Carsten Nicolai ist einer der wichtigsten zeitgenössischen Künstler und unter dem Namen Alva Noto einer der bedeutendsten Vertreter der elektronischen Musik.

«Es geht darum, die Zeit zu fühlen, in der man lebt»

Alva Noto beendete gerade seine neue Platte, da ging Wuhan in den Lockdown. Nun spendet seine elektronische Musik Kraft und Wärme, gerade weil sie sich nicht aufdrängt. Ein Gespräch über Raumschiffe, Rorschachtests und Pippi Langstrumpf.

Von Max Dax (Text) und Tereza Mundilová (Bilder), 12.09.2020

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Mit diesem Klang im Rücken müssen wir uns vor der Isolation durch das Virus nicht mehr fürchten: Alva Notos vor kurzem veröffentlichtes Album «Xerrox, Vol. 4» trifft den Nerv unserer Zeit auf die beruhigendste Art und Weise, die wir uns vorstellen können. Sobald die «Xerrox»-Musik erklingt, verwandelt sie jeden Raum in eine Atmosphäre, die imstande ist, ihre Hörerinnen wie ein Kokon zu umhüllen. Wenn eine Musik­komposition auch angesichts der Pandemie­bedrohung eine stärkende, wenn nicht sogar heilende Wirkung zu entfalten vermag, dann wohl diese.

Der studierte Landschafts­architekt Carsten Nicolai zählt zu den bedeutendsten bildenden Künstlern unserer Zeit und zugleich – unter seinem Musiker­namen Alva Noto – zu den relevantesten Repräsentanten der deutsch­sprachigen elektronischen Musik seit Kraftwerk. Für seine Film­musik zu «The Revenant» gemeinsam mit Ryuichi Sakamoto wurde er für den Golden Globe nominiert. Sein gemeinsam mit Frank Bretschneider und Olaf Bender gegründetes Label Raster-Noton galt bis zu dessen Einstellung 2017 als eine der wegweisenden Adressen für elektronische Gegenwarts­musik in Europa. Für die Republik hat Max Dax eines der selten gewährten Interviews mit Alva Noto geführt.

Wie erging es Ihnen während des Lockdowns?
Glücklicherweise war ich nicht allein. So fiel es mir wohl leichter, die Zeit zu überstehen. Wobei: Die selbst gewählte Isolation war schon immer ein Teil meines Programms. Nur in der Isolation kann ich mich konzentrieren und Dinge entstehen lassen. Insofern war es für mich schön, fast wie ein Geschenk.

Könnte es für Sie ewig so weitergehen?
Das ist eng verknüpft mit der Frage, welche Art von Freiheit wir besitzen – und welche Freiheit wir haben wollen. Meine letzten Jahre waren extrem. Ich war permanent auf Reisen. Wenn es unmöglich wird, einfach einmal zwei bis drei Monate aus dem Wahnsinn des eigenen Alltags auszusteigen, dann läuft etwas grund­sätzlich schief. Dank des Lockdowns haben sich viele Leute diese Frage zum ersten Mal ernsthaft gestellt. Jetzt müssen wir Antworten finden.

Sie wären während der Zeit des Lockdowns vermutlich als Musiker einmal um die Welt gereist, hätten Konzerte gegeben und Ausstellungen gehabt.
Und das ist jetzt alles nicht mehr möglich. Ich bin als Performer angewiesen auf die Möglichkeit, immer und überallhin reisen zu können. Es wird Jahre dauern, bis die alte Normalität zurückkehrt – wenn sie denn überhaupt zurück­kehren wird.

Haben Sie während des Lockdowns intensiver Musik gehört als sonst?
Ja, mit Sicherheit. Vor allem die B-Seite von David Bowies Album «Low» sowie Morton Feldmans Album «For Philip Guston» für Flöte, Schlagzeug und Celesta. Ich habe ganze Wochen in meiner Wohnung verbracht. In dieser Zeit habe ich ganz anders Musik gehört als je zuvor. Besonders nachts, wenn alles schläft … das liebe ich.

Viele Menschen haben gesagt, Musik habe ihnen während des Lockdowns Halt gegeben. Eigentlich faszinierend: Gerade die Abstrakteste unter den Kunst­formen, die unsichtbare Musik, vermag uns Menschen zu trösten.
Während des Lockdowns erschien meine Cover­version von «A Forest» von The Cure. Für mich hörte sich die Platte auf einmal an wie der Soundtrack zum Lockdown. Das war gar nicht so geplant, aber es passte umso besser, auch als Vorbote zu «Xerrox, Vol. 4». Zeit zum Reflektieren zu haben, war ein Geschenk. Und in dieses Zeit­vakuum passte meine melancholische Reise­musik bestens hinein.

In Ihrer «Xerrox»-Musik taucht immer wieder ein Geräusch aus dem Nichts auf, eine Art aufgekratzter Donner, ein schabendes, knatterndes Geräusch. Was hat es mit diesem geheimnis­vollen Klang auf sich?
Die ursprüngliche Idee zu meinem auf fünf Alben angelegten Zyklus kam mir in der Stadt Yamaguchi in Japan, als ich dort Mitte der Nuller­jahre für ein paar Wochen in einem Hotel­zimmer gestrandet war. In diesem Hotel lief ununterbrochen Musik, aber ganz leise, knapp oberhalb der Wahr­nehmungs­grenze. Ich habe mir vor Ort ein kleines japanisches Hightech-Aufzeichnungs­gerät gekauft und diese Musik aufgenommen. Mein Computer konnte das extrem hochauflösende File dann aber nicht korrekt lesen und spielte es stattdessen auf halber Geschwindigkeit und mit viel Noise ab, weil das Programm offenbar versuchte, die Lücken mit Information zu interpolieren. Da kam mir die Idee zu «Xerrox»: dass ich sozusagen ein Bild nehme und es wieder und wieder kopiere und vergrössere, bis es immer roher und abstrakter wird – aber doch das gleiche Bild bleibt. Das lässt sich auch in der Musik machen: Der Sound wurde immer abstrakter, und gleichzeitig klangen diese Stör­geräusche für mich immer interessanter. Das Aufnahme­gerät entpuppte sich als echtes Instrument: Ich konnte die Bitrate, also die Auflösung dieser verlangsamten Hotel­zimmer­musik, so lange herunter­fahren, bis nur noch ein Knistern und Rauschen übrig blieb. Zugleich hatte dieses Geräusch eine eigene, lyrische Qualität, die man sonst nicht bekommt, ursprünglich bestand es ja aus Melodien. Daher kommt übrigens auch der Name des Projekts, Xerrox. Xerox ist die Mutter aller Fotokopierer.

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Alva Noto - Xerrox Voyage (Xerrox Vol. 4)

Betrachten Sie sich eigentlich als Komponist, wenn Sie einen gefundenen Klang – am Ende nichts anderes als Musique concrète – manipulieren?
Vor Jahren hätte ich das sofort verneint. Heute habe ich den Mut, da einfach Ja zu sagen. Ja, ich sehe mich im ganz klassischen Sinne als Komponisten. Das von mir erschaffene krachende Rauschen ist, wie ich es nenne, der Calypsoid, der Fels, der dem Meer entgegen­gesetzt ist, das für versöhnliche Klänge steht, im Sturm aber auch sehr unversöhnlich sein kann. In Homers «Odyssee» hält die Nymphe Calypso Odysseus sieben Jahre auf einer Felsen­insel fest.

Vielleicht war der Aufenthalt auch für Odysseus ein Abbremsen?
Er war insgesamt dreizehn Jahre lang unterwegs. Wir hingegen haben in Europa einen Lockdown hinter uns, der gerade einmal ein paar Wochen oder Monate angedauert hat. Und trotzdem hat diese kurze Erfahrung bereits so viel an Reflexion in uns bewirkt. Ich habe gar keine Lust, mich jetzt gleich an das nächste, das letzte «Xerrox»-Album zu machen, «Xerrox, Vol. 5», weil ich noch ein wenig abwarten will, wie das eigentlich auf mich wirkt, dieses Gefühl, abgebremst worden zu sein. Ursprünglich war die Serie ja so geplant, dass ich sie in fünf, sechs Jahren schaffe. Und jetzt sind es schon über zehn.

Dreizehn, um genau zu sein. So lang wie die Odyssee.
In einem so langen Zeitraum verändert sich der Mensch. Vielleicht nicht charakterlich, aber es passiert einiges, und emotionale Änderungen gibt es auch. 2007 war ich konzeptionell radikaler, heute bin ich introvertierter, reflexiver. Das neue Album ist so aufgebaut, dass man es komplett durchhören kann. Es gibt da keine Stücke mehr, die besonders hervor­stechen sollen, eigentlich handelt es sich um ein einziges langes Stück. Und meine Arbeit als Komponist besteht darin, dass ich versuche, ein Spektrum zu bauen aus Tiefen und Höhen. Dabei ist es von grosser Wichtigkeit, dass auch Töne, die unser menschliches Ohr eigentlich nicht mehr hören kann, noch dabeibleiben.

Sie reden von Phantomtönen. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Irmin Schmidt, dem Gründer der Band Can, der als Kind mit seiner Mutter aus dem von Bombardierung bedrohten Berlin in ein österreichisches Bergdorf evakuiert wurde. Auf der Fahrt mit dem Nacht­zug dorthin konnte er nicht schlafen und hörte das Klacken der Gleise – Metall auf Metall –, Fahr­geräusche und Bahnsteig­ansagen. Und er erzählte mir, dass er in seinem Bett im Schlaf­wagen als Kind Phantom­chöre gehört hat, die wie Gegen­melodien auf diese konkreten Geräusche antworteten.
Musikmachen ist für mich eine Art Rorschachtest. Dieser funktioniert so, dass man ein gefaltetes Papier mit Tinte beträufelt. Aufgeklappt entstehen Muster. Der Test besteht darin, sich zu fragen, was man in diesem Muster sieht. Ich sehe zwei spielende Kinder, Sie sehen einen Clown. Dabei bedient sich unser Gehirn des eigenen Unter­bewusstseins – man erkennt also Bilder, mit denen sich das Unter­bewusstsein gerade beschäftigt. Sehr zur Freude der Psychologen.

Und Sie wenden diese Methode auf die Musik an?
Ja. Das Fantastische an der Musik ist ja, dass sie im Prinzip die anschauliche Ebene überspringt. Musik zu beschreiben, ist eigentlich absurd. Man spürt, ob einem Musik zuspricht oder nicht. Den Grund dafür auf eine intellektuelle oder sprachliche Ebene zu bringen, fällt uns in der Regel jedoch schwer. Die ersten «Xerrox»-Kompositionen waren noch sehr aggressiv, es gab viel Noise. Aber nahm man den Noise einmal unter die Lupe, kamen all die Melodien wieder zum Vorschein, die fast unhörbar in meinem Hotel­zimmer gedudelt hatten. Es geht immer um differenziertes Sehen und Hören. Wenn wir einen Ultraschall von einem Embryo im Bauch der Mutter betrachten, sieht der Arzt in dem verpixelten, abstrakten Schwarz-Weiss-Bild jedes Organ, jeden Knochen und auch alles andere. Aber wirft ein Laie einen Blick auf ein solches Ultraschall­bild, ist es zunächst bloss ein abstraktes Bild. Erst durch Erklärungen begreifen wir die Abstraktion und lernen, wie der Arzt zu sehen. Es gibt in uns das Urverlangen, in der Natur Muster erkennen zu wollen. Das ist implementiert in uns, vermutlich ist es überlebens­wichtig. Deswegen ist der musikalische Rorschach­test für mich aus künstlerischer Perspektive auch so wichtig. Ich habe viele Arbeiten dazu gemacht.

«Ich bin jetzt seit fast dreissig Jahren auf einer Reise ohne Anfang und Ende»: Carsten Nicolai, 1965 in Karl-Marx-Stadt, dem heutigen Chemnitz, geboren …
… wo er heute nach wie vor seinen Wohnsitz hat, wie auch in Berlin. Seine Einzel- und Gruppen­ausstellungen sind über die ganze Welt verteilt.

Jetzt ist mit «Xerrox, Vol. 4» der vierte Teil Ihrer insgesamt auf fünf Alben angelegten Reihe von Reise­alben erschienen. Nach Reisen auf dem Land und unter dem Meer – das waren die Folgen 1 und 2 – geht es jetzt zur Introspektive ins Weltall.
Als ich das «Xerrox»-Projekt startete, sagte ich: Die Musik sollte autobiografisch und ambient sein und eine jeweils andere Reise abbilden. Ausserdem sollte jedes Jahr ein neues Album heraus­kommen. Kurioser­weise habe ich die Alben alle stets im Winter aufgenommen und im Sommer veröffentlicht. Dadurch entstand eine natürliche Distanz. Durch die Pandemie hat sich jedoch der diesjährige Winter­schlaf verlängert. Ich habe die Platte just in dem Moment beendet, als es in Wuhan gerade richtig böse anfing.

Und worum ging es auf «Xerrox, Vol. 3»?
Da ging die Reise nach «Solaris». Der Regisseur Andrei Tarkowski, der Autor des Films «Solaris», hat in meinem Leben schon immer eine sehr grosse Rolle gespielt. Mich fasziniert zudem die Erforschung fremder Planeten­systeme und was im Zuge dessen so alles passieren kann. Es ist naheliegend, dass man auf einer Weltraum­reise auch mal verloren geht. Darum geht es im spirituellen Sinne ja in «Solaris». Ich habe Tarkowskis Original­film genommen und neu geschnitten – natürlich nur für mich, im Privaten, ohne Auftrag. Die Szenen, die auf der Erde spielen, habe ich dabei weitgehend heraus­geschnitten und den Film auf 80 Minuten gekürzt. Zu diesem neuen Schnitt habe ich live gespielt und eigens eine neue Musik komponiert. Aus diesem Fundus an neuem Material habe ich dann die «Xerrox, Vol. 3»-Platte generiert.

Haben Sie Ambitionen, selbst einmal einen Film zu drehen?
Ich schreibe seit vier Jahren an einem Skript. Ich lasse mir dabei alle Zeit der Welt, und mit jedem Jahr wird das Projekt für mich wichtiger und wichtiger. In gewisser Weise schreibe ich jetzt bereits den Soundtrack.

Wird es ein langer Film werden?
Ja, der soll mindestens vier Stunden lang sein.

Sind die Menschen mittlerweile bereit für solche Filme?
Sie sind reif für alles Mögliche! Sie ziehen sich heute endlose Serien rein. Das Format des Films mit einem Anfang und einem Ende finde ich aber nach wie vor viel schöner.

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Alva Noto - Xerrox Canaux (Xerrox Vol. 4)

Inwiefern spielt Lyrik eine Rolle bei Ihrer musikalischen Arbeit?
Für mich ist Technologie eine lyrische Angelegenheit. Die Computer­sprache Unicode ist konkrete Poesie. Und dass Dichtung Abstraktion bedeutet und als sprachliches Format so offen ist wie kein zweites, beschäftigt mich schon seit Jahren. Wenn ich mir eine Odyssee durch das Weltall als etwas Innerliches, als eine Introspektion vorstelle, dann ist sie auch genau das. Nur dass ich mich eben nicht der Form des Gedichts bediene, sondern der Form der elektronischen Musik.

Gibt es bestimmte Lyriker, von denen Sie geprägt wurden? Paul Celan oder Jorge Luis Borges vielleicht?
Ich lese immer wieder Lyrik, aber eher Autoren wie Durs Grünbein oder Heiner Müller, die ich in der Bertolt-Brecht-Schule verorten würde. Und natürlich Paul Celan, ja. In meiner Musik ist es erlaubt, emotionale Befindlichkeit und Fragilität zu zeigen. Und Empathie. Es geht darum, die Zeit zu fühlen, in der man lebt. Während des Lockdowns hörte ich meine eigene Musik, und sie vermischte sich mit den Klängen um mich herum, mit den spielenden Kindern im Hof und anderen Geräuschen. Wenn Musik das abkann, dann ist das eine Qualität, die ich sehr schätze. Wenn sich alles auflöst und zu einer Art Parfüm wird, die Musik sich atomisiert. Das ist die alte Idee von Ambientmusik – dass Musik verschwinden kann, dich nicht permanent fordert, dir Platz lässt und dennoch zugegen ist.

Ambientmusik wird oft für konkrete Räume komponiert. Brian Eno komponierte «Music for Airports». Was für einen Raum imaginieren Sie, wenn Sie komponieren? Eher eine Kathedrale oder eher einen Wald?
Das Universum. Das tiefe Weltall. Wenn man elektronische Musik produziert, hat man die Möglichkeit, Hall­räume zu schaffen, die eigentlich gar nicht existieren können – das habe ich mit diesen Spuren gemacht. Dabei hilft es, sich zu überlegen, wer man eigentlich selbst ist. Ich begreife mich als Partikel, also als etwas, von dem es in diesem Universum sehr wenig gibt: Materie. Und der kleinste Teil von Materie ist Leben. Deshalb sind wir Menschen permanent auf der Suche nach neuen planetaren Systemen, in denen vielleicht Leben existieren könnte. Wir machen das aus einem einzigen Grund: Es wäre schlichtweg zu traurig, wenn wir definitiv wüssten, wir sind allein. Wir Menschen wollen eigentlich Teil von allem sein.

Wenn wir über Klang sprechen: Im All gibt es keinen Klang, nur Vakuum.
Sobald keine Substanz mehr da ist, gibt es auch keinen Schall mehr. Aber die menschliche Vorstellung vom Weltall verbindet sich mit Reflexion – also Hall. Algorithmisch gesehen sind Hall­räume die kompliziertesten Systeme zum Nachbauen im Computer. Jeder Raum hat seinen eigenen Klang und seine eigene Identität. Ein und dieselbe Musik hört sich im Berghain oder bei dir zu Hause ganz anders an. Das hat Hermann von Helmholtz definiert – den Raum als Resonanz­körper. Kathedralen sind natürlich die grössten Hall­räume, denn sie wurden gebaut mit der Intention, dass man in ihnen Resonanz spüren soll. Man sollte spüren, dass Gott existiert. Deshalb sollte auch die Orgel einen Hallraum haben.

Die Orgel – das erste moderne Musikinstrument.
Ich hatte mal eine Performance in einer Kirche in Köln, und der Pfarrer dort war ungeheuer offen für elektronische Musik. Ich habe ihn gefragt, ob ich seine Orgel in mein Liveset mit einbauen dürfe. Das untere Register der Orgel ging bis 16 Hertz, das kann kein existierendes Sound­system mehr wieder­geben. Da merkst du erst einmal, was für eine Klang­vision diesen Orgeln zugrunde liegt. Ich stelle es mir vor wie im Mittel­alter: Alle leben in kleinen Baracken, die Strassen stinken nach Exkrementen, und dann betrittst du einen Raum, der so gross ist wie sonst nichts auf dieser Welt. Natürlich glaubst du dann an Gott.

Die Pioniere der elektronischen Musik haben ja schon vieles geschafft: Sie haben die Zeit durch nächte­lange DJ-Sets aufgelöst, sie imaginierten Hall­räume, die nicht von dieser Welt sind, es wurden wellen­basierte und granulare Synthesizer erfunden. Was es aber nicht gibt in der elektronischen Musik, das ist ein Requiem. Stirbt ein Mensch, wird das Requiem von Mozart oder Händel gespielt – aus Mangel an Alternativen. Alexander Kluge hat kürzlich über Kraftwerk gesagt, dass die elektronische Musik als Gattung und Kraftwerk als Instanz vielleicht die Aufgabe hätten, ein Requiem für unser Jahr­tausend zu schreiben. Ihre «Xerrox»-Musik beruht auf der Idee einer Reise. Vielleicht auch einer Reise des Übergangs vom Leben in den Tod?
Ja, das ist richtig beobachtet. Mein Vater ist im vergangenen Jahr gestorben. Ich habe für die Beerdigung die Musik­auswahl beigesteuert. Zwei Stücke kamen von Arvo Pärt, «My Heart’s in the Highlands» und «Fratres». Es war mir ein grosses Anliegen, Musik zu spielen, die ich emotional wichtig finde und die auch in unserer Zeit verortbar ist. Tod und Leben gehören zusammen, und von beidem handeln die Stücke auf «Xerrox, Vol. 4». Sie liegen mit der Assoziation des Requiems also gar nicht so verkehrt. Es fällt mir jedoch nicht leicht, das auszusprechen. Ich finde es nämlich wichtig, dem Hörer nicht zu viel vorzugeben. Es ist eine der Qualitäten der Musik, dass sie so viele Dimensionen hat – weshalb beschreibende Worte einengend wirken können. Meine neuen Stücke handeln davon, dass das Leben endlich ist. Aber in der indischen Mythologie gibt es Zeichnungen von Raum­schiffen, die angeblich dort einst gelandet sind. Diese Raum­schiffe sind für mich eine Metapher. Sie existieren, um fremde Welten zu erobern – und sei es nur in der Imagination. Da gehöre ich der Schule von Wittgenstein an, der sagt, dass das, was du dir vorstellen kannst, auch existiert.

Und dazu gehören Raumschiffe und das Leben nach dem Tod?
Ich glaube weder an ein Leben nach dem Tod noch an die Apokalypse, aber ich glaube an Raum­schiffe, weil ich sie mir vorstellen kann. Sie haben vorhin gefragt, welche Lyrik ich am liebsten mag. Jetzt kann ich es Ihnen wirklich beantworten: Es ist der «Tractatus» von Wittgenstein. Das ist für mich pure Lyrik. Ich habe ihn gelesen wie ein einziges langes Gedicht, das mich an die Grenzen der Sprache bringt und somit an die Ränder unserer Vorstellungs­kraft. Wittgenstein sagt: Sprache kann mehr Welten bauen, als jemals existieren. In der sogenannten kommunistischen Ideologie, in der ich gross geworden bin, war Wittgenstein der Feind – vor allem weil er dem materialistischen Weltbild widersprach.

Haben Sie künstlerische oder private Vorbilder, die Sie ermutigen, radikale Schritte zu gehen?
Ich habe Picasso erst gehasst, um ihn später fast schon religiös zu lieben. Ich bewundere es, wie er im Leben durch verschiedene Phasen ging: Er war realistisch, er hat die Harlekine gezeichnet, dann kamen der Kubismus und «Guernica». Jede dieser Phasen hat er als eine Heraus­forderung angenommen – und ist einen extrem riskanten Weg dafür gegangen. Auf die heutige Zeit bezogen: Viele Menschen wollen lieber das gleiche Album noch einmal hören, statt sich auf einen neuen Sound einzulassen. Als Künstler muss man sich von solchen Erwartungs­haltungen befreien.

Angst ist ein schlechter Berater?
Angst ist der beste Weg, um Leute zu manipulieren – siehe Corona. Das Los des Künstlers ist vielleicht, dass er angstfrei sein muss. In der Kunst wie in der Musik gibt es immer viele Leute, die dir sagen, was du als Nächstes machen solltest, damit du der nächste grosse Star wirst. Aber erst die Befreiung von diesem Denken bringt grosse Kunst­werke hervor. Schau dir Miles Davis an oder David Bowie: Die haben bis zum Schluss versucht, sich immer wieder neu zu definieren. Die konnten gar nicht anders. Als ich zehn Jahre alt war, habe ich eine Art Nahtod­erfahrung gehabt, als ich meine Milz verlor und auf der Intensiv­station lag. Acht Jahre lang war mein Immun­system daraufhin am Boden. Ich lebte beschützt zu Hause, durfte vieles nicht. Das war mein persönlicher Lockdown, denn jede Art von Infektion war gefährlich. Mein Vater war Arzt und hat mir durch diese Situation geholfen. Ich war also sehr früh damit konfrontiert, dass alles Leben auf dieser Welt endlich ist. Ich habe vor dem Tod keine Angst mehr, denn ich habe verinnerlicht, dass jeder Tag, den ich lebe, ein Geschenk ist. Ich bin wie Pippi Langstrumpf. Ich habe in jungen Jahren eine Furcht­losigkeit bekommen, die mir Freiheit gibt.

Hat es Sie nie gewundert, dass Pippi Langstrumpf ihre Furchtlosigkeit auf einem Koffer voller Gold aufgebaut hat?
Das war doch das perfekte Bild! In gewisser Weise gab Pippis Gold­schatz ihr die Freiheit zur Unabhängigkeit. Natürlich hätten wir alle gerne diese Kiste Gold auch gehabt – aber eigentlich nur, um das Schiff kaufen zu können, das uns nach Hause bringt.

Auf dieser Reise sind Sie auch mit Ihrer «Xerrox»-Reihe?
Ich bin jetzt seit fast dreissig Jahren auf einer Reise ohne Anfang und Ende. Irgendwann begriff ich, dass sich alle Reisen wiederholen – ich kann nicht mehr sagen, wie oft ich in New York, Paris und Tokio war. Ich habe mit dem Zählen aufgehört. Jetzt ist meine Reise die, die mit diesem Album stattfindet. Letzten Endes kann man sich in der Imagination auf jede Reise begeben – womit wir wieder bei Wittgenstein wären. Die Isolation, die wir kollektiv gerade erlebt haben, hat uns die Zeit gegeben, darüber einmal nachzudenken. Fast alle meine Freunde waren oder sind damit beschäftigt, über sich selbst nachzudenken. Sie gehen alle durch eine Krise, die aber für jeden Einzelnen von uns auch sehr positiv ausgehen kann.

Zum Autor

Max Dax ist Autor und Kurator mit Wohnsitz in Berlin. Von 2007 bis 2010 war er Chefredakteur der «Spex». Derzeit ist die von ihm kuratierte Ausstellung «Black Album / White Cube» in der Kunsthal Rotterdam zu sehen.

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