Binswanger

Spiel mir das Lied vom Tod

Die Corona-Krise zeigt auf besonders brutale Weise den dramatischen Niedergang der amerikanischen Gesellschaft. Allerdings hat der schon Jahrzehnte zuvor eingesetzt und Hundert­tausende Tote gekostet.

Von Daniel Binswanger, 27.06.2020

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Die Lage ist verheerend: In den USA liegen die Fallzahlen mit über 40’000 am Freitag gemeldeten Infektionen wieder in demselben Bereich, in dem sie sich im April auf dem vermeintlichen Höhepunkt der Krise schon befanden. Mit über 600 Todes­fällen pro Tag zeigte auch diese Zahl gestern nach oben. Die «Führungs­macht der freien Welt» erweist sich in unfassbarem Mass als unfähig, die Covid-Krise in den Griff zu bekommen.

Was werden dereinst Historiker sagen über dieses epochale Regierungs­versagen? Nach heutigem Kenntnis­stand sind Zehntausende Amerikanerinnen und Amerikaner einen überflüssigen und vermeidbaren Tod gestorben, weil im Weissen Haus ein narzisstischer Psychopath residiert. Sicherlich: Für das Virus ist Trump nicht verantwortlich. Die katastrophal inadäquate Reaktion der US-Behörden geht jedoch weitgehend auf das Konto seiner Administration. So, wie es heute aussieht, werden bis zur voraus­sichtlichen Abwahl des Präsidenten im kommenden November noch mehrere zehntausend weitere US-Bürger eines unnötigen Todes sterben.

Es ist ein schwacher Trost, aber immerhin zeigen nun die amerikanischen Meinungs­umfragen, dass Trumps Abwahl sehr viel wahrscheinlicher zu werden beginnt. So bodenlos der Wahnsinn scheint, er könnte doch an seine Grenzen stossen.

Ein nationaler «New York Times»-Poll vom letzten Mittwoch ergab nicht nur, dass der demokratische Präsidentschafts­kandidat Joe Biden um 14 Prozent­punkte besser abschneidet als Trump, er zeigte auch, dass der Präsident nach heutigem Stand selbst bei weiten Teilen seiner Stamm­wählerschaft Verluste hinnehmen muss. So schlägt Biden seinen Rivalen bei den über 65-Jährigen – eine Wähler­kategorie, die sich vor vier Jahren noch deutlich für Trump aussprach – und kann auch bei den weissen Wählern starke Zugewinne verzeichnen. Allerdings gibt es eine Subgruppe, die sich immer noch recht deutlich für den Amtsinhaber ausspricht: Weisse ohne College-Abschluss. Weiss und niedrig qualifiziert: Dieses Wähler­segment, so wird uns auch unter Covid-Bedingungen in Erinnerung gerufen, bildet den unverwüstlichen Kern des Trump-Elektorats.

Angesichts der heftigen Proteste gegen Polizei­gewalt und Rassismus wird Trump ohne Zweifel weiterhin versuchen, sich als Garant für Law and Order und Beschützer vor den «Gangstern» zu positionieren – sprich, seine Wähler abzuholen, indem er kaum verhohlen an rassistische Affekte appelliert. Auch ein medien­wirksam inszenierter Besuch an der wall, also an der umstrittenen Grenz­mauer gegen Mexiko, mit der er schon vor vier Jahren Wahlkampf machte, ist bereits absolviert worden.

Die Trump-Präsidentschaft, die in den letzten Wochen die Abwehr­reaktion einer neuen Bürger­rechts­bewegung ausgelöst hat, ist ein weiteres tristes Kapitel in der langen und gewaltsamen Geschichte der amerikanischen Rassen­diskriminierung. Für die politische Orientierung der weissen, niedrig qualifizierten Unter­schicht der USA spielt Rassismus eine wichtige Rolle.

Das ist keine strittige Erkenntnis, aber eines sollte dennoch nicht vergessen gehen: Es gibt zahlreiche andere Faktoren, welche die Lebens­realitäten und die politische Haltung jener Wähler­gruppe bestimmen. Ihre Situation war schon vor der Corona-Krise verzweifelt, an Leib und Leben bedroht. Ja, viel schlimmer noch: Der Niedergang der amerikanischen Gesellschaft ist so dramatisch, dass sich die Zahl der vermeidbaren, blosser Achtlosigkeit geschuldeten Toten schon vor dem Ausbruch der Covid-Epidemie in Zehn­tausenden, ja Hundert­tausenden zählen liess.

Der letzte Satz kommt Ihnen absurd vor? Eine Behauptung, wie sie vielleicht unter Verschwörungs­erzählern, USA-Hasserinnen und linken Kapitalismus­kritikern kursieren mag? Es wäre zu wünschen, Sie hätten recht. Leider aber beruht sie auf solider Wissenschaft.

Eine atemberaubende ökonomische Analyse zum Thema Leben und Sterben in den heutigen USA haben der Wirtschafts­nobelpreis­träger Angus Deaton und seine Frau, die ebenfalls hoch respektierte Princeton-Professorin Anne Case, vor ein paar Wochen publiziert. Sie trägt einen Titel, der sich zunächst anhört wie eine Kreuzung aus Soap-Opera und System­kritik: «Deaths of Despair and the Future of Capitalism» (Tode aus Verzweiflung und die Zukunft des Kapitalismus). Die Verfasserinnen haben allerdings nicht die geringste Neigung zum Melodrama und schon gar nicht den Wunsch, den Kapitalismus abzuschaffen. Das Werk stellt vielmehr eine nüchterne, auf sehr granularem Zahlen­material beruhende Analyse der amerikanischen Wirtschaft und Gesellschaft dar.

Was sind «Tode aus Verzweiflung»? Case und Deaton operieren mit einer präzisen Definition: Es handelt sich um Todes­fälle, die entweder auf einen Suizid, eine Überdosis mit einem Opioid wie Heroin, Oxycodon und Fentanyl oder auf Folgen schwerer Alkohol­sucht wie Leber­zirrhose und Leberkrebs zurück­zuführen sind. Mit der Aufarbeitung dieser Verzweiflungs­tode gehen Deaton und Case einem singulären Phänomen auf den Grund: Obwohl sie sich im Lauf des zwanzigsten Jahrhunderts in allen Industrie­ländern kontinuierlich stark verbessert hat, ist in bestimmten Bevölkerungs­gruppen in den USA die Sterblichkeits­rate – also der Prozentsatz der Menschen innerhalb einer Gruppe, die im Laufe eines Jahres versterben – plötzlich nicht mehr gesunken und sogar leicht gestiegen.

Am frappierendsten ist dieser Trend für die Sterblichkeits­rate der 45- bis 54-jährigen weissen, nicht hispanischen US-Amerikanerinnen und US-Amerikaner. Während Jahrzehnten sank sie jedes Jahr um 2 Prozent. Doch plötzlich, im Jahr 1990, hörte dies auf. Das ist umso erklärungs­bedürftiger, als in anderen Industrie­ländern wie Frankreich, Gross­britannien oder Schweden die Sterblichkeit in dieser Alters­gruppe sich vor 1990 in etwa wie in den USA entwickelte – und nach 1990 im selben Rhythmus weiterhin konstant abnahm. Wie erklärt sich der amerikanische Ausreisser?

Der Grund sind ausschliesslich die Verzweiflungs­tode, also Suizide, Alkohol- und Drogen­missbrauch, die ab 1990 derart nach oben geschnellt sind, dass sich Leben und Sterben in den Vereinigten Staaten einschneidend verändert haben. Wenn man allein für diese Gruppe der nicht hispanischen, weissen Bürgerinnen und Bürger zwischen 45 und 54 von 1990 bis 2017 die Todesfälle zusammen­zählt, die nicht eingetreten wären, wenn die USA wie die anderen Industrie­staaten auf dem Entwicklungs­pfad der sinkenden Sterblichkeits­raten geblieben wären, dann wären heute 600’000 Menschen mehr am Leben. 600’000 vermeidbare Tote! Das entsetzliche amerikanische Handling der Covid-Krise darf einen eigentlich gar nicht überraschen.

Doch Case und Deaton zeichnen ein noch feineres und noch schwärzeres Bild: Die ansteigenden Sterblichkeits­raten betreffen nur einen bestimmten Teil ihrer Sample-Gruppe – sind dort aber so ausgeprägt, dass sie den ganzen Durchschnitt anheben: die Weissen ohne College-Abschluss. Der Bildungs­stand wird in immer stärkerem Masse zum alles entscheidenden Indikator für Einkommen, Arbeits­losigkeit, Familien­verhältnisse, Gesundheits­zustand und eben auch Mortalität. Die niedrig qualifizierten weissen Arbeitnehmer – immerhin 37 Prozent aller amerikanischen Arbeitskräfte – sind in spektakulärem Ausmass die Verlierer der gesellschaftlichen Trans­formationen seit Beginn der 90er-Jahre. Es sind die Wähler von Trump.

Was ist mit anderen Bevölkerungs­gruppen? Gemäss sämtlichen Indikatoren am schlechtesten, das bestätigen Deaton und Case, geht es weiterhin den Afroamerikanerinnen. Auch hier ist bei den 45- bis 54-Jährigen die Sterblichkeits­rate nach wie vor am höchsten. Aber die Lücke zur weissen Unter­schicht hat sich stark geschlossen. Für Schwarze dieser Alters­gruppe ist im Gegensatz zu den Weissen die Mortalität in den 90er- und den Nuller­jahren weiterhin kontinuierlich gesunken. Die weisse Unter­schicht hat in den letzten dreissig Jahren in jeder Hinsicht schwindel­erregende Einkommens- und Status­verluste erlitten. Die schwarze Unter­schicht ist immer noch am schlechtesten gestellt. Aber ihre Situation hat sich in den letzten dreissig Jahren im Verhältnis zu früher deutlich verbessert.

Natürlich gehen Deaton und Case auch der Frage nach, wo die Gründe für die Verzweiflung liegen – und was gegen sie getan werden könnte. Zunächst, so der Vorschlag, muss der amerikanische Arbeits­markt anders organisiert werden. Die klassischen sozial­liberalen Reform­massnahmen – höhere Bildungs­investitionen, höhere Qualifikation für Niedrig­qualifizierte – betrachten Case und Deaton als Illusion. «Wir haben gewiss nichts gegen Bildung», schreiben sie. «Aber wir akzeptieren die implizite Grund­voraussetzung nicht, dass Menschen nutzlos sind für die Wirtschaft, solange sie keinen höheren Abschluss haben. Menschen mit niedrigem Qualifikations­grad dürfen ganz bestimmt nicht als Bürger zweiter Klasse behandelt werden.»

Zweitens muss verhindert werden, dass das politische System der USA sich vollständig den wirtschaftlichen Oligopolen und den Reichtums­eliten unterwirft. Warum hat man die Interessen der Pharma­industrie geschützt – und jahrelang einfach zugesehen, wie sich eine vernichtende Opioid-Epidemie entwickelt? Warum sind so weite Bereiche der US-Wirtschaft kartellisiert, ohne dass die Behörden eingreifen? Es hat eine gigantische Umverteilung von unten nach oben eingesetzt, so Deaton und Case: «Robin Hood soll von den Reichen für die Armen gestohlen haben. Was heute in den USA geschieht, ist inverser Robin Hood, von den Armen für die Reichen. Man könnte es auch Sheriff-of-Nottingham-Umverteilung nennen.»

Schliesslich und endlich muss das amerikanische Gesundheits­system vollkommen reformiert werden, welches das mit Abstand teuerste der Welt ist, die Volks­wirtschaft schwer belastet, der breiten Bevölkerung eine grotesk miserable Versorgung bietet und eigentlich nur einen Zweck zufrieden­stellend erfüllt: Ärzten, Spital­ketten und der Pharma höhere Gewinne zu verschaffen als in jedem anderen Land der Welt. Die Gesundheits­versorgung ist der Kulminations­punkt aller systemischen Absurditäten der amerikanischen Gesellschaft. Und jetzt soll es Covid-19 bewältigen.

«Tode aus Verzweiflung» wurde vor der Corona-Krise verfasst. Die Autorinnen haben sicherlich nicht damit gerechnet, dass ihre raben­schwarze Bestands­aufnahme der amerikanischen Verhältnisse so schnell eine so dramatische Bestätigung bekommen würde. Sie lassen trotz allem eine optimistische Note erklingen: «Wir hoffen, dass dieses Buch dabei helfen wird, wieder die richtige Politik zu machen, um in diesem Jahrhundert wieder dieselben Fortschritte zu erzielen, die auch im letzten Jahrhundert möglich gewesen sind. Die Zukunft des Kapitalismus muss eine Zukunft der Hoffnung und nicht der Verzweiflung sein.»

Hand aufs Herz: Wer könnte dem widersprechen?

Illustration: Alex Solman

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