Schrecklich nett

Die Welt spricht viel vom Hass im Netz. In der Polarisierung wächst aber auch das Gegenteil: eine neue Höflichkeit. Doch die gebiert neue Monster.

Ein Essay von Tobi Müller (Text) und Adam Higton (Illustration), 20.06.2020

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Alles wird immer schlimmer: Wer in diesen Seuchen­zeiten zu lange am Nachrichten­tropf hing, und wem ist das nicht passiert, kennt dieses Gefühl. Das Leiden an der Gegenwart, die im Strom der bad news nur noch als bedrohlicher Strudel erscheint, lässt sich unterschiedlich bekämpfen. Eine gängige Reaktion auf die Verunsicherung ist: noch mehr davon. Der Blick aufs Display als letzte Handlung vor dem Einschlafen und als erste vor dem Aufstehen.

Von der erhöhten Dosis Corona-News Linderung zu erwarten, erscheint auf den ersten Blick verrückt. Auf den zweiten handelt es sich um ganz normale Spiel­sucht. Wenn ich jetzt nur noch etwas länger dranbleibe, kommt der Haupt­gewinn – der Artikel, das Video, der Post, irgendwas, das die lästigen Zweifel endlich ausschaltet und die Kontrolle über die entglittene Lage zurückbringt. Auch Verschwörungs­erzählungen erfüllen diese Funktion.

Andere Strategie: Geräte abschalten, Yoga machen. Dazu braucht man allerdings ein paar Privilegien wie Platz, Zeit und die Freiheit, nicht erreichbar sein zu müssen. Die Probleme der Welt werden so nach innen verlagert und abgekocht. Sigmund Freud schrieb schon 1930 mit leisem Humor in einer seiner berühmtesten Abhandlungen, «Das Unbehagen in der Kultur»: «In extremer Weise geschieht dies, indem man die Triebe ertötet, wie die orientalische Lebens­weisheit lehrt und die Yoga­praxis ausführt.»

Was daraus folgt, ist angenehm und sinn­entleert zugleich: «Gelingt es», notiert Freud, «so hat man damit freilich auch alle andere Tätigkeit aufgegeben (das Leben geopfert), auf anderem Wege wieder nur das Glück der Ruhe erworben.» Freud ist hier ein luzider Kritiker der Selbst­optimierung, wie wir sie erst heute in voller Blüte kennen. Haupt­sache, ich bin im Gleichgewicht, die Strasse mag brennen, wie sie will.

Doch was ist, wenn selbst das Work-out die Work-Life-Balance nicht wieder herstellt? Es bleiben klassische Abreagier- und Beruhigungs­mittel wie Rausch­gift, Netflix, Liebe, Sex und leider auch häusliche und andere Gewalt – der heimische Gemischt­waren­laden, der im Lockdown intensiver genutzt wurde denn je. Natürlich gibt es daneben auch noch die gesittete Variante: das Leid in Kunst oder Wissenschaft sublimieren, wie Freud es nannte. Hellsichtig warnte er jedoch, diese «Methode» sei «nur wenigen Menschen zugänglich». Heute gibt es sehr viel mehr Menschen mit künstlerischen Universitäts­abschlüssen, als Freud sich jemals vorstellen konnte. Aber der Markt nimmt diese Künstler­massen nicht alle auf, erst recht nicht unter Bedingungen der Pandemie.

Die Corona-Krise ist auch auf dem Gebiet der Leidens­vermeidung nur das Brenn­glas, nicht der Brenn­stoff. Wenn vieles wegfällt, was uns Ablenkung verschafft, treten die Symptome umso stärker in Erscheinung. Was uns zügelt und zivilisiert bleiben lässt, ist die berechtigte Angst vor der Eskalation.

Es geht um Millisekunden: Die Technologie, die uns im Lockdown so viel ermöglicht hat, zwingt uns dazu, Konflikte zu unterdrücken

Wer im Homeoffice täglich mit Video­schalten zu tun hat, kennt den Effekt: Wir fallen uns weniger ins Wort, weil überlappende Rede an den technischen Gegeben­heiten scheitert. Konflikte sind ohne Körper, ohne reale, hoch­aufgelöste Mimik und Gesten der Hände und der Arme noch schwieriger auszutragen. Auch wer die Konferenz­tools nicht beruflich, sondern privat häufiger benutzt hat, kennt die Ermüdung vor den Video­kacheln. Wo kein Platz ist für potenzielle Wider­worte, sprüht auch kein Funke.

Die Technologie selbst verschärft die Sache. Online-Gespräche weisen eine Verzögerung in der Übertragung von mindestens 150 Milli­sekunden auf, und diese Lücke bemerken wir bereits. Die Dauer zwischen dem Ende eines Wort­beitrags und dem Anfang des nächsten, sagt die Linguistik, liege in normalen Unterhaltungen quer durch alle Kulturen bei ungefähr 200 Milli­sekunden, 2 Zehntel­sekunden also.

Wenn wir aber, und dies nur bei guter Verbindung, 150 Milli­sekunden auf das Signal warten und noch einmal so lange brauchen, um mit unserer Antwort zu beginnen, sind wir schon bei 300 Milli­sekunden. Und die werden vom Gegenüber psychologisch gedeutet: als Zögern. Warum braucht die schon wieder so lange, um auf meinen Vorschlag einzugehen, ist er dagegen, hat sie etwa nach einem Ausweg gesucht?

Die Technologie, die uns im Lockdown so viel ermöglicht hat, zwingt uns dazu, Konflikte nicht auszutragen, sie zu unterdrücken oder zu verdrängen. Erfahrene Berufs­leute wissen, dass auch E-Mails nicht geeignet sind, um heikle Dinge anzusprechen und Streit zu vermeiden. Das geht nur im direkten Gespräch. Nun fehlte uns aber auch dies.

Die statistischen Daten zeigen mittlerweile, dass häusliche Gewalt gegen Frauen und Kinder im Lockdown in einzelnen Ländern angestiegen ist (in der Schweiz blieben die Zahlen offenbar weitgehend stabil). Intuitiv ahnten wohl viele Männer und Frauen – auch solche, die in so weit intakten Verhältnissen leben –, was drohen kann, wenn man auf die Familie zurückgeworfen wird. Könnte es sein, dass nur aufgrund dieser Ahnung die Fall­zahlen nicht noch höher sind? Weil klar wurde, dass die Situation ernst ist und dass man sich verdammt noch mal zusammen­zunehmen hat zu Hause?

In meiner Familie jedenfalls und in ein paar andern, mit denen ich darüber sprach, war der Lockdown von grosser Höflichkeit geprägt, Jüngere würden wohl schon sagen: Achtsamkeit. Das gilt – und noch einmal, ich spreche von meinem Milieu – für andere Wohn- und Paar­formen mit oder ohne Kinder ganz ähnlich. In den ersten Wochen der Krise witzelten wir über zu erwartende Corona-Break-ups. Mittlerweile denke ich, dass wir falschlagen.

Wir spürten, dass nicht die Zeit dafür ist, die Launen des Tages und seine grund­legenderen Unzufriedenheiten an den Esstisch zu tragen. Weil das gemeinsame Gleich­gewicht im Anblick tatsächlicher Gefahr bedrohter zu sein schien als zuvor, stellten wir eigene Ängste zurück, so gut das eben ging.

Doch ist das wirklich so gut, wie es erst einmal aussah? Ist es eine «gesunde» Reaktion, wenn wir in Video­konferenzen keine Konflikte austragen, wenn wir unsere schlechte Laune nur für uns behalten, wenn sogar die Kinder ruhiger werden, weil sie den Ernst der Lage erkennen?

Und wie sollen wir das nennen: neue Höflichkeit?

Woher kommt plötzlich diese Höflichkeit? Vielleicht daher: Wenn die Wände der eigenen Blase zu wackeln beginnen, wird die Polarisierung zur echten Bedrohung

Dank Doktor Freud drängt sich eine Vermutung auf: Solch eine Zurück­haltung bringt neue Neurosen. Die Trauer und die Wut werden neue Türen und neue Räume finden müssen. Zum Beispiel Demonstrationen ohne Abstand zu Gleich­gesinnten. Oder Zwangs­vorstellungen mit sehr viel Abstand zur Vernunft. Bis hin zu Psychosen, wie Freud in «Unbehagen in der Kultur» schrieb. Man muss kein Freudianer sein, um zwei Beobachtungen auch für die heutige Gegenwart als bezeichnend zu betrachten:

  • Erstens zeigt Freud die fliessenden Übergänge von Gesundheit und Krankheit, wenn «jeder von uns sich in irgendeinem Punkte ähnlich wie der Paranoiker benimmt, eine ihm unleidliche Seite der Welt durch eine Wunsch­bildung korrigiert und diesen Wahn in die Realität einträgt». Mehr über Verschwörungs­erzählerinnen später.

  • Zweitens weiss Freud, dass Kränkungen unausweichlich werden, wenn sich das menschliche Streben konsequent dem Lust­prinzip unterwerfen will. Und wenn etwas in den westlichen Gesellschaften unaufhaltsam Karriere gemacht hat nach Freuds Tod, dann ist es das Lust­prinzip. Dass es keine völlige Lust­erfüllung und keine totale Befriedigung gibt, brachten allerdings schon die Rolling Stones 1964 mit «(I Can’t Get No) Satisfaction» auf den Punkt. Das Update von 1969, «You Can’t Always Get What You Want», war eine Drogen­ballade und zielte abermals auf das Problem der nicht sofortigen Befriedigung. Das ist die Rück­seite der fortschreitenden moralischen Lockerung seit den Sechziger­jahren: dass die Glücks­findung dem Individuum selbst aufgetragen wurde.

Sei du selbst, geniesse es, gönn dir was: Das sind nicht umsonst Befehls­formen. Neoliberalismus und Kulturalisierung kamen gleichzeitig, beide Bewegungen marschieren seit den 1980er-Jahren kontinuierlich in alle westlichen Innen­städte ein. In einem Punkt unterscheiden sie sich auch inhaltlich kaum: Sie bürden das Glück dem Einzelnen auf. Sei es mit ökonomischer Selbst­verantwortung oder dem Imperativ, kreativ zu sein.

Doch im Vergrösserungs­glas der Pandemie merken plötzlich mehr Leute als sonst, dass soziale Ungleichheit ein systemisches Problem ist. Wenn globale Konzerne Staatshilfe erhalten und dennoch Boni und Rendite auszahlen; wenn Zeitungen, die sich vom Staat Kurzarbeit bezahlen lassen, gegen den «Seuchen­sozialismus» polemisieren; wenn in den USA prozentual viel mehr Schwarze an Covid-19 sterben als Weisse, weil Erstere viel öfter keine Kranken­versicherung haben; wenn im gerne kritischen Kultur­betrieb grosse Ungleichheiten zutage treten zwischen der Not der Freiberufler und dem Komfort der Fest­angestellten; wenn die Wände der eigenen Blase zu wackeln beginnen – dann wird die Polarisierung zu einer echten Bedrohung.

Ist die neue Höflichkeit, die ich in Zoom-Sitzungen, am Familien­tisch sowie in anderen sozialen Zusammen­hängen wahrnehme, eine Reaktion auf diese Furcht vor gesellschaftlicher Spaltung? Ausserhalb der eigenen Bezugs­welten kann von Höflichkeit ja keine Rede sein. Da kämpfen sauber voneinander abgetrennte Identitäten um knapper gewordene Ressourcen (Aufmerksamkeit, Prestige, Geld, Macht).

Nein, wir müssen das Internet nicht abschalten. Dass von allein verschwindet, wovor wir die Augen verschliessen, ist magisches Denken wie der Verschwörungs­glaube

Die neue Höflichkeit steht der digitalen wie der analogen Öffentlichkeit auf den ersten Blick diametral entgegen. Wer Öffentlichkeit sagt, denkt heute: Niedergang. Weil es zu viel Hass gibt, zu viele Bots, Klick­farmen und Filter­blasen. Weil zu viel Desinformation kursiert. Weil der Verschwörungs­glaube wütet, verbreitet von Verschwörungs­erzählern, die traditionelle Medien­marken für Gehirn­wäsche halten, die es zu zerstören gilt. Und zwar nicht «zerstören» in Anführungs­zeichen wie im Youtuber-Slang von Rezo und seiner «Zerstörung der Presse».

Bei Rezo heisst zerstören noch ganz aufklärerisch: der Sieg des besseren Arguments, das sich in Rezos Denken immer mit einem Link belegen lassen muss (von Interpretationen oder Meinungen hält er wenig, die verbucht er unter Falsch­behauptungen – weil, Dude, hast du eine Quelle dazu?).

Gar nicht mehr um Argumente geht es auf der Twitter­wand des Popstars Taylor Swift (86,5 Millionen Follower). Schön zu sehen ist das etwa in den rund 100’000 Kommentaren unter dem Tweet, in dem Swift den Rassismus des US-Präsidenten anprangert und deutlich endet: «We will vote you out in November. @realdonaldtrump». In den Reaktionen schwimmen alte Memes wie Fettaugen in der Brühe obenauf, etwa George Soros mit einem frei erfundenen Zitat aus einem angeblichen Interview mit der deutschen Boulevard­zeitung «Bild», er werde die USA zerstören, indem er schwarze Hass­gruppen finanziere. Sind das Bots? Oder teilen Tausende den Unsinn?

Über die Freak-Konjunktur in den sozialen und anderen Medien reden wir ja schon eine ganze Weile. Kann es sein, dass ihr Zulauf damit zu hat, dass der Abfluss unserer schlechten Gefühle so mies verlegt ist? Sind Attila Hildmann und Xavier Naidoo die Dominas einer Gesellschaft, die ihre Negativität nicht kanalisieren kann? Als «letzte Trost­möglichkeit und Lust­quelle im Leiden» bezeichnet Freud diese «bedingungslose Unterwerfung». Freud meinte 1930 die Religion damit, heute ist es ein anderer Glaube, der an die Verschwörung.

Alles total schlimm, oder?

Jein.

Natürlich, alle Verschwörungs­erzählungen sind autoritär, sie schliessen andere aus, Rassistinnen nutzen sie für ihre Agitation, sie träumen von der Destabilisierung der Demokratie.

Aber nein, wir müssen deswegen nicht das Internet abschalten. Auch wenn manche denken, schlimmer könnte es kaum kommen. Das ist oft nur eine Rechtfertigung für den eigenen Rückzug in privilegierte Räume.

Ausserdem ist es auch magisches Denken: Wenn ich die Augen zumache, verschwindet der böse Mann.

Die digitale Öffentlichkeit erscheint als Kampf­platz, auf dem man nur unter Mobilisierung riesiger Affekt­mengen bestehen kann. Die Höflichkeit ist ein Gegenmittel

Superereignisse wie die Pandemie entfalten eine blitzartige Wucht. In diesem hellen Schein der Gegenwart, die sich zumal rasch verändert, verschwindet die unmittelbare Vergangenheit im Dunkeln.

Nach der Finanz­krise von 2008 konnte man den Eindruck gewinnen, es hätte nie prominente Kritik an den staatlich deregulierten Finanz­märkten gegeben. Im Herbst 2008, als der Fall der Bank Lehman Brothers das Signal zu einem globalen Domino gab, vergassen viele, dass die US-amerikanische Immobilien­krise ein volles Jahr mit dem Zaun­pfahl gewinkt hatte. Und seit der MeToo-Debatte auf der einen und der rechten Hetze gegen Political Correctness auf der anderen Seite fällt es manchen schwer, Feminismus und postkoloniale Theorie als etwas langsam Gewachsenes zu begreifen und nicht als Geburten einer Revolution.

Und heute vergessen wir mitunter, dass das, was am Internet nervt und gefährlich ist, schon lange vor dem Internet begann, vor Corona sowieso.

Warum die digitale Öffentlichkeit vielen als Kampf­platz erscheint, auf dem man nur unter Mobilisierung riesiger Affekt­mengen bestehen kann, liegt auch an einem langsamen Wandel. Es ist ein Werte­wandel der Öffentlichkeit und handelt davon, was wir als wichtig erachten, wenn wir auftreten – auf den Bühnen der Stadt oder auf digitalen Platt­formen.

Man könnte von einer Explosion der Emotionen sprechen, die allerdings in Zeit­lupe abläuft. Stetig steigt das Verlangen, mit Intimität oder zumindest mit Persönlichem zu punkten. Sei es im sozialen Profil, sei es in der Talk­show, sei es, ja, auch im Journalismus. Es muss schon alles gefühlsecht sein, sonst steht der Fake-Verdacht im Raum.

Die Höflichkeit ist ein Gegenmittel, sie setzt auf die Verabredung eines Codes der Distanz, um die Emotionen in Schach zu halten. Die diskursiven Schlacht­felder der Gegenwart setzen dagegen auf Identität.

Die persönliche Geschichte wird höher gewichtet als Recherche und Analyse. Das führt zu einer Polarisierung, die keine Solidarität mehr zulässt

Die Priorisierung des Persönlichen: Das sind Prozesse, die, glaubt man Richard Sennett, schon mehr als 200 Jahre laufen. Und über die er 1974 zum ersten Mal schrieb, im Buch «Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität». Sennett schrieb: «Eine destruktive Gemeinschaft entsteht dort, wo die Menschen glauben, dass sie ihre Empfindungen voreinander enthüllen müssen, um emotionale Bindung herzustellen.»

In so einer Kultur zählt die persönliche Absicht und emotionale Grundierung einer Handlung mehr als ihr gesellschaftlicher Nutzen.

Also zum Beispiel:

  • Was ist die Absicht von Bill Gates, an die WHO zu spenden, was bringt ihm das ganz persönlich? Die Weltherrschaft natürlich, auf jeden Fall aber persönliche Vorteile irgendeiner Art.

  • Christian Drosten von der Berliner Charité, vielleicht Europas wichtigster Virologe, hält sich wohl für unfehlbar (obwohl er ständig das Gegenteil sagt; egal, die Kritik zielt regelmässig auf seinen angeblichen Charakter).

  • Und was ist mit Rezo, der die Medien kritisiert, und zwar nicht nur den Boulevard, sondern auch das seriöse Aushänge­schild des Springer-Verlags, «Die Welt»? Rezo ist für die Wortführerinnen der kritisierten Zeitung – genau: ein Narzisst.

Der Vorwurf, nicht authentisch, nicht aufrichtig, nicht echt, nicht genug «persönlich» rüberzukommen, ist im Internet eine Art Todes­urteil (auch Rezo verliert bei diesem Thema sein Augen­mass und spricht von einem «faktischen Fehler», wenn ein Kritiker schreibt, er «inszeniere» sich als Jugendlicher). Doch das ist nicht auf das Netz beschränkt: Der populäre Sachbuch­markt strotzt vor persönlichen Geschichten, die eigene Erfahrung über Recherche und Analyse stellen.

Wenn die orthodoxen Flügel der Identitäts­politik unterschlagen, dass es mehrere Zugehörigkeiten gibt, und neben Haut­farbe, Gender und Herkunft auch soziale Schicht oder Klasse eine Rolle spielen, ist das Problem ähnlich gelagert. Die öffentliche Rolle wird dann im schlechtesten Fall rein persönlich definiert, bis hin zu intimen Opfer­erfahrungen, welche die Position weiter beglaubigen. Erstens ist das in vielen Fällen schmerzhaft, zweitens reduktionistisch. Wir führen dann Kämpfe, die wir politisch nennen, die aber primär persönlich sind.

Und sie werden uns, wenn nicht gleich zerstören, wie Richard Sennett vor bald fünfzig Jahren schrieb, dann weiter polarisieren. Weil sie nicht mehr verhandelbar sind, weil sie oft Mühe haben, Solidarität zuzulassen. Ob die weltweiten Proteste gegen Polizei­gewalt gegenüber Schwarzen und gegen Rassismus im Allgemeinen endlich wieder mal so einen historischen Moment hervor­rufen können, der Solidarität auch unter heterogenen Gruppen erlaubt und fördert?

Nur mit distanzierender Höflichkeit halten wir die Unterschiede zu anderen Milieus aus. Im personalisierten Nahkampf lauert die Zerstörung.

Die neue Höflichkeit ist kein Heils­versprechen. Sie ist auch kein Widerspruch zur gesellschaftlichen Polarisierung, sondern ihre Begleit­erscheinung. Wir bleiben so sehr unter uns wie nie zuvor, wir sehen nur Freunde und Arbeits­kolleginnen. Letztere vermutlich noch für eine Weile nicht im Büro. Da draussen im Netz und auf manchen Plätzen ist die Hölle los. Also seien wir nett zueinander. Dabei schauen wir uns immer auch selbst an auf Zoom, Skype und dergleichen, die narzisstische Kachel bleibt stets im Bild. Wie würde es aussehen in der Stadt, wenn wir ständig einen Hand­spiegel dabeihätten, um uns selbst zu sehen?

Neu ist diese sozial eingehegte Höflichkeit, weil die historisch gewachsene Höflichkeit des städtischen Bürgertums andere Richtungen hatte und auch andere Gründe. Sie war ein betont nicht authentisches Verhalten, ein Code, welcher der zunehmenden Komplexität der wachsenden Städte Rechnung trug. Es ist weder effizient noch ratsam, in einer diversen Umgebung seine eigene Position immer gleich authentisch ins Spiel zu bringen. Höflichkeit löst das Problem der grossen Zahl (der wachsenden Stadt, des anonymen Verkehrs im Internet) mit einer Distanz, die der Soziologe Georg Simmel in seinem Aufsatz «Die Grossstädte und das Geistesleben» 1903 die notwendige «Blasiertheit» des Gross­städters nannte: Wer auch immer Sie sind, wo auch immer Sie herkommen, lassen Sie uns erst einmal ohne intimes, persönliches Wissen begegnen. Oder lassen Sie uns einander ignorieren, ohne dass damit eine Beleidigung zusammenhängt.

Social Distancing ist auf den ersten Blick der falsche Begriff in dieser Pandemie, es müsste ja Personal Distancing heissen oder Physical Distancing. Epidemiologisch gesehen sind es die Körper, die Abstand einfordern, nicht die Gesellschaft zu sich selbst oder verschiedene Gruppen zueinander.

Aber vielleicht ist Social Distancing doch unbewusst der richtige Begriff, wir müssten ihn nur noch umsetzen. Als distanzierende Höflichkeit auch zu anderen Milieus als dem eigenen. Weil wir die Unterschiede nur so aushalten. Im personalisierten Nahkampf lauert das, was der Youtuber Rezo nur metaphorisch meint: die Zerstörung. Freud wusste, am Vorabend des National­sozialismus, dass die Menschen «es leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten. Sie wissen das, daher ein gut Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angststimmung.»

Höflichkeit unter Freunden, in der Familie und bei der Arbeit verdrängt diese Angst. Sozial übergreifende Höflichkeit erkennt diese Angst an. Sie weiss um die Wut der anderen, um die eigene schlechte Laune und um unsere Trauer, die kein Yoga und keine Verhaltens­regeln im Netz töten können.

Zum Autor

Tobi Müller ist Kultur­journalist und Autor in Berlin. Er schreibt über Pop- und Theater­themen. Für die Republik hat er zuletzt über die Auswirkungen von Corona auf die Clubkultur geschrieben.

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