Strassberg

Erklärung und Erzählung

Theorien schaffen eine Glaubensgemeinschaft, die ausschliesst. Erzählungen schaffen ein offenes Netz, das nie fertig geknüpft ist. Womit haben wir es bei Verschwörungen zu tun?

Von Daniel Strassberg, 25.08.2020

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Nachdem ich meine letzte Kolumne abgeliefert hatte, bat mich die Redaktion, den Begriff «Verschwörungs­theorie» durch «Verschwörungs­erzählung» zu ersetzen. Offenbar war man der Meinung, dass die Theorie eine höhere Erkenntnis­form sei als die Erzählung. Ich schaltete auf stur und beharrte auf den «Verschwörungs­theorien», versprach aber im Gegenzug zu erklären, weshalb ich eine Erzählung einer Theorie allemal vorziehe.

Et voilà:

Eine Theorie ist ein Set von allgemeinen Behauptungen, die die Welt oder Ausschnitte der Welt erklären sollen, indem sie Gesetz­mässigkeiten oder Strukturen hinter den sichtbaren Phänomenen freilegen. Eine Theorie besteht aus Sätzen, die den Anspruch haben, immer und überall zu gelten, sogenannten All-Sätzen. Den Satz, die Fall­beschleunigung beträgt im Vakuum 9,81 m/s2 unabhängig von der Masse des Körpers, müsste man eigentlich ergänzen: Immer und überall beträgt die Fall­beschleunigung … etc.

Weil aber Theorien diesen Ewigkeits- oder Absolutheits­anspruch haben, sind sie «anonym». Natürlich weiss jeder, dass Johannes Kepler die Planeten­bahnen berechnet und Isaac Newton die Gravitations­kraft entdeckt hat, aber an den Theorien würde sich gar nichts ändern, wenn Kepler die Gravitation und Newton die elliptischen Planeten­bahnen entdeckt hätte. Solange keine internen oder externen Wider­sprüche entstehen, sieht man einer Theorie nicht an, ob sie stimmt oder nicht.

Bis solche Wider­sprüche auftreten, ist das Fall­gesetz so gut wie die Homöopathie oder die Flat-Earth-Lehre. Das meinte der an der ETH Zürich lehrende Wissenschafts­philosoph Paul Feyerabend mit seinem berühmt (und berüchtigt) gewordenen Ausspruch «Anything goes».

Weil man also einer Theorie nicht ansieht, ob sie stimmt oder nicht, hat sich in Europa seit etwa 400 Jahren ein System etabliert, das über die Richtigkeit von Theorien entscheiden soll: die Wissenschaft. Die Wissenschaft ist gleichsam die Empa, die Eidgenössische Material­prüfungs­anstalt der Theorien.

Obschon es die Rolle der wissenschaft­lichen Forschung ist, Theorien zu überprüfen, sind diese nicht vollkommen wasser­dicht. Zwei eigentümliche und gefährliche Tendenzen, die praktisch alle Theorien aufweisen, gefährden ihre Objektivität und Neutralität: Theorien neigen sowohl zur Selbst­immunisierung als auch zur Ausweitung ihres Geltungs­bereichs. Karl Popper, der unermüdliche Kämpfer für die Objektivität der Wissenschaften, glaubte in der Falsifikation ein sicheres Kriterium gegen die Selbst­immunisierung gefunden zu haben. Die Theorie, dass alle Schwäne weiss sind, ist falsch, sobald der erste schwarze Schwan auftaucht. Doch leider funktioniert die Falsifikation nur ganz selten, weil Theorien selbst entscheiden, welche Fakten für sie relevant und der Über­prüfung wert sind. So entschied die Physik Ende des 18. Jahr­hunderts, dass Elektrizität keine wichtige physikalische Erscheinung ist, obschon auf Jahr­märkten schon lange elektrische Sensationen vorgeführt wurden.

Die Venus electrificata war eine Dame, die durch eine Leidener Flasche elektro­statisch aufgeladen wurde. Für ein paar Groschen durften die Herren Zuschauer die Dame küssen – und erhielten einen elektrischen Schlag. Das wurde von der Wissenschaft nicht zur Kenntnis genommen – nur um die newtonsche Mechanik zu retten.

Zur Selbst­immunisierung gehört auch, dass die meisten einer Theorie wider­sprechenden Fakten mit ein paar wenigen Schrauben­drehungen in die Theorie integriert werden können. Die Theorie, wonach die Sonne um die Erde kreist, erklärte die Himmels­erscheinungen tatsächlich genauso gut wie Kopernikus’ heliozentrisches Weltbild, nachdem Ptolemäus den Planeten einige Extra­runden, sogenannte Epizyklen, verordnet hatte.

Dazu kommt, dass Theorien in der Regel für einen eingeschränkten Geltungs­bereich entwickelt werden, sich mit der Zeit aber für alles und jedes zuständig erklären – um ihren Vertretern Macht, Einfluss oder Finanzen zu sichern. Die Hirn­forschung hat in den letzten Jahr­zehnten zwar einige recht interessante Befunde erhoben, aber zu behaupten, ein Hirnscan könne erklären, weshalb Frauen nicht einparken und Männer nicht zuhören können, ist vollkommener Quatsch. Oder nehmen wir die Quanten­physik: Obwohl sie ausschliesslich für den subatomaren Bereich Geltung hat, wird sie immer wieder als Beweis dafür heran­gezogen, dass die Welt vom Zufall regiert wird.

Diese beiden Tendenzen, die Selbst­immunisierung und die Ausweitung, verhindern eine saubere Über­prüfung von Theorien und sind dafür verantwortlich, dass jede Theorie in Gefahr ist, in Ideologie umzukippen. Und wo Ideologien im Spiel sind, ist auch Gewalt nicht fern.

Okay, zweiter Anlauf:

Nachdem ich meine letzte Kolumne abgeliefert hatte, bat mich die Redaktion, den Begriff «Verschwörungs­theorie» durch «Verschwörungs­erzählung» zu ersetzen. Diesem Schwachsinn den Status einer Theorie zuzubilligen, sei zu viel der Ehre, fand sie. Offenbar war man der Meinung, dass die Theorie eine höhere Erkenntnis­form sei als die Erzählung. Ich schaltete auf stur und beharrte auf den «Verschwörungs­theorien», versprach aber im Gegenzug zu erklären, weshalb ich eine Erzählung einer Theorie allemal vorziehe.

Et voilà:

Pythagoras (570–510 v. u. Z.) – ja, genau der mit der Hypotenuse und so – liess sich, wie viele Griechen damals, im süditalienischen Metapont nieder. Er war nicht in die Basilikata gekommen, um in der Abgeschiedenheit dieser wilden, zerklüfteten Berg­landschaft ungestört seinen Studien nachzugehen, sondern um von dort aus seine Theorie zu verkünden. Aus welchem Urstoff der Kosmos bestehe war das Problem, um das sich die Philosophen jener Zeit zankten. Das Wasser sei der Urstoff, aus dem alles entstehe, meinte Thales von Milet, das Unbegrenzte (apeiron) sein Schüler Anaximander, die Luft, meinte Anaximenes. Für Pythagoras stellte sich die Sache etwas komplexer dar. Er glaubte nicht an einen einzigen Urstoff, sondern an harmonische Verhältnisse, die sich als Brüche ganzer Zahlen darstellen lassen. Tatsächlich sind in der Natur zahlreiche solcher mathematischen Muster nachweisbar, die Kerne der Sonnen­blume sind beispiels­weise nach der Fibonacci-Reihe angeordnet.

Die Mathematik war für Pythagoras nicht nur die höchste Form der Erkenntnis, sondern auch die Basis einer Lebens­führung, die Glück­seligkeit verheisst. Er verbot beispiels­weise den Verzehr von Bohnen, weil aus ihnen, wenn sie feucht in einem Krug begraben werden, Würmer entstehen, die wie Baby­köpfe aussehen. Auch das war eine Theorie. Wie immer, wenn jemand ewiges Glück verspricht, strömten ihm die Menschen in Massen zu. Scharen reisten nach Metapont, um mit ihm und nach seinen Regeln zu leben.

Als jedoch einer seiner Schüler, Hippasus, sich mit irrationalen Zahlen zu beschäftigen begann, liess ihn Pythagoras ertränken. Die Kreiszahl π, √(2) oder der Goldene Schnitt lassen sich nicht als Bruch ganzer Zahlen, also nicht als harmonische Proportion, darstellen. Wenn das herauskäme, fürchtete Pythagoras, würde seine Theorie wie ein Karten­haus in sich zusammen­brechen und er würde seine Macht verlieren. Er glaubte also, hart durchgreifen zu müssen.

Wir spulen zweieinhalb Jahr­tausende vor. Auch die Anhänger der QAnon-Bewegung haben eine Theorie: Eine Elite foltert in unterirdischen Verliesen Abertausende von Kindern, um aus ihren Zirbel­drüsen die magische Substanz Adrenochrom zu extrahieren. Beweis: Trump hält auf einem Bild ein Football­trikot mit der Nummer 17 empor, und Q ist der 17. Buch­stabe des Alphabets. Q. e. d.

Q-Anhänger erwarten deshalb von Donald Trump eine gewaltsame Säuberung der Eliten, um diesen Qualen ein Ende zu bereiten. Dass Trump so etwas versuchen könnte, wenn er nicht gewählt wird, halte ich nicht für ganz ausgeschlossen, immerhin scheint sein ehemaliger Sicherheits­berater Michael Flynn der QAnon-Bewegung nahezustehen.

Für Theorien wird gemordet, werden Schlachten geschlagen und Kriege angezettelt, für Erzählungen nicht. Auch das Christentum wurde erst gewalt­tätig, als aus der Erzählung von der Geburt Christi die Theorie wurde, Jesus sei Gottes Sohn.

Bevor Sie weiterlesen: Wie ist es Ihnen beim Lesen der beiden Darstellungen ergangen, worin lag für Sie der Unter­schied, einmal angenommen, die intendierte Aussage ist bei beiden dieselbe?

Wenn Sie so weit sind, lassen wir Walter Benjamin zu Wort kommen, die vielleicht bedeutendste Stimme des 20. Jahr­hunderts, wenn es um das Erzählen geht:

Jeder Morgen unterrichtet uns über die Neuigkeiten des Erd­kreises. Und doch sind wir an merkwürdigen Geschichten arm. Das kommt, weil uns keine Begebenheit mehr erreicht, die nicht mit Erklärungen schon durchsetzt wäre. Mit andern Worten: Beinah nichts mehr, was geschieht, kommt der Erzählung, beinah alles der Information zugute. Es ist nämlich schon die halbe Kunst des Erzählens, eine Geschichte, indem man sie wiedergibt, von Erklärungen freizuhalten. Das Ausser­ordentliche, das Wunderbare wird mit der grössten Genauigkeit erzählt, der psychologische Zusammen­hang des Geschehens aber wird dem Leser nicht aufgedrängt. Es ist ihm freigestellt, sich die Sache zurecht­zulegen, wie er sie versteht, und damit erreicht das Erzählte eine Schwingungs­breite, die der Information fehlt.

Walter Benjamin: «Erzählen».

Worin besteht diese «Schwingungs­breite» der Erzählung, von der Benjamin spricht und die Theorien fehlt? Theorien verarbeiten und ordnen Informationen. Der «Erzähler [hingegen] nimmt, was er erzählt, aus der Erfahrung; aus der eigenen oder aus der berichteten», so Benjamin weiter. Weil sie von Erfahrungen berichten, können uns Erzählungen «rühren». Der Tod des armen Hippasus aufgrund von ideologischer Verblendung kann uns heute noch bewegen, weil er uns an die schrecklichen Bilder der Enthauptungen des IS erinnern kann.

Das emotionale Mitschwingen mit der Erzählung animiert die Hörerin sodann, selbst etwas zu erzählen, entweder die gehörte Geschichte ihren Freunden oder der Erzählerin etwas Passendes aus ihrem eigenen Erfahrungs­schatz. Dadurch «stiftet [die Erzählung] das Netz, welches alle Geschichten am Ende miteinander verbindet». Doch im Gegensatz zur geschlossenen Theorie ist das Netz der Erzählungen unvollständig und offen, immer kann eine weitere daran angeknüpft werden.

Das Netz der Erzählungen stiftet deshalb Gemeinschaft. Im alten Griechen­land etwa durch den Rhapsoden, der von Stamm zu Stamm zog, um zu berichten, was ihm auf seinen Reisen zu Ohren gekommen ist. Die «Odyssee» muss man sich an einem Lager­feuer erzählt oder sogar gesungen vorstellen. Heute sind es Gespräche über Netflixserien. (Haben Sie die dritte Staffel «Ozark» schon gesehen? Ich finde sie besser als die zweite, besonders die ambivalente Emanzipation von Wendy hat es in sich.)

Jeder Erzähler erzählt aus seiner Perspektive. Sätze wie «Du, ich muss dir was erzählen» legen dies offen und zwingen sich der Hörerin deshalb weniger auf als eine Theorie. Jedem ist «freigestellt, sich die Sache zurecht­zulegen, wie er sie versteht», schreibt Benjamin.

Auch eine Theorie bildet Gemeinschaft, und auch eine Theorie nimmt eine Perspektive ein, aber sie unternimmt alles, um diese zu verschleiern, denn sonst wäre der absolute Anspruch der Theorie infrage gestellt. Theorien sind erfahrungs­bereinigt, unpersönlich und anonym.

Die Gemeinschaft der Theorie ist eine Glaubens­gemeinschaft, die ausschliesst, wer nicht an sie glaubt. Ihre Autorität, schreibt Benjamin weiter, erhält die Theorie von ihrer (vermeintlichen) Über­prüfbarkeit, die Geschichte hingegen erhält sie nur von ihrer Wirkung. Theorien, die schon Ideologie geworden sind, schaffen deshalb nicht eine freie Gemeinschaft von Erzählenden, sondern eine zwingende und dadurch gewalt­bereite Gemeinschaft von Gläubigen.

Aus all diesen Gründen haben im Moment Verschwörungs­theorien und nicht Verschwörungs­erzählungen Hoch­konjunktur. Ihre Anhänger flüchten aus der Erfahrung in die Wahrheit, in eine anonyme Wahrheit ohne Perspektive und ohne Stand­punkt. Das erspart ihnen, sich über Ängste, zerstörte Hoffnungen, Gefühle der Ohnmacht oder Einsamkeit während des Lockdowns auszutauschen. Die Verschwörungs­theoretikerinnen überschreien nicht in erster Linie ihre Gegner, sondern ihre eigenen Gefühle.

Das ist keine pauschale Attacke gegen alle Theorien. Auch Walter Benjamin überquerte lieber eine Brücke, deren Ingenieurinnen mit der Theorie der Statik vertraut waren und sich nicht bloss Geschichten über frühere Bau­werke erzählt haben. Benjamin bedauert bloss, dass man nicht mehr weiss, wo Erzählungen und wo Informationen am Platz sind.

Dazu muss ich Ihnen eine Geschichte erzählen. Vor einigen Jahren wurde ich während eines psychiatrischen Notfalldienstes …

Illustration: Alex Solman

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