Dank Instinkt und Knüppeln seit 26 Jahren an der Macht: Alexander Lukaschenko bei einer Rede am 9. Mai 2020 in der belarussischen Hauptstadt Minsk. EPA/Sergei Gapon/Pool

Präsident Kalaschnikow

Der belarussische Autokrat Alexander Lukaschenko wankt. Aber er ist noch immer da. Was macht das «System Lukaschenko» aus?

Von Simone Brunner, 04.09.2020

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In Belarus macht gerade ein Witz die Runde, der geht so: Ein Mann geht von der Arbeit nach Hause. Er ist nüchtern, unauffällig, tut niemandem etwas zuleide. Plötzlich hält neben ihm ein awtosak, einer der berüchtigten militärgrünen Gefangenen­transporter mit vergitterten Fenstern. Sonder­polizisten zerren den Mann ins Fahrzeug und hauen ihn mit ihren Schlagstöcken grün und blau. Der Mann fleht: «Lassen Sie mich frei, ich habe doch Lukaschenko gewählt!» Die Polizisten antworten: «Blöd­mann, jeder weiss, dass das niemand getan hat!»

Am 9. August hatte sich Alexander Lukaschenko mit 80 Prozent der Stimmen als Sieger der Präsidentschafts­wahlen feiern lassen – einmal mehr. Mittlerweile ist deutlich, wie fest sein Rückhalt in der Bevölkerung erodiert ist. Gegen den Volkswillen, der sich da auf den Strassen von Belarus formiert, weiss der selbst ernannte «Volks­präsident» Lukaschenko sich nicht mehr anders zu wehren als mit Gefangenen­transportern, Sonder­polizei und sogar Panzern.

Belarus erlebt gerade die grössten Proteste in der Geschichte des Landes. Noch vor wenigen Wochen, als Hundert­tausende Menschen durch die Strassen von Minsk zogen, Lukaschenko von Arbeitern ausgebuht wurde und eine Fabrik nach der anderen aus Protest gegen die gefälschten Wahlen in den Streik trat, da hätten wohl die wenigsten darauf gewettet, dass sich der Präsident noch länger als ein paar Tage würde halten können.

Aber Alexander Lukaschenko ist zäh.

Wie konnte sich der ehemalige Leiter eines kollektiven Land­wirtschafts­betriebs in einem 10-Millionen-Einwohner-Staat im Herzen Europas 26 Jahre lang eisern an die Macht klammern? Und warum droht sie ihm gerade jetzt zwischen den Fingern zu zerrinnen?

Der Mann des Volkes

Einer, der den Aufstieg Lukaschenkos aus nächster Nähe erlebt hat, ist Alexander Feduta. Der promovierte Literatur­wissenschaftler hatte ihn schon bei seiner ersten Wahlkampf­tour 1994 begleitet, später wurde Feduta Lukaschenkos Pressechef und Reden­schreiber. Als «ruhigen, aufmerksamen Menschen mit grossem Charisma» habe er ihn damals erlebt, erzählt Feduta der Republik. Als einen, der seinen Wählern auf seiner Wahlkampf­tour quer durch das Land auch einmal drei bis vier Stunden Rede und Antwort stand.

Ein Auftritt Lukaschenkos in Homel ist Feduta besonders in Erinnerung geblieben: «Nach dreieinhalb Stunden hörte er auf, zog seine Jacke aus, und sein Rücken war völlig von Schweiss durchnässt.» Noch nach seiner Rede habe er in der Menge gebadet, die Menschen hätten ihm ihre Kinder in die Hand gedrückt, ihn um ein Autogramm gebeten. «Er konnte den Leuten zuhören und die richtigen Worte finden, die der Stimmung der Leute entsprochen haben. Er war ein wirklich talentierter Populist.»

Die meisten Nachbarstaaten wandten Moskau nach dem Zerfall der UdSSR den Rücken zu und strebten stattdessen eine Westbindung an: die baltischen Staaten etwa oder die Ukraine. In Belarus aber sehnten sich viele nach einer Wieder­annäherung an Moskau. Eine Aufgabe, die Alexander Lukaschenko wie auf den Leib geschneidert schien. Ihm, dem ehemaligen Apparatschik mit dem bäuerlichen Idiom, über den die intellektuellen Gross­städter die Nase rümpften, der ihn aber als «Mann aus dem Volk» markierte. Und so – mit der Annäherung an Moskau und dem Kampf gegen die Korruption – gewann Alexander Lukaschenko im Juni 1994 die ersten freien und fairen Wahlen in der Geschichte der Republik Belarus.

Einmal an der Macht, machte er sich sofort daran, seine Vollmachten auszubauen. Er zentralisierte den Staat, schaffte Lokal­wahlen ab und zimmerte sich in umstrittenen Referenden eine Verfassung mit nahezu unbeschränkten Vollmachten, mit Todes­strafe und unendlichen Amtszeiten.

Das brachte ihm das zweifelhafte Label ein, der «letzte Diktator Europas» zu sein. Verpasst hat es ihm die ehemalige US-Aussenministerin Condoleezza Rice, es blieb kleben. Ihn selbst scheint das wenig zu stören. Beim Besuch des aktuellen US-Aussen­ministers Mike Pompeo prahlte Lukaschenko im Februar 2020, dass sich seine Diktatur von anderen Ländern nur darin unterscheide, «dass bei uns am Wochenende alle ruhen und nur der Präsident arbeitet».

Freiheit gegen Sicherheit

Im Zentrum seiner Herrschaft steht ein impliziter sozialer Vertrag: moderater Wohlstand für die Bürger, die sich im Gegenzug aus dem politischen Tages­geschäft heraus­halten und keine demokratische Teilhabe einfordern. Tatsächlich ersparte Lukaschenko dem Land das Schicksal anderer ex-kommunistischer Länder – Ausverkauf, Bankrott, Arbeits­losigkeit, Oligarchisierung –, er züchtete sich aber zugleich einen teuren, ineffizienten Wirtschafts­sektor heran, der nur noch durch russische Subventionen am Leben erhalten wird.

Der staatliche Anteil an der Wirtschaft liegt in Belarus bei 60 bis 70 Prozent. «Ein typisches Unter­nehmen in Belarus ist in Staats­hand, verwaltet von einem Ministerium, einem staatlichen Trust oder einer lokalen Behörde und wird von staatlichen Subventionen unterstützt», schreibt das Finnish Institute of International Affairs in einem Bericht. Bei den landwirtschaftlichen Betrieben liegt der Staats­anteil sogar bei 87 Prozent.

Diese Wirtschafts­politik ist das Herzstück des «Systems Lukaschenko»: Während alle anderen postkommunistischen Länder – von Polen bis Russland – darangingen, ihre Wirtschaft zu privatisieren, drehte Lukaschenko nach seinem Amtsantritt die Uhren sogar zurück. Die wenigen Unter­nehmen, die bereits privatisiert worden waren, wurden wieder verstaatlicht und der weitere Verkauf von «Volkseigentum» gebremst.

So mussten potenzielle Käufer eine lange Liste von Garantien erfüllen, um überhaupt für den Kauf von Staats­betrieben infrage zu kommen: von der Beibehaltung des bisherigen Profils des Unter­nehmens bis hin zu «sozialen Garantien» für die Angestellten. Was die Unter­nehmen wiederum unattraktiv für Investoren machte – die Privatisierung kam damit praktisch zum Erliegen. Ein System, das wohl eher als «bürokratischer Kapitalismus» beschrieben werden kann denn als leninistischer Enteignungs-Sozialismus.

Derweil baute Lukaschenko seinen Zugriff auf die Chefetagen aus, hievte loyale Apparatschiks an die Spitze der Staats­betriebe, denen er mit Strafverfolgung drohte, sollten sie Arbeiter entlassen. Während er seine Bürger vor dem «wilden Markt» und dem «Raubtier­kapitalismus» à la russe warnte, lobte er – von der Staats­propaganda unterstützt – seine etwas eigenwillig interpretierte «soziale Markt­wirtschaft». Tatsächlich sorgte das System lange Zeit dafür, dass der Beschäftigungs­grad hoch und die Pleitewelle niedrig blieb. Und es hatte den für einen Autokraten äusserst praktischen Neben­effekt, dass sich neben dem Staat keine finanziell potenten Macht­zentren im Land entwickeln konnten: keine sogenannten Oligarchen, die auch politisch mitmischen wollen.

Die staatliche Propaganda über das «starke und aufblühende Belarus» und das «belarussische Wirtschafts­wunder» ist also nicht ganz falsch. So gibt es in Belarus laut der Weltbank weniger soziale Ungleichheit als in anderen, vergleichbaren Ländern. «Darin besteht der fundamentale Vorteil des belarussischen Modells gegenüber Ländern, die den Weg der markt­wirtschaftlichen Reformen eingeschlagen haben», schreibt Walerij Karbalewitsch in seiner Lukaschenko-Biografie. «Die soziale Orientierung seiner Politik war sein ganzer Stolz, sozusagen der Sockel, auf dem viele Jahre sein Image, seine Zustimmung und seine Legitimität basierten.»

So wurde aus dem energischen Kämpfer gegen Korruption und dem «Russland-Flüsterer» der fürsorgliche batka (Väterchen), der die Belarussinnen vom neoliberalen Zeitgeist abgeschottet und bewahrt hat. Mit diesem Mix aus Sowjet­nostalgie, Paternalismus und Repressionen, einer Art postsowjetischer Antischock­therapie oder gar «Sowjetunion en miniature», konnte Lukaschenko ohne nennenswerte Krisen ein Viertel­jahrhundert lang durchregieren. Einmal abgesehen von einigen Protesten, die allerdings schnell nieder­geknüppelt wurden.

Bis heute.

Wenn es nur noch um die Angst geht

Das Jahr 2020 hat den Stützen des «Systems Lukaschenko» einen kräftigen Tritt versetzt. Einerseits ist da Corona, das der Präsident als «Psychose» abtat, während er den Kampf gegen die Pandemie privatisierte – ausgerechnet in einem Staat, der seinen Bürgern Sicherheit, Stabilität und Schutz versprach. Andererseits ist da der Streit mit Russland über die Ölpreise, der tiefe Lücken ins Budget gerissen hat. So tief, dass am Ende die nötigen Rubel für den berühmten belarussischen Sozial­vertrag fehlen.

Hinzu kommt, dass Lukaschenko im Wahlkampf für seine sechste Amtszeit viele Fehler gemacht hat. Statt empathisch über Covid-19-Tote zu sprechen, spottete er über sie. Statt Gegen­kandidaten zu den Wahlen zuzulassen, liess er sie alle verfolgen, bis auf Swetlana Tichanowskaja, die der erklärte Chauvinist schlichtweg nicht für voll nahm – was, wie sich später herausstellte, seine wohl grösste Fehl­einschätzung war. Statt die Proteste gegen Wahl­fälschung gewähren zu lassen, liess er sie niederknüppeln.

Dass Lukaschenko jetzt, in der grössten Krise seiner Amtszeit, keine Kompromisse machen würde, das war absehbar. Von einem «Gorbatschow-Komplex» spricht etwa sein Biograf Walerij Karbalewitsch, benannt nach dem glücklosen letzten Präsidenten der Sowjetunion: «Aus Lukaschenkos Sicht hat Michail Gorbatschow 1991 die Macht verloren, weil er zu schwach war und keinen politischen Willen hatte, an der Macht zu bleiben», sagt Karbalewitsch. Selbst Politikern, die nicht gerade für Umsicht und Deeskalation bekannt sind, wie dem ehemaligen serbischen Präsidenten Slobodan Milošević oder dem 2014 geflohenen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch, warf Lukaschenko Feigheit und Schwäche vor. «Ich werde mein Volk, meinen Staat und meine präsidiale Macht immer verteidigen, wenn nötig mit einer Waffe in der Hand und auch allein», sagte Lukaschenko in einem Interview mit dem russischen Fernseh­sender TV Zentr im Jahr 2005.

Aber gerade diese totalitäre Hybris könnte Lukaschenko nun zu Fall bringen. Er ist nicht mehr der Volkstribun von einst, der nach den Wirren der Wende eine politisch, wirtschaftlich und psychologisch traumatisierte Bevölkerung an seine harte Hand nimmt, sondern der Protagonist einer «exzentrischen Ein-Mann-Show», der mit seinen bizarren Medien­auftritten einer modernen, digitalaffinen, selbstbewussten und offenen Generation – Belarus ist das Land mit dem höchsten Pro-Kopf-Anteil an Schengen-Visa – nichts mehr anzubieten hat ausser Angst.

Doch gerade weil Lukaschenko so viele Fehler gemacht hat, von der Wirtschaft bis hin zur Pandemie, haben die Proteste unterdessen alle sozialen Schichten und Alters­gruppen erfasst. Vor aller Augen ist aus dem begnadeten Seelen­fänger, dem väterlichen batka mit dem schrulligen Heugabel-Populismus, ein völlig aus der Zeit gefallener Mann geworden, der mit einer Kalaschnikow in der Hand nach den Geistern aus seiner eigenen Propaganda jagt.

Ob die Angst allein reichen wird, ihn zu halten?

Noch steht der letzte Pfeiler

Einige nennen ihn schon den «Omon-Präsidenten», nach der brutal durch­greifenden Sonder­polizei Omon, der «mobilen Einheit für besondere Bestimmung». Und noch wirkt es so, als stünde der Sicherheits­apparat geschlossen hinter ihm. Zwar gab es Berichte von Polizisten, die aus Protest gegen die Gewalt­exzesse ihren Dienst quittiert und die Seiten gewechselt haben. Rund 1000 solche Fälle gebe es, schätzt der belarussische Sicherheits­experte Andrei Porotnikow. Doch das sind Peanuts verglichen mit den insgesamt geschätzten 120’000 Mitarbeiterinnen der silowiki, der Sicherheits­kräfte, die dieser Tage von Lukaschenko umgarnt, beklatscht, mit Medaillen überhäuft und im Staats­fernsehen in Szene gesetzt werden.

Wer dem Sicherheits­apparat den Rücken kehrt, muss nicht nur um seine Sicherheit fürchten. Sondern auch um seine Existenz. «Den silowiki fehlt eine klare Perspektive vonseiten der Opposition», sagt der Sicherheits­analyst Andrei Porotnikow. Was passiert mit den Überläufern? Wie können sie ihr Leben finanzieren? Wie sich vor Strafverfolgung schützen?

Schodsina, eine Provinzstadt nordöstlich von Minsk, berühmt für sein Untersuchungs­gefängnis. Hier lebt Jewgenij Schpakowskij, 31 Jahre alt, Dreitagebart, Kurzhaarschnitt. Die Republik erreicht ihn über den Messenger­dienst Telegram. Schpakowskij hat erst vor wenigen Tagen seinen Dienst bei der Kriminal­polizei quittiert, weil er sich offen gegen die Polizei­gewalt ausgesprochen hatte. Danach musste er fünf Tage untertauchen, ihm droht eine Gefängnis­strafe. Zwar wird Schpakowskij von vielen für seinen Mut bewundert, aber noch weiss er nicht, wie er seinen Kredit abbezahlen und seine Frau und sein einjähriges Kind ernähren soll.

Schpakowskij wandte sich an die Öffentlichkeit, weil er hoffte, dass andere Kollegen seinem Beispiel folgen werden. Aber aus dem staatlichen Dienst ausgetreten sind nur wenige. «Das System ist so aufgebaut, dass die Leute das Gefühl haben, abseits des Staates keine Perspektive zu haben», sagt Schpakowskij.

Nicht zuletzt deswegen würden viele silowiki nicht die Seiten wechseln, «weil sie davon ausgehen, dass es ihnen nach einem Macht­wechsel schlechter gehen würde als unter Lukaschenko», sagt der Publizist Alexander Klaskowskij. Insbesondere jene, die sich bei den Gewalt­exzessen einiges haben zuschulden kommen lassen und die Vergeltung der Revolution fürchten. Doch klar ist: Im belarussischen Sicherheits­apparat sitzen nicht nur loyale Lukaschenko-Fanatiker, sondern auch Pragmatiker. Sollte sich der Wind in den Reihen drehen, könnte auch diese letzte Stütze Lukaschenkos wie ein Karten­haus in sich zusammenfallen.

Doch was käme nach Lukaschenko? Ein belarussischer «Lech Walesa», wie zuletzt der charismatische Streik­führer Sergei Dylewskij bezeichnet wurde? Der ehemalige Banker Wiktor Babariko, der innerhalb weniger Tage 400’000 Unterschriften für seine Kandidatur sammeln konnte und derzeit im KGB-Gefängnis sitzt? Swetlana Tichanowskaja, laut ihren Anhängern nach diesen Wahlen die legitime Präsidentin des Landes, die derzeit in Litauen im Exil ist?

Oder ein Kandidat von Moskaus Gnaden? Nach anfänglichem Zögern hat sich der russische Präsident Wladimir Putin nun recht klar hinter Lukaschenko gestellt. Aber wird das so bleiben?

Weder EU noch Russland – es geht um Belarus

Mit keinem anderen Land ist Russland so eng verbunden wie mit der Republik Belarus, die beiden Länder bilden seit 1999 einen Unions­staat, wenn auch mehr auf dem Papier als in der politischen Realität. Die Beziehungen zwischen Russland und Belarus sind viel weniger vorbelastet als etwa mit der Ukraine. In Belarus gibt es keine gewaltsame Geschichte der Russifizierung, und die Sowjetzeit wird als weit weniger problematisch empfunden als in anderen ehemaligen Sowjet­republiken. Zudem hat sich das nationale Bewusstsein der Belarussinnen erst spät entwickelt – viele sind sogar der Meinung, dass es sich erst gerade jetzt, im Sommer und Herbst 2020, so wirklich entfaltet.

Trotz der engen Bande ist es eine komplizierte On-off-Beziehung zwischen Lukaschenko und Putin, persönlich wie politisch. Aus dem alten Modell «Öl gegen Küsse» – devotes Süssholz­raspeln aus Minsk gegen billige Rohstoff­lieferungen aus Moskau – ist eine veritable Beziehungs­krise geworden. Die Kurzform: Putin will nur dann weiterhin billiges Öl nach Belarus liefern, wenn es eine vertiefte Integration zwischen den beiden Ländern gibt. Das wiederum lehnt Lukaschenko ab, der überhaupt versucht, sich den grossen, dominanten Partner im Osten vom Hals zu halten und zugleich die Bande zum Westen zu stärken. Insbesondere seit 2014, dem annus horribilis der russischen Krim-Annexion im südlichen Nachbarland, der Ukraine, das wohl auch in Minsk Ängste vor einem ähnlichen Szenario im weitgehend russisch­sprachigen und russophilen Belarus geschürt hat.

Pikant, dass ausgerechnet Lukaschenko bisher weder die Krim als russisch anerkannt hat noch die selbst erklärten prorussischen Republiken im Kaukasus, Südossetien und Abchasien, die völkerrechtlich zu Georgien gehören. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie: Es ist Putin, der Lukaschenko in dieser schweren Stunde mit Finanz­spritzen und Propaganda den Rücken frei hält. Das wird sich der russische Präsident aber auch etwas kosten lassen. Opfert Lukaschenko also am Ende die Souveränität seines Landes, als deren Bewahrer er sich zuletzt immer wieder inszenierte, für seinen eigenen Machterhalt?

Dennoch: Wer die Proteste gegen den alternden Diktator als geopolitischen Konflikt liest, der missversteht sie. Auch wenn Lukaschenko die pikante Lage des Landes zwischen der EU und Russland immer wieder für seine eigenen Zwecke zu nutzen wusste, spielt diese Frage bei den Protesten keine Rolle. Die Menschen, die zu Hundert­tausenden auf die Strassen strömen, tragen keine EU-Flaggen und auch keine russische Trikolore. Sie fordern keine Annäherung an die EU, aber auch keine Integration mit Russland. Sondern nur, dass Lukaschenko geht. Die Protest­führerin Maria Kolesnikowa wird nicht müde zu betonen, dass nicht die EU oder Russland, sondern allein die Belarussinnen die Sache in der Hand haben. Zuletzt hatte sie Brüssel sogar dafür kritisiert, dass sie Sanktionen verhängt, weil es den Eindruck erweckt, die Bewegung hätte eine proeuropäische Schlagseite. «Wir wollen gute Beziehungen zu allen unseren Nachbarn – zur EU, zur Ukraine, zu Russland», betonte Kolesnikowa an einer Medienkonferenz.

Ob dieser Wunsch nach Selbst­bestimmung gerade vom Mann im Kreml geachtet wird, der für seine Abneigung gegen jede Art von «Farbrevolution» bekannt ist, das darf bezweifelt werden. Denn möglicher­weise weist das belarussische Drama über die Landes­grenzen hinaus – es könnte der Spiegel sein, in den 700 Kilometer weiter östlich von Minsk ein ebenso alternder, paternalistischer und immer wieder mit Protesten konfrontierter Autokrat gerade blickt: Wladimir Wladimirowitsch Putin.

Zur Autorin

Simone Brunner lebt als freie Journalistin in Wien. Osteuropa und namentlich Russland und Belarus zählen zu ihren Spezial­gebieten. Sie schrieb in der Republik unter anderem über den russischen Oppositionspolitiker Alexei Nawalny und den Telegram-Gründer Pawel Durow.

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