Der Bolsonarismus hat etwas Sektenhaftes: Anhängerinnen des brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro in São Paulo. Victor Moriyama/The New York Times

Bist du nicht mein Freund, so bist du mein Feind

In Brasilien findet eine militante und sektenhafte Ideologie immer mehr Anhänger. Die fünf Pfeiler des Bolsonarismus.

Von Philipp Lichterbeck, 03.08.2020

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An einem lauen Juli­sonntag hatte Brasiliens Präsident Jair Messias Bolsonaro genug von der Selbst­isolierung. Einige Tage zuvor war er zum zweiten Mal positiv auf Covid-19 getestet worden und hatte sich in die Präsidenten­residenz in der Haupt­stadt Brasília zurück­gezogen. Jetzt aber schritt er, begleitet von Leib­wächtern, über die Rasen­fläche des Anwesens.

Hinter einem Wasser­graben hatten sich mehrere hundert Menschen versammelt. Viele trugen gelbe T-Shirts, die zum Erkennungs­merkmal der Bolsonaro-Fans geworden sind. Der Präsident grüsste die Menge und freute sich sichtlich über die Sprech­chöre. «Mythos, Mythos!», so rufen ihn seine Anhänger.

Irgendwann fummelte Bolsonaro aus seiner Hosen­tasche ein Päckchen des Medikaments Hydroxy­chloroquin. Wie eine Hostie reckte er es mit beiden Händen in die Höhe, und seine Fans brachen in Jubel aus. Es war eine der absurdesten Szenen der Präsidentschaft Jair Bolsonaros: Das Staats­oberhaupt Brasiliens feiert mit seinen Anhängern ein Päckchen Pillen.

Dazu muss man wissen: Bolsonaro bewirbt schon seit Wochen Hydroxy­chloroquin – ein Malaria­medikament, das zuvor schon von US-Präsident Donald Trump als Wunder­mittel gegen Covid-19 angepriesen worden war. In Brasilien brach ein ideologischer Konflikt aus, denn Expertinnen bestritten die Wirksamkeit des Mittels. Aber Bolsonaro und seine Anhänger behaupteten stur, dass Hydroxy­chloroquin die Lösung im Kampf gegen das Virus sei.

Zwar warnen mittler­weile Gesundheits­behörden auf der ganzen Welt vor dem Medikament, weil es zu Neben­wirkungen wie Herz­rhythmus­störungen führen kann, aber Bolsonaro ist das egal. Er filmt sich dabei, wie er die Pillen schluckt, und ruft die Bevölkerung zur Selbst­medikation auf.

Die Szene am Wasser­graben verdeutlichte perfekt die gefährliche Idiotie einer Bewegung, die in Brasilien einen eigenen Namen bekommen hat: Bolsonarismus. Ihr Anführer ist selbst­redend der Namens­geber selbst.

Ein Selfie mit den Fans: Jair Bolsonaro an einer Demonstration gegen den Kongress und das Verfassungs­gericht, in Brasília, am 15. März. Sergio Lima/AFP/Getty Images

Nun ist es leicht, sich über Bolsonaro und seine Anhänger lustig zu machen. Momente wie die Hydroxy­chloroquin-Huldigung bieten ständig Anlass dazu. Die Bericht­erstattung über Bolsonaro ist von solchen Anekdoten geprägt, blendet aber oft die Methodik hinter dem Wahnsinn aus.

Es entsteht der Eindruck eines Irren und seiner durchgedrehten Gefolgschaft, die man nicht ernst nehmen müsse. Das wäre ein fataler Fehler.

Der Bolsonarismus ist wie der Trumpismus in den USA und die neue extreme Rechte in Europa nicht vom Himmel gefallen. Er hat eine Vorgeschichte, besitzt eine innere Logik und verfolgt Ziele. Bolsonaro konnte auf Anhieb eine Mehrheit der brasilianischen Wähler an sich binden. Er musste also einen Nerv getroffen haben. Eine Strömung trug ihn, die bereits existierte; er gab ihr eine Richtung und beschleunigte sie.

In Umfragen sagt derzeit ein Drittel der brasilianischen Wählerinnen, dass sie wieder für Bolsonaro stimmen würden. Trotz seines erratischen Krisen­managements in der Covid-19-Pandemie; trotz einer fehlenden Mehrheit im Kongress; und auch trotz der Skandale um verschiedene Minister sowie seine drei Politiker-Söhne.

Nach aktuellem Stand hätte Bolsonaro also gute Chancen, wieder­gewählt zu werden.

Demo im Epizentrum der Pandemie: Bolsonaristen protestieren gegen die Corona-Massnahmen in São Paulo, 11. April. Victor Moriyama/The New York Times
Die andere Seite: Nach der Demonstration gegen die Bolsonaristen kommt es in São Paulo zu Zusammenstössen mit der Polizei. Victor Moriyama/The New York Times

Im Ausland mag das unfassbar erscheinen. Allerdings hegte man dort lange positive Vorurteile über Brasilien. Man wollte das Land als tolerante Nation sehen. Als den «herzlichen Menschen» beschrieb der Historiker Sérgio Buarque de Holanda den Archetyp seines Lands­mannes 1936 in seinem Schlüssel­text «Raízes do Brasil» («Die Wurzeln Brasiliens»). Und der jüdische Schrift­steller Stefan Zweig sah kurz darauf weder Rassismus noch Nationalismus in Brasilien, weswegen er Brasilien als «ein Land der Zukunft» sah. Natürlich war das realitäts­fern, aber Generationen von Europäern und Brasilianerinnen glaubten gerne daran.

Mit dem Bolsonarismus ist binnen weniger Jahre aus dem herzlichen Brasilianer der hässliche Brasilianer geworden. Der Schrift­steller João Paulo Cuenca glaubt sogar, dass sein Land gerade seine wahre Seele offenbare, in der schon immer Faschismus und Rassismus gehaust hätten.

Cuenca zitiert eine Regierungs­kampagne unter dem Motto «Arbeit, Einheit und Wahrheit machen frei», was an den Tor­spruch im KZ Auschwitz erinnert. Er führt den Tweet eines aussen­politischen Beraters Bolsonaros an: «Ya hemos pasao» (wir sind durchgedrungen). Es ist der Titel eines Liedes aus der Franco-Diktatur, das den Sieg der Faschisten über die spanische Republik feiert. In einer Kabinetts­sitzung erfuhr man dann, wie Wirtschafts­minister Paulo Guedes die Ökonomie nach der Corona-Pandemie stimulieren wollte. Er lobte den «Wieder­aufbau Deutschlands» unter dem national­sozialistischen Wirtschafts­minister und Reichsbank­präsidenten Hjalmar Schacht in den Dreissiger­jahren. Guedes schlug etwa einen niedrig bezahlten Arbeits­dienst für junge Leute vor.

Neben dem 42-jährigen Schrift­steller João Paulo Cuenca haben auch andere versucht, den Bolsonarismus auf einen Nenner zu bringen. Als «ein Gemenge aus Vorurteilen und Hass auf die Demokratie» beschreibt ihn die brasilianische Journalistin Miriam Leitão. Für die französische Historikerin Armelle Enders ist er die «Ideologie einer übel­launigen amerikanisierten Mittel­klasse». Und der portugiesische Historiker Manuel Loff urteilt: «Ein ans 21. Jahr­hundert angepasster Neofaschismus.»

Auf einen weiteren wichtigen Aspekt macht der Kolumnist der brasilianischen Zeitschrift «Época» Gabriel Trigueiro aufmerksam. Er spricht von einer «religiösen Miliz». Und tatsächlich hat der Bolsonarismus etwas Sekten­haftes. Die Bewegung hat sich hermetisch gegen Zweifel und Kritik von aussen abgeschirmt, es existieren nur zwei Kategorien: für Bolsonaro oder gegen ihn. Freund oder Feind.

Es herrscht also Einigkeit darüber, dass es sich beim Bolsonarismus um eine reaktionäre Bewegung mit antifortschrittlichen Elementen handelt. Aber worauf gründet sie sich konkret, welches sind ihre Glaubens­sätze, und was strebt sie an? Verschiedene Pfeiler des bolsonaristischen Denkens lassen sich ausmachen. Einige sind spezifisch brasilianisch, andere gehören zum festen Gedanken­gut der neuen internationalen Rechten.

Erster Pfeiler: Der Militarismus

Jair Bolsonaro baute seine 30-jährige Karriere als Parlamentarier auf der Verteidigung der Interessen des Militärs und der Militär­polizei auf. Immer wieder rechtfertigte er die Verbrechen der Diktatur (1964 bis 1985), lobte sie sogar. Es sei «nur gefoltert und zu wenig getötet» worden, beklagte er einmal. Für solche Sprüche gaben ihm Soldaten, Polizistinnen und ultra­konservative Wähler immer wieder ihre Stimmen.

Die Faszination für das Militär ist einer von Bolsonaros frühesten Charakter­zügen. Er wuchs im Hinterland von São Paulo als einer von sechs Söhnen einer Mittelklasse­familie italienischer Herkunft auf. Sein Vater arbeitete als Zahnarzt ohne Zulassung. Als Teenager verriet er der Armee einmal, wo sich eine Gruppe Guerilleros in den Wäldern versteckte, die gegen die Diktatur kämpfte, wie er Jahre später stolz berichtete. Mit 17 Jahren verpflichtete er sich dann bei der Armee und diente bis 1988, zuletzt als Haupt­mann.

Allerdings endete sein Militär­dienst unter dubiosen Umständen. Unzufrieden mit der Besoldung in der jungen Demokratie, plante Bolsonaro 1987 mit einigen Kameraden Bomben in den Wasch­räumen verschiedener Kasernen zu deponieren. Niemand sollte verletzt werden.

Doch der Plan wurde öffentlich und Bolsonaro festgenommen, dann aber von einem Militär­gericht freigesprochen. Anschliessend ging der 33-Jährige in die Politik. Als Staats­oberhaupt hat Bolsonaro seine Nähe zum Militär beibehalten. Einmal sagte er, dass er nicht dazu geboren worden sei, Präsident zu sein, sondern Soldat.

Tod in den Favelas von Rio: Ein 8-jähriges Mädchen starb durch die Kugel aus einer Polizisten­waffe, offizielle Untersuchungen gibt es nach solchen Vorfällen nicht. Dado Galdieri/The New York Times

Es passt daher auch, dass Bolsonaros Vize ein General ist und 10 seiner 23 Minister aus den Streit­kräften stammen. Das Gesundheits­ressort wird unterdessen ebenso von einem General geführt wie die Ministerien für Infrastruktur und Wissenschaft. Auffällig ist ebenfalls, wie viele Uniformierte mittlerweile in der zweiten Regierungs­reihe sitzen. Fast 3000 Militärs verteilen sich auf Ministerien und Behörden.

Und immer häufiger übernehmen Soldaten nun auch zivile Aufgaben, wie etwa den Bau von Strassen oder den Schutz des Amazonas­waldes. Letzterer wurde der darauf spezialisierten Umwelt­behörde Ibama entzogen, weswegen Kritikerinnen den Armee­einsatz dort eine fürs Ausland inszenierte Show nennen.

Ausserdem plant die Regierung bis 2023 den Bau von rund 200 Militär­schulen. Dort tragen die Schüler Uniform, und es herrscht strenger Drill. Zu den Lehr­inhalten gehört die Behauptung, dass der Militär­putsch 1964 eine «notwendige Revolution zur Verhinderung einer kommunistischen Macht­übernahme» gewesen sei.

Der Harvard-Professor Yascha Mounk, Spezialist für populistische Bewegungen, hält den wachsenden Einfluss des Militärs in Brasilien für «besorgnis­erregend». Die Sorge scheint gerechtfertigt zu sein. Einige Generäle haben bereits mit «gravierenden Massnahmen» gedroht, sollte die Justiz Bolsonaro wegen Unregelmässigkeiten im Wahl­kampf 2018 behelligen.

Ein Grossteil der Brasilianerinnen weigert sich jedoch, die Gefahr anzuerkennen. Brasiliens Streit­kräfte geniessen ein hohes Ansehen in der Gesellschaft. Ihre Verbrechen während der Diktatur (434 ermordete Oppositionelle, Tausende getötete Klein­bauern und Indigene sowie zahlreiche Folter­opfer) wurden nie juristisch aufgearbeitet. Der Bericht einer «Wahrheitskommission» unter der damaligen Präsidentin Dilma Rousseff, 2014 vorgelegt, blieb letztlich folgenlos. Bis heute existiert deswegen der Mythos von den sauberen Militärs, unter denen Sicherheit und Ordnung geherrscht habe und es keine Korruption gab.

Der Bolsonarismus ist der grösste Förderer dieses Mythos. Als sein Lieblings­buch hat der Präsident einmal das revisionistische Werk «Die unterdrückte Wahrheit» eines der berüchtigtsten Folter­knechte der Diktatur genannt. Brasiliens Gesellschaft akzeptiert so etwas mehrheitlich.

«Ich will ein bewaffnetes Volk», sagt Bolsonaro. Drogendealer, wie hier in einer Favela von Rio de Janeiro, gehen mit gutem Beispiel voran. Dado Galdieri/The New York Times

Hand in Hand mit dem neuen Militarismus geht die bolsonaristische Faszination für Waffen. «Ich will ein bewaffnetes Volk», hat Bolsonaro gesagt. Die Brasilianer sollen sich sowohl gegen Kriminelle verteidigen können wie auch gegen eine Diktatur. Als «diktatorisch» hat Bolsonaro beispiels­weise die Quarantäne­massnahmen während der Covid-19-Pandemie charakterisiert. Bolsonaro selbst hielt die Krankheit für harmlos. Deswegen müssten sich die «anständigen Bürger» gegen die «Tyrannei» der Gouverneure und Bürger­meister verteidigen. Kriminelle und Diktatur – es sind dieselben vermeintlichen Gefahren, vor denen auch die US-Waffen­lobby NRA warnt; sie dient den bolsonaristischen Bewaffnungs­fantasien als Vorbild.

Bereits vor der Pandemie hatte Bolsonaro den Erwerb von Waffen erleichtert. Das Ergebnis: Die Zahl der Waffen­verkäufe steigt kontinuierlich an. Es ist vor allem die weisse Mittel- und Ober­schicht, die sich damit eindeckt, die Armen können sich die Preise gar nicht leisten. Es ist auch die Bevölkerungs­gruppe, bei der Bolsonaro am meisten Zustimmung findet.

Zweiter Pfeiler: Die Volksherrschaft

Bolsonaro wird von seinen Anhängern als direkter Vollstrecker des Volkswillens betrachtet: Was er will, ist automatisch das, was die Brasilianerinnen wollen, und umgekehrt. Es ist die reinste Form des Populismus, und es grenzt bereits an Faschismus.

Die von Bolsonaro propagierte direkte Volks­herrschaft hat nur noch wenig mit der repräsentativen Demokratie zu tun, in der Parlamente die Gesetze beschliessen. Darum liegt Bolsonaro auch im Dauer­clinch mit Brasiliens Kongress. Der Präsident, derzeit parteilos, hat keine Mehrheit unter den 513 Parlaments­abgeordneten und 81 Senatorinnen aus insgesamt fast 30 Parteien und zwei parteilosen Mitgliedern. Vor der Wahl hatte er angekündigt, dass er sich je nach Thema Mehrheiten suchen würde, anstatt eine Koalition mit den unverzichtbaren Parteien des rechts­liberalen Zentrums einzugehen, die er verabscheut; er hält sie – nicht zu Unrecht – für korrupt.

Das klappt jedoch nicht, weil Zustimmung in Brasília traditionell über die Verteilung von Posten «erkauft» wird. Diese Praxis wollte Bolsonaro beenden, er stiess aber an die Barrieren eines gut eingespielten Systems. Er bewies dabei auch, wie stur er ist – unfähig zum Dialog und zu Kompromissen.

Ihren Frust über den Still­stand liessen Bolsonaro und seine Anhänger dann an den Vorsitzenden der beiden Kongress­kammern aus. In Internet­kampagnen wurden sie wüst beschimpft. Bolsonaro selbst hatte es auf Rodrigo Maia abgesehen, den Parlaments­präsidenten. Er behauptete, Maia würde Brasilien ins Chaos führen. Der Hashtag «ForaMaia» (Maia raus) wurde auf Twitter zum Trending Topic.

Das zweite Ziel von Bolsonaros Zorn ist der oberste Gerichts­hof. Der Streit begann, als die Richter verhinderten, dass Bolsonaro einen Vertrauten seiner Familie zum Chef der Bundes­polizei ernannte. Weil die Behörde gegen die Söhne Bolsonaros ermittelte, wollte der Präsident offenbar Einfluss auf sie nehmen und sich Informationen beschaffen. Die Bundes­polizei hat jedoch neutral zu bleiben.

Nur kurz darauf ordnete ein Verfassungs­richter Razzien bei Bolsonaros sogenannter digitaler Miliz an. Es sind Youtuberinnen, Blogger, Online-Magazin-Betreiberinnen und Unter­nehmer, die bolsonaristische Propaganda verbreiten und finanzieren, darunter unzählige Lügen und Diffamierungen. Als konkreten Grund für die Razzien nannte der Richter verfassungs­widrige Inhalte und die Bedrohung demokratischer Institutionen.

Wütend über die Justiz, organisierten Bolsonaros Anhängerinnen mitten in der Pandemie Demonstrationen, an denen sie die Schliessung des Kongresses und des Verfassungs­gerichts forderten, damit Bolsonaro endlich in Ruhe regieren könne. Sie verlangten die Wieder­einführung eines Ermächtigungs­gesetzes aus der Diktatur, mit dem die Militärs 1968 die bürgerlichen und politischen Rechte praktisch abschafften.

Bolsonaro selbst nahm an diesen Demonstrationen teil. Während einer Versammlung überflog er mit seinem Verteidigungs­minister im Hubschrauber den Platz der drei Gewalten in Brasília. Dort stehen der Präsidenten­palast, der Kongress und der oberste Gerichtshof.

Ein anderes Mal warnte er die Justiz, dass er bald genug habe und die Richter den Bogen lieber nicht überspannen sollten: «Ich bin der Präsident, verdammte Scheisse!» Auf Twitter verbreitete sich daraufhin ein Tweet: «58 Millionen Brasilianer haben Bolsonaro gewählt. Wie viele den obersten Gerichtshof?»

Es ist ersichtlich, dass der Bolsonarismus Schwierigkeiten hat, die Gewalten­teilung zu akzeptieren. Darin gleicht Bolsonaro seinen autoritären Zeit­genossen Erdoğan, Putin, Orbán und Trump, welche die Parlamente und die Justiz entweder ausgeschaltet haben oder im ständigen Konflikt mit ihnen liegen.

Sie alle teilen auch die Abscheu gegenüber den traditionellen Medien. Wie Donald Trump beschimpft Jair Bolsonaro kritische Zeitungen und Fernseh­sender als «Müll» und «Schweinerei». Journalistinnen beleidigt er, wenn ihm die Fragen nicht passen. «Halts Maul!», hat er einen Reporter angebrüllt. Einem anderen sagte er: «Du hast ein fürchterlich homosexuelles Gesicht.»

Statt über die Medien kommuniziert Bolsonaro lieber direkt mit der Bevölkerung. Dazu nutzt er Twitter und Live­übertragungen auf Facebook. Es ist klar, dass er versucht, die «vierte Gewalt» im Staat zu umgehen und zu delegitimieren. Ein Resultat dieser Feind­seligkeit sind die zunehmenden verbalen und tätlichen Angriffe seiner Anhänger auf Journalisten im öffentlichen Raum.

Der Harvard-Professor Steven Levitsky ist Mitautor des Bestsellers «Wie Demokratien sterben». Er warnt, dass Brasiliens Demokratie in akuter Gefahr sei. Allerdings nicht durch einen Militär­putsch alter Schule, sondern durch die systematischen Attacken auf die demokratischen Institutionen und ihre daraus resultierende Schwächung.

Dritter Pfeiler: Die Religion

Der Bolsonarismus hat eine starke religiöse Komponente, die in der fanatischen Verehrung Bolsonaros zum Ausdruck kommt. Schon vor der Wahl wurde er von seinen Anhängern als «Mythos» bezeichnet. Sie verehrten ihn, weil er angeblich ganz allein gegen das Establishment kämpfte und keine Furcht hatte, die «politisch inkorrekte Wahrheit» auszusprechen, etwa dass man Schwule schlagen müsse.

Aus dem «Mythos» ist nun der «Salvador da Pátria» geworden, der «Retter des Vater­lands». So steht es auf T-Shirts von Bolsonaros Anhängerinnen.

Entscheidend für die Überhöhung zum brasilianischen Messias war die Messer­attacke im Wahl­kampf 2018, die ein verwirrter Einzel­täter auf Bolsonaro verübte. Bolsonaro überlebte dank einer Not­operation und behauptete anschliessend, dass Gott ihn vor dem Tod bewahrt habe, damit er Brasilien vor dem Kommunismus bewahre.

Diese Narrative setzt er seitdem fort. Bei Bolsonaros Antritts­rede waren «Gott» und «Brasilien» die meist­gebrauchten Begriffe.

Spinnt man die Idee der göttlichen Vorsehung weiter, hiesse dies, dass Bolsonaro unfehlbar wäre. Tatsächlich wird auch die leiseste Kritik an ihm mit einer Aggressivität beantwortet, die man in Brasilien bislang nicht kannte – und die stark an religiöse Fundamentalisten erinnert. Es ist, als ob man Blasphemie begangen hätte. Man erhält dann Anrufe, so wie der Autor dieses Textes, in denen man sofort angebrüllt wird. Wie man es wagen könne, «unseren Präsidenten» zu beleidigen – «Bolsonaro wird Brasilien retten!». Aber man gehöre sicher auch zu diesem «linken Dreck» und solle bloss aufpassen.

Brasiliens konservative evangelikale Grosskirchen befördern den Mythos vom Vaterlands­retter. Seit Jahren verzeichnen sie starken Zulauf und bilden den harten Kern des Bolsonarismus. Ein Drittel der Brasilianerinnen gibt heute an, eine evangelikale Kirche zu besuchen; spätestens 2032 werden die Evangelikalen laut dem Statistik­institut IBGE die Mehrheit bilden, und Brasilien wird kein vorwiegend katholisches Land mehr sein.

Bolsonaro, der ursprünglich katholisch ist, liess sich 2018 im Jordan von einem evangelikalen Prediger taufen. Im Wahl­kampf riefen die evangelikalen Pastoren dann zu seiner Wahl auf. Die beider­seitige Nähe hat mit der Ablehnung der Abtreibung, der Rechte für LGBT-Menschen und des Kommunismus zu tun, den die Pastoren verteufeln.

Wie innig die Verbindung zwischen Bolsonaro und den Evangelikalen ist, zeigte sich bereits am Wahl­abend, als ein Pastor inbrünstig mit ihm vor laufenden Kameras betete. Häufig finden solche Gebets­sessions nun auch statt, wenn der Präsident mit seinen Anhängerinnen zusammen­trifft. Er steht dann mit geschlossenen Augen vor ihnen, während sie mit erhobenen Händen um Gottes Beistand für «unseren Präsidenten» bitten.

Erneut kann man Parallelen zu Donald Trump, Viktor Orbán und Recep Tayyip Erdoğan erkennen. Ersterer wird von den evangelikalen US-Kirchen unterstützt. Der Zweite stilisiert sich zum Bewahrer der christlichen Identität Europas. Letzterer benutzt den Islam zur religiösen Unter­mauerung seines Autoritarismus.

In Brasilien spiegelt sich der evangelikale Einfluss auch im Kabinett wider. Die Ministerien für Bildung und Justiz werden von Pastoren geführt; die Ressort­chefin für Familie und Menschen­rechte ist die unberechenbare Predigerin Damares Alves. Sie warnt davor, dass zu viele Kinder in Brasiliens traditionellen schwarzen Gemeinden geboren würden. «Es geht um Werte», sagte sie. Die afrobrasilianische Kultur wird von den Evangelikalen als Teufels­zeug abgelehnt.

Vierter Pfeiler: Die Wissenschafts­feindlichkeit

Während der Covid-19-Pandemie sprach Bolsonaro entgegen den Erkenntnissen der Wissenschaft von einem «Grippchen», das Menschen mit «athletischem Hinter­grund» wie ihm nichts anhaben könne. Er sagte, dass alle Menschen einmal sterben müssten; das Virus sei wie Regen: «Alle werden nass.»

Expertinnen warnen vor den Gefahren des Coronavirus, Brasiliens Präsident macht sich darüber lustig: Totengräber auf dem Cemitério de Vila Formosa in São Paulo. Victor Moriyama/The New York Times
Der Amazonas-Regenwald gefällt Bolsonaro besser, wenn er abgebrannt ist: Bei Porto Velho in der Provinz Rondônia im Westen des Landes. Victor Moriyama/The New York Times

Die Pseudoreligiosität des Bolsonarismus wird von einer fast folge­richtigen Wissenschafts­feindlichkeit begleitet, die in den vergangenen Monaten überdeutlich wurde. Brasiliens Aussen­minister Ernesto Araújo – ein eingefleischter Bolsonarist – attackierte während der Pandemie die Welt­gesundheits­organisation (WHO). Er behauptete, dass es sich bei der Corona-Pandemie um eine kommunistische Verschwörung zur Schwächung des Kapitalismus handle.

Bolsonaro stiess ins gleiche Horn und sagte, dass seine Gegner Covid-19 benutzten, um ihm zu schaden. Die Bevölkerung rief er auf, sich gegen die Quarantäne der Lokal­behörden zu wehren und wieder zum Alltag zurück­zukehren. «Brasilien darf nicht stillstehen!»

Der Präsident widersprach damit seinem eigenen Gesundheits­minister Henrique Mandetta, einem Orthopäden. Mandetta trat ab. Ihm folgte der Onkologe Nelson Teich, der nach nur 27 Tagen genug hatte. Bolsonaro hatte von ihm verlangt, Hydroxy­chloroquin zu empfehlen. Seitdem wird das Gesundheits­ressort von einem General ohne Expertise auf dem Gebiet geführt.

Die Feindseligkeit des Bolsonarismus gegenüber der Wissenschaft offenbarte sich bereits 2019, als Zehn­tausende Feuer im Amazonas­becken brannten. Bolsonaro leugnete die Brände und bezeichnete die Daten des brasilianischen Weltraum­instituts Inpe als «Lügen». Das Inpe setzt Satelliten ein, um die Abholzung zu dokumentieren, und ist darin international führend. Als der Inpe-Chef, ein anerkannter Physiker, Bolsonaro widersprach, liess er ihn feuern.

Wie alle neuen rechten Bewegungen leugnet der Bolsonarismus auch den menschen­gemachten Klima­wandel. Aussen­minister Ernesto Araújo hält ihn für eine «kultur­marxistische» Erfindung, um internationalen Organisationen mehr Macht zu verschaffen und die National­staaten zu schwächen. Als «Globalismus» bezeichnet die extreme Rechte diese vermeintliche Verschwörung. Aussen­minister Araújo hält den Globalismus für eine raffinierte neue Methode des Kommunismus, um die Welt­herrschaft zu erlangen.

Im Bolsonarismus geht es darum, die Fundamente der modernen Gesellschafts­ordnung zu erodieren. Deswegen attackiert er ununterbrochen das Wissen, die Wissens­vermittlung und die Vernunft. Nicht mehr Universitäten, Wissenschaftlerinnen, Intellektuelle, Künstlerinnen und Medien sollen die gesellschaftlichen Diskurse gestalten, sondern der vermeintlich gesunde Volks­verstand der Bolsonaristen. So wird dann ein kalter Winter zum «Beweis» dafür, dass die Erd­erwärmung nicht stattfindet, sondern eine Erfindung ist.

Die Feindseligkeit gegenüber Wissenschaft und Bildung zeigt sich auf extreme Weise in der bolsonaristischen Bildungs­politik. Erst kürzlich hat Bolsonaro den vierten Minister in nur 18 Monaten ernannt. Die ersten beiden waren neurechte Ideologen ohne Kompetenzen, sie stifteten vor allem Chaos. Der dritte hatte akademische Titel in seinem Lebens­lauf angegeben, die er nicht besass. Nun führt ein evangelikaler Pastor das Ressort, dessen Kurs ungewiss ist.

Exemplarisch für die Feindschaft des Bolsonarismus gegenüber Fortschritt und Aufklärung ist seine tiefe Ablehnung des brasilianischen Pädagogen Paulo Freire. Er ist einer der meist­zitierten Wissenschaftler der Welt und Autor des Schlüssel­werks «Pädagogik der Unterdrückten». Er wollte nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch zur Persönlichkeits­bildung der Schüler beitragen; seine Konzepte werden heute auf der ganzen Welt gelehrt. Aber für den Bolsonarismus sind sie linke Indoktrinierung.

Komplexe Gedanken­gänge und Differenzierungen sind dem Bolsonarismus suspekt und gelten als tendenziell subversiv. Stattdessen bietet er seinen Anhängerinnen den Komfort der Gewissheit. Es geht ihm nicht um Fragen, Forschung und Erkenntnis, sondern um die Durch­setzung einer Gesellschafts­ordnung, in der die traditionelle Familie, Gott und die Nation nicht anzuzweifelnde Werte sind.

Fünfter Pfeiler: Der Antikommunismus

Am Tag seines Amts­antritts sagte Bolsonaro, dass das Volk begonnen habe, sich «vom Sozialismus zu befreien». Viele Beobachter fragten sich, von welchem Sozialismus er sprach. Brasilien war auch unter der linken Arbeiter­partei (2003 bis 2016) ein kapitalistisches Land, in dem Banken, Gross­konzerne und das Agrar­business riesige Profite einfuhren und der private Konsum explodierte, weil die Brasilianerinnen Schulden machten, als ob es kein Morgen gäbe. Dennoch behauptete Brasiliens Rechte immer wieder, dass das Land auf dem Weg sei, ein zweites Kuba zu werden.

«Unsere Fahne wird niemals rot sein», rief Bolsonaro bei seinem Amtsantritt. «Es sei denn vom Blut, mit dem wir sie verteidigen.»

2019 gab es im Vergleich zum Vorjahr bei den Waldbränden eine Steigerung von 200 Prozent: Die Provinz Rondônia (hier bei Candeias do Jamari) gehört zu den am stärksten betroffenen Gebieten der Katastrophe. Victor Moriyama/Greenpeace

Für den Literatur­wissenschaftler João Cezar de Castro Rocha ist für die bolsonaristische Paranoia auch ein Buch mit dem Titel «Orvil» verantwortlich – das portugiesische Wort für Buch (livro) rückwärts geschrieben. Es wurde kurz nach der Redemokratisierung geschrieben und sollte die Antwort des Militärs auf die 1985 erschienene Dokumentation «Brasil: Nunca Mais» über die Gräuel­taten der Diktatur sein. Doch es wurde nicht veröffentlicht und zirkulierte stattdessen als Fotokopie in Militär­kreisen. Erst 2013 brachte es ein kleiner Verlag auf den Markt.

In dem Werk wird geschildert, wie Brasiliens Linke im 20. Jahr­hundert vergeblich versucht habe, bewaffnet an die Macht zu gelangen. In den Siebziger­jahren habe sie ihre Strategie verändert und unterwandere seitdem die Institutionen. «Aus Sicht der Autoren vergeht kein einziger Tag, an dem die Kommunisten nicht versuchen, in Brasilien ein linkes Regime zu errichten», sagt Castro Rocha. Er glaubt, dass dies der Grund für Bolsonaros «Kultur­krieg» sei. Dieser richtet sich gegen jeden, der dem bolsonaristischen Denken widerspricht. Das können auch Kranken­schwestern sein, die öffentlich vor den Gefahren von Covid-19 warnen.

«Der Bolsonarismus wird von Hass angetrieben», folgert Castro Rocha. Er wolle zerstören, nicht konstruieren.

Wie alle neurechten Bewegungen sorgen Bolsonaro und seine Truppe ständig für Konflikt, Aufruhr und Skandale. Wöchentlich werden neue Gegnerinnen identifiziert und als «Kommunisten» attackiert. Es ist dabei völlig gleichgültig, ob es Kommunistinnen in Brasilien gibt oder nicht. Sie werden einfach erfunden. So wird dann beispiels­weise aus dem Ex-Justiz­minister Sérgio Moro binnen weniger Minuten nach seinem Rücktritt und der Kritik an Bolsonaro ein «Judas» und ein vermeintlicher Linker. Dabei war Moro kurz zuvor noch einer der Helden der Bewegung gewesen, weil er als Richter den linken Ex-Präsidenten Lula da Silva ins Gefängnis gebracht hatte.

Es spielt für den Bolsonarismus dabei überhaupt keine Rolle, wie plausibel seine Behauptungen und Angriffe sind. Es geht darum, immer neue Feinde zu identifizieren und die Wagenburg damit noch fester zu schliessen. «Für mein Recht, jeden zu beleidigen, zu lügen und Schwachsinn zu behaupten», hat ein Bolsonaro-Fan einmal in einer Debatte über Fake News getwittert.

Der Treibstoff des Bolsonarismus sind Streit und Schreierei – ohne sie stünde er still. In diesem Sinne ist Bolsonaro eine Art Don Quijote, der ununterbrochen gegen die Wind­mühlen des Kommunismus anreitet – und ein fanatisiertes Heer mit sich führt.

Als «letzten Gefangenen des Kalten Kriegs» hat die Journalistin Miriam Leitão Bolsonaro einmal charakterisiert. «Sein Geist fühlt sich wohler in einer Welt, in der nur Schwarz und Weiss existieren. Die Komplexität unserer Zeit verwirrt ihn.»

Entscheidend mitgeprägt wurde das bolsonaristische Denken von Olavo de Carvalho, einem Brasilianer, der in den USA lebt und sich «Philosoph» nennt (er hat keinen akademischen Abschluss). Der 73-Jährige gilt als «Guru» und «Ideologe» des Bolsonarismus. Früher arbeitete er als Journalist und Astrologe, dann begann er Online­kurse über Philosophie und Politik anzubieten, die sich rasant in Brasilien verbreiteten. Carvalho nennt sie Studien­gänge, und sie tragen Titel wie «Kulturkrieg».

Carvalhos zentrale These: Der Westen sei von Linken gekapert worden. Sie hätten sich Antonio Gramscis Theorie bedient, nach der Konsens im Kapitalismus durch kulturelle Hegemonie und institutionelle Dominanz hergestellt werde. Für Carvalho ist deswegen klar, dass die Linken heute die Institutionen, die Medien und die Kultur beherrschten und die Diskurse dominierten. Der Feind, der für ihn also im Innern steht, müsse rücksichtslos bekämpft werden.

Jair Bolsonaro hat versprochen, dass er «die Roten aus Brasilien heraus­kehren» werde. Für seine Anhängerinnen war das ein Versprechen. Der Rest der Brasilianer sollte die Drohung nicht unterschätzen.

Zum Autor

Philipp Lichterbeck wurde 1972 in Frankfurt geboren. Er schrieb unter anderem für den «Tagesspiegel», «Die Zeit», die NZZ und die WOZ. Er lebt als freier Autor in Rio de Janeiro.

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