierigkeiten.
Trump hat den Rechtspopulismus erneuert, indem er das klassische Repertoire der Ausländerfeindlichkeit mit einer offensiven Klassenkampf-Rhetorik verband. Alles für den amerikanischen Arbeiter: Schutzzölle, verhinderte Delokalisierungen, eine Mauer zur Abschottung des Arbeitsmarktes. Natürlich war das Versprechen, sich um die «vergessenen Männer und Frauen» zu kümmern, nie etwas anderes als ein Propaganda-Gimmick, aber mindestens im letzten Wahlkampf war Trumps cleverer Bruch mit einer klassisch rechten Agenda die Voraussetzung für seinen Erfolg.
Eine ähnliche Entwicklung der rechtspopulistischen Positionierung lässt sich neuerdings auch in Grossbritannien beobachten. Boris Johnson geht stramm nach links und will seine Post-Corona-Wirtschaftspolitik nun ganz explizit nach dem Vorbild von Roosevelts «New Deal» ausrichten. Ein Tory-Premier, der sich statt auf Thatcher auf Roosevelt beruft? Bis vor kurzem wäre das undenkbar gewesen.
Dieselbe Verschiebung lässt sich jedoch feststellen, vergleicht man den Abstimmungskampf zur Masseneinwanderungsinitiative mit den Auseinandersetzungen um die Kündigungsinitiative. Vor sechs Jahren war das Hauptargument der Freizügigkeitsgegner der sogenannte «Dichtestress» – ein biologistisches, klassisch xenophobes Pseudokonstrukt, das nicht mehr besagen sollte, als dass man sich irgendwie halt nicht mehr wohlfühlt und dass das irgendwie ja nur mit den Ausländern zu tun haben kann. Heute spielt der Dichtestress trotz angestrengter Wiederbelebungsversuche praktisch keine Rolle in der Debatte. Mit dem Schreckgespenst der «10-Millionen-Schweiz» ist zwar ein anderes Schlagwort lanciert worden, um dieselben Affekte zu bedienen, aber so richtig zum Fliegen kommt es nicht.
Stattdessen werden die aktuellen Debatten ganz klar dominiert von der Angst vor Arbeitslosigkeit, der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und der Lohnentwicklung. Die volkswirtschaftlichen Daten nähren diese Befürchtung zwar nur sehr punktuell, in bestimmten Grenzregionen und bei gewissen Kategorien von Ü-50-Arbeitnehmerinnen. Die Gegner der Freizügigkeit treten inzwischen jedoch fast schon auf wie Anwältinnen der untersten Einkommensklassen und Vorkämpfer des kompromisslosen Lohnschutzes.
Es nimmt einigermassen groteske Züge an, besonders wenn Figuren wie Magdalena Martullo-Blocher uns in der Abstimmungs-«Arena» erklären, die Freizügigkeit sei nur im Interesse der Manager und Grosskonzerne, bestrafe aber den kleinen Mann. Schon seit langen Jahren bildet die Europapolitik einen Keil, der das Schweizer Wirtschaftsestablishment spaltet. Jetzt allerdings erreichen wir eine neue Eskalationsstufe: eine SVP, die anfängt, Klassenkampf von rechts zu betreiben, und nicht mehr nur die classe politique, sondern die Schweizer Wirtschaft des Volksverrats bezichtigt.
Dass die SVP de facto den Platz der Schweizer «Arbeiterpartei» einnimmt, ist zwar ganz und gar nichts Neues. Bei den untersten Einkommen und den Niedrigqualifizierten hat sie schon lange den höchsten Wähleranteil. Bisher hat sie diese Erfolge jedoch dadurch erzielt, dass sie mit ihrer nationalistischen und xenophoben Agenda die sozialen Fragen neutralisieren konnte. Diese Strategie dürfte schwieriger werden. Die Entwicklung dürfte verlaufen wie in anderen Ländern auch. Wer die Unterschichten bei der Stange halten will, muss ein sozialpolitisches Versprechen machen.
Die grosse Frage ist demnach: Wird diese SVP, zu deren DNA der sozialpolitische Kahlschlag immer gehört hat, es zustande bringen, aus ihrem anti-etatistischen Herzen eine Mördergrube zu machen? Das Lügen beherrscht sie. Aber ist sie für so viel strategische Selbstverleugnung diszipliniert und kaltschnäuzig genug?
Vorderhand hat die Volkspartei als Gegnerin der Konzerne und Vorkämpferin für gute Löhne ein gröberes Glaubwürdigkeitsproblem. Nicht nur deshalb, weil mit Martullo-Blocher das erdrückendste Symbol für die Oligarchisierung der Schweizer Politik zur dominierenden Figur geworden ist, sondern auch weil die Partei mit letzter Konsequenz absolut alle Lohnschutzmassnahmen und alle Formen der Sozialhilfe permanent bekämpft. Auch die flankierenden Massnahmen will sie bekanntlich abschaffen. Wenn die Partei vom «kleinen Mann» tatsächlich an ihrem sozialpolitischen Engagement gemessen würde, wäre die Bilanz desaströs.
Allerdings hat Trump ja den schlagenden Beweis geliefert, dass man mit blosser Rhetorik extrem weit kommen kann. Zwar erscheint seine Wiederwahl gerade zweifelhaft, doch wir haben inzwischen gelernt, solche Prognosen mit Vorsicht zu geniessen: Überraschungen an der Urne sind bekanntlich immer möglich. Den inneren Führungszirkel der SVP würde ein Trump-Sieg wohl simpel und schlicht in Ekstase versetzen. Er braucht jetzt dringend die Bestätigung: Dem klassenkämpferischen Diskurs müssen Taten gar nie folgen.
Illustration: Alex Solman