«Es ist, als wäre ein Vorhang gelüftet worden»

Die USA werden von den grössten Bürgerrechts­protesten seit 1968 erschüttert. Warum gerade jetzt? Eine Perspektive.

Von Trevor Noah, 02.06.2020

Journalismus, der Ihnen hilft, Entscheidungen zu treffen. Und der das Gemeinsame stärkt: die Freiheit, den Rechtsstaat, die Demokratie. Lernen Sie uns jetzt 21 Tage lang kostenlos und unverbindlich kennen:

Protest gegen den strukturellen Rassismus am 29. Mai in Washington DC. Tony Mobley

Es begann als Protest gegen den gewalt­samen Tod eines wehrlosen schwarzen Mannes, herbei­geführt durch Polizisten in Minneapolis. Und verbreitete sich innert Tagen im ganzen Land: Die USA erleben die schwersten Unruhen und Proteste seit der Bürger­rechts­bewegung in den 1960er-Jahren. An diesem Wochenende hat der Satiriker Trevor Noah versucht, den Moment einzuordnen. Wir haben einen Teil seines Monologs aus dem Englischen übersetzt.

Hey Leute, wie geht es euch?

Wisst ihr, was wirklich interessant ist daran, was hier gerade in Amerika passiert? Viele Leute realisieren nicht, wie diese Domino­steine miteinander verbunden sind. Ein Stein fällt um und bringt den nächsten Stein zu Fall. Und dieser den nächsten. Und am Ende ist da eine riesige Welle.

Zur Person

Der 36-jährige Trevor Noah wurde 1984 in Johannes­burg als sogenanntes illegales Kind aus einer damals noch verbotenen Beziehung zwischen einer Südafrikanerin und einem eingewanderten Deutsch­schweizer geboren und wuchs in Orlando, einem Township in Soweto, auf. Seine Karriere begann er 2002 als Schau­spieler in einer südafrikanischen Seifen­oper. 2011 zog er in die USA. Seit 2015 moderiert er als Nachfolger von Jon Stewart die Comedy-Central-Show «The Daily Show».

You Tube

Jede Geschichte scheint zunächst nichts mit der nächsten zu tun zu haben. Und doch habe ich das Gefühl, dass alles, was in der Welt passiert, irgendwie miteinander verbunden ist.

Und ich denke, dieser Nachrichten­zyklus, dessen Zeuge wir gerade waren, der war ein perfektes Beispiel dafür: erst Amy Cooper [eine weisse Frau, die im New Yorker Central Park am 25. Mai 2020 den schwarzen Christian Cooper verbal bedrohte]. Dann George Floyd [der am selben Tag starb, nachdem ein Polizeibeamter minutenlang auf Floyds Hals kniete], und dann die Menschen in Minneapolis [wo Floyd starb und von wo aus die Proteste auf das ganze Land übergriffen].

Ich glaube, die Geschichte von Amy Cooper war für viele Menschen der Katalysator, besonders vor dem Hintergrund des Coronavirus.

Menschen, die in ihren Häusern sitzen, für die längste Zeit, an die sich irgend­jemand erinnern könnte. Mehr Menschen, die ihre Arbeit verlieren, als dass sich irgend­jemand erinnern könnte. Mehr Menschen, die um ihre Existenz kämpfen müssen, als dass sich irgend­jemand erinnern könnte.

Und all das wird noch dadurch verschlimmert, denke ich, dass es offenbar keinen echten Plan gibt. Dass zum Beispiel niemand wirklich weiss, wie es jetzt weitergeht. Dass niemand weiss, wie lange wir noch brav sein müssen, wie lange wir noch drinnen bleiben sollen, die Kurve runterdrücken sollen.

Und so stecken wir in unseren Wohnungen fest. Eine ganze Gesellschaft, die drinnen festsitzt. Und dann kommt die Geschichte mit Amy Cooper. In dem Moment haben die Menschen realisiert: Während alle mit dem Corona­virus kämpfen, kämpfen Schwarze in Amerika mit Rassismus und mit dem Corona­virus. Stellt euch vor: Viele Schwarze haben erst gerade die Nachricht bekommen, dass Schwarze viel schwerer vom Virus betroffen sind. Und zwar nicht aufgrund von irgendwas Inhärentem in ihnen drin, nein, einfach des Lebens wegen, das schwarze Menschen in Amerika gelebt haben.

Das Coronavirus hat das entblösst.

Da ist also diese weisse Frau, die ganz genau wusste, wie sie die Macht ihres Weissseins nutzen konnte, um das Leben eines schwarzen Mannes zu bedrohen. Was wir mit dieser Frau gesehen haben, war ein wirklich mächtiges, explizites Beispiel für ein Verständnis von strukturellem Rassismus.

Als sie diesen Mann ansah und zu ihm sagte: «Ich werde 911 [den Notruf] anrufen und ihnen sagen: ‹Da ist ein afro­amerikanischer Mann, der mein Leben bedroht›», da wusste sie ganz genau, wie mächtig diese Drohung war. Und das ist für sich genommen schon bezeichnend. Es zeigt, wie sie die Polizei wahrnimmt. Es zeigt, wie sie ihre Beziehung zur Polizei als weisse Frau wahrnimmt. Und es zeigt, wie sie das Verhältnis eines Schwarzen zur Polizei wahrnimmt und die Beziehung der Polizei zu ihm.

Das hat diesen Moment so mächtig gemacht.

Denn so viele Menschen tun so, als wüssten sie nicht, wovon schwarze Amerikaner sprechen, wenn sie darüber sprechen. Amy Cooper wusste es ganz genau. Sie sagte: Oh, ich weiss. Ich weiss, dass Sie Angst davor haben, mit der Polizei zu interagieren. Weil es eine Schuld­vermutung für Sie gibt, weil Sie schwarz sind. Ich weiss das als weisse Frau, und ich kann das gegen Sie als Waffe einsetzen. Und ich weiss, dass, wenn es dann irgendwann darum geht, wer im Recht und wer im Unrecht war, Sie wahrscheinlich schon lange verloren haben.

Und so war das für mich der erste Dominostein.

Der Moment, wo so viele Menschen dieses Video sehen – in vielerlei Hinsicht war es ein «Jetzt haben wir euch!»-Moment. Es ist, als wäre ein Vorhang gelüftet worden: «Aha, ihr wisst es also ganz genau!»

Denn es wurde immer darüber gesprochen, aber das war so mächtig zu sehen, wie es ganz bewusst ausgenutzt wurde.

Und ich glaube, viele Menschen fühlten sich dadurch getroffen und sagten sich: «Verdammt. Wir wussten, dass es real war, aber das hier, das ist real real, wisst ihr?» Ich hatte das Gefühl, man könne es körperlich spüren, dass da etwas ins Rutschen geriet.

Und dann kommt das Video von George Floyd.

Ich weiss nicht, was schmerz­hafter daran war, dieses Video zu schauen: Der Umstand, dass man dabei zusah, wie dieser Mann sein Leben verlor. Der Umstand, dass er von jemandem ermordet wurde, dessen Aufgabe es eigentlich wäre, zu beschützen und zu dienen – oder die Tatsache, dass er dabei so ruhig schien.

Oft sagt man uns ja, dass sich die Polizisten bedroht gefühlt hätten, dass sie um ihr Leben gefürchtet hatten. Und dann fühlt man sich wie ein Arschloch, wenn man entgegnet: «Wie kann das sein? Wie kann das sein, dass du in dieser Situation um dein Leben gefürchtet hast?» Aber immer öfter macht es überhaupt nicht mehr den Anschein, dass sich da jemand gefürchtet hat. Sondern dass er es einfach getan hat, weil er es konnte.

Da war ein schwarzer Mann, auf dem Boden, in Hand­schellen. Und du hast sein Leben genommen, weil du es konntest. Fast als ob du ganz genau wusstest, dass es keine Folgen haben würde.

Für mich war das ein Lichtstrahl, zu sehen, wie viele Menschen diesmal sofort verurteilten, was sie da sahen. Vielleicht liegt es daran, dass ich ein optimistischer Mensch bin, aber ich glaube, so etwas habe ich noch nie erlebt. Schon gar nicht in Amerika. Ich habe noch nie so ein Video gesehen, und dann war die Reaktion so einhellig – ich meine, sogar Fox-News-Kommentatoren und Polizei­chefs aus dem ganzen Land haben das gesehen und sofort verurteilt. Niemand hat es in Zweifel gezogen, nein, alle haben sie sofort gesagt: «Was hier passiert ist, das war falsch.» Hier wurde ein Mensch vor laufender Kamera ermordet.

Und dann wurden die Polizisten gefeuert, grossartig.

Was sich aber so viele Menschen nicht vorstellen können, ist, dass sich das für viele Menschen noch nach nichts anfühlt. Wie viele von uns könnten denn einem Menschen das Leben nehmen – und dann wäre das Schlimmste, was passiert, dass man uns entlässt? Und ja, wir wissen nicht, wie sich diese Untersuchung entwickeln wird, versteht mich nicht falsch, aber es fühlt sich gerade nicht danach an, als gäbe es einen Moment der Gerechtigkeit. Ihr wisst schon, wenn im Film die Bösen in Hand­schellen abgeführt werden: Diesen Moment braucht es. Es braucht diese Katharsis.

Als die Unruhen anfingen, war das für mich eine interessante Krönung von alledem.

Ich habe so viele Leute online sagen sehen: «Diese Ausschreitungen sind ekelhaft, so sollte eine Gesellschaft nicht sein. Man plündert nicht, und man brennt nicht Dinge nieder!» Und das hat etwas in mir ausgelöst. Ich dachte mir: Von was für einer Gesellschaft sprechen wir eigentlich? Im Grunde ist doch die Gesellschaft ein Vertrag. Ein Vertrag, den wir alle gegenseitig unter­zeichnen. Ob explizit oder implizit, wir haben gesagt: In dieser Gruppe einigen wir uns auf gemeinsame Regeln, gemeinsame Ideale und gemeinsame Praktiken, die uns als Gruppe definieren werden.

Und wie bei den meisten Verträgen ist dieser Vertrag nur so stark, wie er eben von den Menschen eingehalten wird.

Und jetzt denkt daran, wie es ist, ein Schwarzer in Amerika zu sein, der in Minneapolis oder Minnesota lebt oder an irgendeinem anderen Ort, wo es hart ist. Und dann fragt euch: Was haben diese Menschen eigentlich für ein Interesse daran, diesen Vertrag noch einzuhalten?

Warum, zum Beispiel, plündern wir nicht alle?

Warum nimmt sich nicht jeder, was er will?

Es gibt so viele Menschen da draussen, die hungern. Es gibt so viele Menschen, die nichts haben, die schon kaum etwas hatten, als das Virus zugeschlagen hat. Und jetzt, wo der zweite Gehalts­check hinter­einander ausgeblieben ist, völlig pleite sind.

Und jetzt denkt darüber nach, wie viele dieser Menschen trotzdem, obwohl sie nichts haben, immer wieder sagten: Ich werde mich trotz allem an die Regeln halten. Weil ich mir immer noch wünsche, dass die Gesellschaft funktioniert und existiert.

Und dann, müssen schwarze Amerikaner, immer und immer wieder, zuschauen, wie der Vertrag, den sie mit der Gesellschaft unterzeichnet haben, von dieser Gesellschaft nicht eingehalten wird.

Wenn du siehst, wie Ahmaud Arbery [beim Joggen] erschossen wird, und du hörst, dass diese Männer freigelassen wurden. Und wäre da nicht ein Video gewesen und die Empörung – dann hätten diese Männer weitergelebt, als wäre nichts geschehen.

Wo im Vertrag steht das?

Wenn du George Floyd auf dem Boden siehst und zusiehst, wie er ermordet wird von einem Mann, der eigentlich das Gesetz hochhalten soll:

Wo im Vertrag steht das?

Und jetzt fragen viele Menschen: Wie sollen denn diese Unruhen helfen? Die umgekehrte Frage stellt niemand.

Wie hilft denn das weiter, wenn der Target [ein Supermarkt] geplündert wird? Ja, wie hilft es denn weiter, wenn der Target nicht geplündert wird? Beantworte doch mal jemand diese Frage.

Der einzige Grund, warum du den Target nicht schon vorher geplündert hast, ist, weil du den Vertrag mit der Gesellschaft eingehalten hast. Aber wenn die Justiz und die Menschen an der Macht ihren Teil nicht einhalten, dann gibt es auch den Vertrag nicht.

Wenn sich die Straf­verfolgung nicht an die Gesetze hält, warum sollten es dann die Bürger tun?

Es gibt ein wirklich fantastisches Kapitel in Malcolm Gladwells Buch «David und Goliath», wo er über die Prinzipien der Legitimität spricht. Er sagt: «Damit wir argumentieren können, dass eine Gesellschaft oder eine juristische Person oder eine Macht legitim ist, müssen wir uns auf Kern­prinzipien einigen.»

Prinzip Nummer eins: Wir müssen uns darüber einig sein, welche Prinzipien gelten. Nummer zwei: Wir müssen glauben, dass diejenigen, die diese Prinzipien durchsetzen, das fair tun. Und Nummer drei: Wir müssen uns einig sein, dass diese Prinzipien dazu führen, dass alle in der Gesellschaft fair behandelt werden.

Was man mit Sicherheit sagen kann: In dieser Woche – und wahrscheinlich seit dem Beginn des Corona­virus – haben die schwarzen Amerikaner gesehen, wie all diese Prinzipien ihre Legitimität verloren haben.

Oft sagen die Wohlhabenden zu den Habenichtsen: «Das ist nicht richtig, wie ihr die Dinge tut.»

Als [der schwarze Footballspieler] Colin Kaepernick niederkniete [um gegen Rassismus zu protestieren], sagten sie: «Das ist nicht der richtige Weg.»

Als Martin Luther King an seinen Protesten in Birmingham, Alabama, Kinder dabeihatte, sagten sie: «Das ist nicht der richtige Weg.»

Als die Menschen während der Apartheid in Südafrika durch die Strassen marschierten, sagten die Leute: «Das ist nicht der richtige Weg.»

Wenn jetzt Menschen Dinge verbrennen, dann sagen andere: «Das ist nicht der richtige Weg.»

Es ist nie der richtige Weg, weil es den gar nicht gibt. Denn protestieren heisst immer gegen etwas ankämpfen, das dich aufhalten will.

Gekürzt und übersetzt von Oliver Fuchs. Was wir Ihnen ausserdem empfehlen (Vorsicht, Gewalt): Den Kurzfilm «3 Brothers — Radio Raheem, Eric Garner and George Floyd» von Spike Lee.

Rund 27’000 Menschen machen die Republik heute schon möglich. Lernen Sie uns jetzt auch kennen – 21 Tage lang, kostenlos und unverbindlich: