Binswanger

1. August mit Muammar al-Ghadhafi!

Die Pandemie-Entwicklung wird ungemütlich. Doch die Politik zaudert und druckst. Zeit für neue Vorbilder.

Von Daniel Binswanger, 01.08.2020

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Ausgerechnet zwei Tage vor dem National­feiertag sind die Fallzahlen über die Zweihunderter-Marke gestiegen, und an der Medienkonferenz des Bundes wurden so besorgte Töne angeschlagen wie nie mehr seit dem Ende des Lockdown. «Die Situation verschärft sich, wir müssen handeln», sagte ein übernächtigt wirkender BAG-Chef Pascal Strupler. Es müssen nun rasch entschiedene Massnahmen getroffen werden, damit die Fallzahlen nicht wieder in dramatische Höhen steigen – so wie es in vielen Ländern, die bis vor kurzem mit dem Virus gut zurecht­gekommen sind, leider schon geschehen ist. Und wann wäre ein besserer Moment für ein erneuertes Bekenntnis zum nationalen Schulter­schluss als eben am 1. August?

Häufig wird die Corona-Krise auch hierzulande als die grösste Bewährungs­probe seit dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet. Hat nicht General Guisan mit seinem berühmten Rütlirapport am 25. Juli 1940 genau das bewirkt, was heute wieder anstünde? Hat er nicht mit einer einzigen Rede das ganze Land auf Widerstand eingeschworen und der drohenden Spaltung entgegen­gewirkt zwischen der frankophilen welschen Heeres­führung und den von Sympathien fürs Hitlerreich nicht freien deutsch­sprachigen Generälen? Konsequente Mobilisierung und nationale Einigkeit: Das war, bei aller Problematik der damals von Guisan verkündeten Reduit-Strategie, die wirkungs­mächtige symbolische Botschaft.

Das 80-Jahr-Jubiläum des Rütlirapports war vor genau einer Woche – und wurde von der Schweizer Presse fast vollständig ignoriert. Beim 75-Jahr-Jubiläum war das noch anders. Warum wir ausgerechnet jetzt, mitten in der Covid-Krise, mit Guisans grosser Geste rein gar nichts anzufangen wissen? Sicherlich: Der Kampf gegen das Virus und der Widerstand gegen das Hitlerreich lassen sich nicht vergleichen. Aber ein bisschen glorifizierende Rückbesinnung – ein Genre, dem wir sonst ja nicht abgeneigt sind – hätte in der Tages­aktualität problemlos ihren Platz finden können.

Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga tut denn auch ihr Bestes, um wenigstens am 1. August symbolische Kräfte zu mobilisieren, auch wenn das grosse Volksfest unter Social-Distancing-Bedingungen eine hart zu knackende Nuss ist. Wo hat der Bund die Lösung gefunden? Vielleicht ja bei dem Weimarer Klassiker, auf den wir eigentlich immer zurück­greifen, wenn es um die leidige Frage geht, worin authentisch schweizerische Tugend um Himmels willen bestehen soll. Jedenfalls heisst es im «Wilhelm Tell» in der Rütlischwur-Szene: «Ist gleich die Zahl nicht voll, das Herz ist hier / Des ganzen Volks, die Besten sind zugegen.»

Auch an den heutigen Feierlichkeiten auf dem Rütli sind die breiten Massen verständlicher­weise nicht präsent, aber die Besten – oder wie das heute heisst: die «Corona-Helden» – werden zugegen sein. Kranken­pflegerinnen, Ärztinnen, Apotheker, Verkaufs­personal in Super­märkten, Polizistinnen: Zwei bis drei Corona-Heldinnen aus jedem der 26 Kantone sollen ein Bild der nicht nur nationalen, sondern föderal sorgfältig austarierten Einigkeit projizieren. Auch Jodel, ein Blasorchester zur Begleitung der Landes­hymne und ein Alphorn-Solo sind vorgesehen.

Allerdings ist es so eine Sache mit der gerade zur Manie werdenden Beschwörung des eidgenössischen Föderalismus: Seit die Schweiz von der ausserordentlichen in die besondere Lage zurück­gekehrt ist und die Kantone wieder federführend sein sollen bei der Pandemie-Bekämpfung, wird ständig die Zuständigkeit der zweiten Staatsebene beschworen – und ist von rütlihafter Verschworenheit leider herzlich wenig zu spüren.

Schon bei der Einführung der Masken­pflicht im ÖV machte Gesundheits­minister Alain Berset anstrengende, zeitraubende und absolut sinnlose Versuche, einen Konsens unter den Kantonen zu stiften und die generelle Masken­pflicht nicht auf Bundes-, sondern auf kantonaler Ebene zu erwirken. Es hätten bloss alle mitzumachen brauchen – aber das war ein Ding der Unmöglichkeit.

Beinahe erheiternd absurde Züge nahm der Gegensatz von nationalem Schulter­schluss und kantonalem Sonder­regime jetzt an der letzten Medien­konferenz des Bundes an. BAG-Chef Strupler hielt gravitätisch fest: «Wir sind der Meinung, dass die Kantone ihre Massnahmen in gewissen Bereichen harmonisieren sollten, damit die Bevölkerung versteht, was gilt. In einer ernsten Situation wie dieser ist es notwendig, möglichst einheitliche, verständliche, widerspruchs­freie Verhaltens­regeln zu geben.»

Rudolf Hauri, der Präsident der Vereinigung der Kantonsärzte, setzte dem postwendend entgegen: «Vielleicht sind unterschiedliche Massnahmen notwendig.» Der Bund will dringend handeln und einer Reihe von Massnahmen schweizweite Gültigkeit geben. Allerdings greift er erneut zum neuhelvetischen Regierungs­mittel der ersten Wahl: Empfehlungen. Die Kantone sind ihrerseits am «Prüfen» und insistieren auf «regionalen Ausprägungen». Auf gesamt­schweizerischer Ebene geschieht deshalb erst einmal gar nichts.

Es ist bereits über vier Wochen her, dass die wissenschaftliche Covid-Taskforce des Bundes in einem hoch alarmistischen Policy Brief festhielt: «Sofortiges Handeln ist unerlässlich.» Derweil konnte BAG-Chef Strupler am Donnerstag offiziell bestätigen, dass er mit den kantonalen Gesundheits­direktoren in telefonischem Kontakt stehe und dass Bundesrat Berset unterrichtet sei. Gut zu wissen!

Natürlich ist gegen «regionale Ausprägungen» an sich nichts einzuwenden. Dass Schutz­massnahmen je nach lokalem Infektions­geschehen angepasst und differenziert ausgestaltet werden müssen, ist eine markerschütternde Banalität – nicht nur in der hyper­föderalistischen Schweiz, sondern in allen europäischen Staaten. Es ist der simple Grund, weshalb Länder mit einer vernünftigen Covid-Strategie – etwa Österreich oder Deutschland – nach­vollziehbare Kriterien definiert haben, welche Infektions­raten auf Ebene der einzelnen Landkreise oder Bezirke welche Massnahmen nach sich ziehen müssen.

Das Problem ist nicht, dass regional differenziert wird, das ist auch der Bevölkerung ohne weiteres zu vermitteln. Das Problem ist, dass Kantone mit niedrigen Fallzahlen die Massnahmen stark verschärft haben (zum Beispiel das Tessin), während Kantone mit hohen Fallzahlen weiterhin nur sehr begrenzten Handlungs­bedarf sehen (zum Beispiel der Kanton Zürich). Diese Eigenmächtigkeiten sind verheerend für die Glaubwürdigkeit der Behörden.

Eines der grossen Rätsel des Zuständigkeits-Eiertanzes, auf den die verschiedenen Staats­ebenen gerade so viel Energie verwenden, ist die Frage, weshalb der Bundesrat nicht durchgreift. Er hätte auf der Grundlage des Epidemiengesetzes die völlig unstrittige rechtliche Möglichkeit, seine «Empfehlungen» zu verordnen. Das Masken­obligatorium im ÖV hat gezeigt, dass es sich problemlos machen lässt. Die unschöne Wahrheit dürfte sein, dass auch im Bundesrat der Wille zu entschiedenem Handeln keine Mehrheit hat. Warum ein Risiko eingehen? Solange man nichts tut, bleibt man ein Wirtschafts­freund. Und wenn es schief­gegangen ist: Dann ist es die Schuld der Kantone.

Vielleicht müssen wir uns einfach neue Vorbilder suchen. Mit der traditionellen National-Ikone Henri Guisan klappt es unter Covid-Bedingungen leider überhaupt nicht mehr, aber es gibt eine andere historische Persönlichkeit, deren Vermächtnis sich heute geradezu aufzudrängen scheint: Muammar al-Ghadhafi. Wir wollen dem blutrünstigen Despoten gewiss keine Träne nachweinen. Sie erinnern sich aber sicher an seinen Vorschlag, die Eidgenossenschaft abzuschaffen und die deutsche Schweiz der Bundes­republik, die italienische Schweiz Italien und die französische Schweiz Frankreich zuzuschlagen. Nicht dass die Idee besonders realistisch erschiene, aber jedenfalls während der Covid-Krise ist es ständig so gewesen, dass die Infektions­raten in den jeweiligen Sprach­regionen sich sehr stark den Infektions­raten in den jeweiligen Nachbar­ländern annäherten. Epidemiologisch machte es selbst in der ausser­ordentlichen Lage ein bisschen den Eindruck, als würde der Schweizer Bundesstaat nicht stattfinden – jedenfalls nicht als kohärentes Hoheitsgebiet.

Der «Blick» hat Mitte April eine hübsche Landkarte publiziert, die aussah wie die perfekte Illustration von Ghadhafis grosser Vision: eine Schweiz, die aufgeteilt ist in Landesteile mit stark abweichenden Infektionsraten – und vollständig in ihre drei Haupt­sprach­regionen zerfällt. Mittlerweile haben sich die Infektions­raten zwischen den Landes­teilen wieder angenähert – aber noch immer ist der Verlauf in den Sprach­regionen dem in den jeweiligen Nachbar­ländern sehr ähnlich.

In diesem Sinne: einen schönen 1. August! Wir feiern jetzt erst mal die Corona-Helden, jeder Kanton die seinen. Denn ja, die Lage ist ernst. Was den Bund betrifft: Wir warten schon voller Spannung auf die nächste ganz dringliche Empfehlung.

Illustration: Alex Solman

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