Freudlos

«Freud» ist eine Netflix-Erfolgsserie. Der Analytiker Daniel Strassberg über den Pakt der Psychoanalyse mit dem Kino, die Dämonisierung der Sexualität und warum der Freudianismus in sein Gegenteil verkehrt wird.

Von Daniel Strassberg, 23.05.2020

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Eine solche TV-Serie, das hat er wahrlich nicht verdient: Sigmund Freud im Jahr 1926, Zeitung lesend. Ferdinand Schmutzer/APA/Keystone

Die folgenden Zeilen sind für Jugendliche unter 16 Jahren nicht geeignet, denn es soll darin auch über Sex geredet werden. Anders liegt der Fall beim neuen Netflix-Hit namens «Freud»: Auch hier ist die Alters­freigabe eingeschränkt, aber wegen Rausch­mitteln und Gewalt. Eigentlich würden wir bei einer Serie über den Pansexualisten Sigmund Freud eine Erotik­warnung erwarten – aber nein, die Serie ist für Jugendliche unter 16 Jahren nicht aufgrund ihrer sexuellen Explizitheit ungeeignet, sondern weil Freud dauernd Kokain schnupft (oder trinkt) und weil die heftigen Gewalt­szenen die Bösewichte am Ende jedes Mal so aussehen lassen, als seien sie in Erdbeer­marmelade gefallen – was wohl Blut andeuten soll. Es entsteht im Übrigen der Eindruck, dass Freud ausgesprochen schlechten Stoff konsumiert, denn er bleibt die ganze Serie über griesgrämig, vielleicht weil der Schau­spieler, der seinen Part spielt, Robert Finster heisst. Sie können Ihren Kindern «Freud» also getrost zumuten: Sex kommt zwar darin vor, aber einer, der nicht stört. Die lieben Kleinen werden trotzdem gut schlafen.

Der Plot ist schnell erzählt. Eine junge Frau wird brutal ermordet. Wie sich heraus­stellt, handelte der Mörder unter Hypnose. Freud, der zufällig in den Fall verwickelt wird, versucht das Verbrechen deshalb seinerseits mittels Hypnose aufzuklären. Weil er dafür wenig Begabung zeigt – was historisch verbürgt ist –, bedient er sich eines Mediums, das wiederum selber unter Hypnose steht. Es beginnt ein verwirrlicher Reigen der hypnotisierten Hypnotiseure, sodass man schliesslich den Überblick verliert. Irgendwann stellt sich aber heraus, dass die merkwürdigen Zustände der Protagonisten gar nicht auf Hypnose, sondern auf die Besessenheit durch einen bösen Dämon zurück­zuführen sind. (Oder ist es beides, Hypnose und Besessenheit? Habe ich nicht recht verstanden.) Der Dämon ist übrigens Ungar und heisst Táltos.

Mit Freud hat eine solche Story natürlich herzlich wenig zu tun, mit der Psycho­analyse noch weniger. Es ist eher eine Mischung aus «Die drei ???» und einem Splatter­movie im Kostüm­schinken­format. Zwar gibt es einige nette Details aus dem Leben Freuds (und einige waghalsige Erdichtungen, wie zum Beispiel die, dass im Hause Freud dauernd gebetet wird), doch abgesehen davon könnte die Serie auch «Popovic» heissen.

Analyse am Pendel: Anja Kling als Gräfin Sophia von Szápáry und Robert Finster in der Titelrolle von «Freud». Netflix

Deshalb auch gleich eine Klarstellung in eigener Sache: Es gibt eigentlich keinen Grund, eigens einen Psycho­analytiker der tödlichen Langeweile und dem intensiven Fremd­schämen auszusetzen, die erleiden muss, wer diese Serie besprechen will.

Es sei denn, man möchte verstehen, weshalb die Serie eben nicht «Popovic», sondern «Freud» heisst. Und dazu müssen wir etwas weiter ausholen.

Wider die Wirklichkeit

Freud sells, vor allem im Kino. Seit ihren Anfängen ging die Psycho­analyse eine fruchtbare Symbiose mit dem Kino ein, was kein Zufall ist, wurden doch beide zur selben Zeit geboren. 1895 findet die erste Film­vorführung vor zahlendem Publikum statt. Und 1895 veröffentlicht Freud mit Joseph Breuer zusammen erstmals einen Bericht über die psycho­analytische Behandlung einer Patientin, Anna O., die in Wirklichkeit Berta Pappen­heim hiess und eine bedeutende Kämpferin für die Rechte der Frau war.

Doch nicht nur die gleichzeitige Geburt verbindet Kino und Psycho­analyse. Film und Traum bedienen sich auch ähnlicher Bild­sprachen: Sie nehmen keine Rücksicht auf physikalische Gesetze, sie arbeiten mit Schnitten und Gegen­schnitten, mit Off-Stimmen und mit Special Effects. Und vor allem: Beide erzählen Geschichten, die auch dann als wirklich erscheinen, wenn sie der Logik der gewöhnlichen Wirklichkeit spotten.

Diese Ähnlichkeit stellt Otto Rank, ein recht origineller Psycho­analytiker der ersten Stunde, bereits 1914 fest:

Vielleicht ergibt sich, dass die in mehrfacher Hinsicht an die Traum­technik gemahnende Kino­darstellung auch gewisse psychologische Tatbestände und Beziehungen, die der Dichter oft nicht in klare Worte fassen kann, in einer deutlichen und sinnfälligen Bilder­sprache zum Ausdruck bringt und uns dadurch den Zugang zu ihrem Verständnis erleichtert.

Aus: Otto Rank, «Der Doppelgänger».

Rank schreibt diese Zeilen anlässlich eines der ersten Grusel­filme der Film­geschichte. Balduin, der «Student von Prag» (1913), verkauft sein Spiegel­bild für 100’000 Gulden dem Zauberer Scapinelli, um mit diesem Geld soziale Anerkennung zu gewinnen. Doch bald schon übernimmt der teuflische Magier in der Gestalt von Balduins Doppel­gänger sein Leben vollständig. Er verliert seine Liebe und sein gesellschaftliches Ansehen, sodass ihm am Ende nur der Selbst­mord bleibt.

Schlechter Deal: Paul Wegener (ganz rechts) als Balduin in «Der Student von Prag». United Archives/Keystone

Die enge Verbindung von Kino und Psycho­analyse sollte sich im Lauf der Zeit als absolute Win-win-Situation heraus­stellen: Der Film macht Werbung für die Psycho­analyse und verbreitet sie, dafür erhält er von der Psycho­analyse eine «wissenschaftliche» Legitimation für Horror und Gewalt. In der Schluss­szene von Hitchcocks «Psycho» (1960) erklärt zum Beispiel ein Psycho­analytiker hinter Milch­glas dem Zuschauer die Abgründe der Seele von Norman Bates (Anthony Perkins). Die Szene wurde auf Geheiss des Studios hinzugefügt, um die Zuschauer und vor allem die Zensur zu beruhigen.

Moderne Dämonen

Allerdings: There is no free lunch. Jemand zahlt immer die Zeche. In diesem Fall war es die Psycho­analyse, die wie der Student von Prag ihre Seele verkaufte, um gesellschaftliche Anerkennung zu erlangen. Der Verzicht auf Sexualität war ihr Eintritts­billett in die Mainstream­kultur. Gruselige Morde, blutige Fratzen, dunkle Geheimnisse – geht alles in Ordnung, solange kein Sex vorkommt. Selbst Filme, die sich ausdrücklich auf die Psycho­analyse beziehen, wagen keine Sex­szenen. Dafür reicht im prüden Nachkriegs­amerika auch eine wissenschaftliche Legitimation nicht aus.

Im Vorspann von «Spellbound» (Alfred Hitchcock, 1945) heisst es:

Our story deals with psycho­analysis, the method by which modern science treats the emotional problems of the sane. (…) Once the complexes that have been disturbing the patient are uncovered and interpreted, the illness and confusion disappear … and the devils of unreason are driven from the human soul.

(In unserer Geschichte geht es um die Psycho­analyse, die Methode, mit der die moderne Wissenschaft die emotionalen Probleme gesunder Menschen behandelt. Sobald die Komplexe, die den Patienten verstört haben, entdeckt und interpretiert worden sind, verschwinden die Krankheit und die Verwirrung … und die Teufel der Unvernunft werden ausgetrieben aus der menschlichen Seele.)

Alfred Hitchcock liess für diesen Film Salvador Dalí sogar einen Traum gestalten, der von einem Psycho­analytiker mit Spitzbart und häwi tschörmen äkzent gedeutet wird, was dem Leiden von Gregory Peck sofort ein Ende setzt.

Alfred Hitchcock meets Salvador Dalí … imago images
… Gregory Peck bringt in «Spellbound» seinen Traum in Erinnerung. imago images

Darum sollte es nun also gehen: die Dämonen der Unvernunft aus der menschlichen Seele zu vertreiben. Diese eigentümliche Mischung aus Exorzismus und Aufklärung stiftete einen Pakt zwischen der Psycho­analyse und dem Kino. Ein Film ist ja schon technisch nichts anderes als ein Licht­strahl im Dunkel, also Aufklärung. Aber im Unter­schied zum 18. Jahr­hundert bedeutet Aufklärung jetzt nicht mehr, die Existenz von Dämonen als religiöses Vorurteil zu entlarven – sondern die Dämonen auszutreiben, die tatsächlich existieren.

No sex, mother

Die eigentliche Macht der Unvernunft, die Sexualität, darf aber niemals beim Namen genannt werden. Damit fehlt allerdings eine plausible Erklärung für das psychische Leiden der Protagonisten, der Exorzismus verliert seinen Dämon. Deshalb wird die Sexualität durch das Trauma als Ursache für psychisches Leiden ersetzt, und das Narrativ funktioniert wieder reibungslos. Nicht sexuelle Fantasien sollen die Psyche beherrschen, sondern reale – und häufig schreckliche – Ereignisse in der Kindheit. Das Leiden hat damit einen äusseren statt einen inneren Ursprung, das ist auch leichter in Bilder zu übersetzen. In «Marnie» (Alfred Hitchcock, 1964) ist beispiels­weise die verdrängte Vergewaltigung der Mutter durch einen Matrosen für die Kleptomanie der Hauptfigur verantwortlich.

In «Spellbound» leidet der Psychiater Dr. Edwardes (gespielt von Gregory Peck) unter einer merkwürdigen Angst vor Gleisen und allem, was Gleisen ähnelt. Diese Phobie hindert ihn daran, seine neue Stelle anzutreten. Einzig seine Kollegin Dr. Petersen (gespielt von Ingrid Bergman) ist bereit, ihm zu helfen, Licht in sein dunkles Geheimnis zu bringen. Es stellt sich heraus, dass Dr. Edwardes unter heftigen Schuld­gefühlen leidet, weil er unbewusst glaubt, den Unfall­tod seines jüngeren Bruders verursacht zu haben. Natürlich kommt es, wie es kommen muss, «Therapeutin» und Patient verlieben sich ineinander, und siehe da! Es kommt sogar zu einem keuschen Kuss. «Spellbound» verbindet die Motive des klassischen Road­movies mit der Psychoanalyse – die Fahrt im Zug als Reise zum eigenen Ich – fast ohne Sex.

Auch wenn es anders wirken mag, mehr als ein keuscher Kuss ist nicht drin: Gregory Peck und Ingrid Bergman in «Spellbound». United Archives/Keystone

Natürlich war an der Selbstreinigung – oder sollte man besser sagen: Selbst­kastration? – der Psycho­analyse nicht nur das Kino schuld. Die Psycho­analytiker und Psycho­analytikerinnen, die vor den Nazis in die Vereinigten Staaten geflohen waren, fanden, anders als in Europa, ihr Auskommen vor allem in psychiatrischen Kliniken. Sie wurden mit offenen Armen empfangen, die amerikanische Psychiatrie steckte damals noch in den Kinder­schuhen, und man war bereit zu akzeptieren, dass sie Juden waren und dass sie schrecklich schlecht Englisch sprachen.

Aber die Sache mit dem Sex ging dem prüden Amerika dann doch entschieden zu weit. Die eingewanderten Analytiker machten sich denn auch flugs an die Arbeit und erfanden eine neue, zweite Psycho­analyse, eine ohne Sex, und nannten sie die Psycho­analyse der frühen oder präödipalen Störungen. Verantwortlich für das Leiden ist nun auch in der Psycho­analyse nicht mehr das Sexuelle, sondern das Trauma, das meist durch die Mutter herbei­geführt wird. (Schauen Sie sich zur Figur der bösen Mutter den «Manchurian Candidate» von 1962 an, es ist so verstörend wie lustig.)

Ich bin okay, du bist okay

Zunächst nur für schwer kranke, vor allem psychotische Patienten gedacht, kaperte die neue Psycho­analyse bald die gesamte Theorie. Der Riesen­erfolg, den sie in den USA seit den Sechziger­jahren feierte, war nicht zuletzt dem Verzicht auf das Thema Sexualität zu verdanken. Die weisse Mittel­klasse hörte gerne, dass sie ein schlechtes Selbst­wert­gefühl habe (und nicht etwa tatsächlich ein fürchterliches Leben führe), dass die Mutter daran die Schuld trage und sie lediglich lernen müsse, zu ihren Bedürfnissen zu stehen und sich selbst gut zu finden. «I’m OK – You’re OK» hiess ein Bestseller jener Tage.

Mit Sex und Begehren hatte das alles nichts mehr zu tun, nur noch mit Ich-Stärke, Konsum und Bedürfnis­befriedigung. Das war die perfekte Ideologie für den Kapitalismus. (Die Figur, die die Brücke zwischen gereinigter Psycho­analyse und brutalem Kapitalismus schlug, war übrigens Ayn Rand, die geistige Mentorin der neokonservativen Elite der USA. Doch das wäre ein Thema für sich.)

Hier war mehr möglich als ein keuscher Kuss: Der Psycho­therapeut Paul Bindrim brachte Ende der 1960er-Jahre Menschen vor dem Hinter­grund des Human Potential Movement zusammen. Ralph Crane/The LIFE Picture Collection/Getty Images

Nicht die Psychoanalyse, sondern die Hippie­bewegung erweckte in den späten Sechziger­jahren ein neues Bewusstsein für Sexualität. Die Erotik der Hippies war jedoch ganz und gar natürlich, so natürlich wie Blumen im Haar und barfuss im Gras tanzen, so natürlich wie nackt baden und Marihuana rauchen. Sie diente ganz der geistigen und körperlichen Ertüchtigung, der grossen Symbiose mit dem Kosmos, ein bisschen wie Yoga und Meditation. Daran hatte Freud freilich nicht gedacht, als er zu Beginn des Jahr­hunderts die Psycho­analyse erfand – diese Sexualität hat mit seinen Ideen so wenig zu tun wie das Alpamare mit dem Amazonas. Freuds Sexualität ist nämlich alles andere als natürlich und friedlich, und genau das macht sie so anstössig.

Sartres Feder

Eine erstaunliche Ausnahme vom gängigen Muster der Freud-Filme bildet der Film «Freud: The Secret Passion» (1962) von John Huston mit Montgomery Clift in der Haupt­rolle. Ursprünglich schrieb Jean-Paul Sartre das Drehbuch zu diesem Film, weil aber Huston das 600-seitige Script kürzen musste, zog Sartre später seinen Namen zurück. Auch dieser Film hält sich zunächst an das gängige Narrativ des unerschrockenen Helden, der gegen alle Wider­stände der Menschheit das Licht bringt. Aber gegen Ende spricht der Film das Thema Sexualität dennoch an, zwar nicht in Bildern, aber als Vortrag, den Freud vor seinen empörten Wiener Kollegen hält.

Tatsächlich kenne ich kaum eine präzisere Zusammen­fassung von Freuds Theorie der Sexualität als diese Rede aus der Feder Sartres. Auch wenn sie aus dem Mund von Montgomery Clift seltsam klingt, als habe er keine Ahnung, wovon er da spricht, ist sie inhaltlich akkurat: Die Sexualität sei kein natürliches Bedürfnis, sondern sie lehne sich an natürliche Bedürfnisse an. Wenn die Brust der Mutter den Hunger des Babys stillt, empfindet es eine Lust, die weit über das Wegfallen des Hungers hinausgeht. Die Wärme, die Stimme der Mutter, die Berührung der Haut, ein wohliges Körper­gefühl verbinden sich zu einem Geflecht, nach dem wir ein Leben lang suchen – das nennt Freud das sexuelle Begehren. Die menschliche Sexualität sei ursprünglich polymorph pervers, so Freud/Clift weiter, was bedeutet, dass sich der Genuss an jede Bedürfnis­befriedigung anlehnen kann.

Nochmals Freud im Film, diesmal ohne Pendel, dafür mit Couch: Montgomery Clift und Susannah York in «Freud: The Secret Passion» (1962). Universal/Getty Images

Stellen Sie sich vor, jemand speist in einem 3-Sterne-Restaurant oder nippt an einem Glas Château Latour 1961. Sie und er tun das nicht, um ihren Hunger oder seinen Durst zu stillen, sie suchen vielmehr einen ganz besonderen Kitzel im Gaumen, ein Gefühl der Behaglichkeit, eine intensive Begegnung, vielleicht auch die Anerkennung von Freunden für den luxuriösen Lebens­stil oder einen erlesenen Geschmack. Wie sich das Begehren genau zusammen­setzt, hängt immer mit Erinnerungen an die Kindheit und mit unbewussten Assoziationen zusammen.

Dysfunktionalität als default mode

Man versteht erst, was an dieser Vorstellung von Sexualität so anstössig ist, wenn man sich andere Vorstellungen der Natur des Menschen vor Augen führt. Diese lassen sich im Grunde immer auf das Modell des Hungers zurück­führen: Den Menschen mangelt es an etwas, und sie suchen das, was den Mangel ausgleichen kann. Wenn sie Hunger haben, verlangen sie nach Brot. Wenn sie die Gattung erhalten wollen, begatten sie sich. Weil sie die Mängel nicht allein kompensieren können, schliessen sie sich zu grösseren Gemeinschaften zusammen. An sich ist das ein rationales System, in dem alle Rädchen reibungslos ineinander­greifen. Nur wegen der lästigen Leidenschaften neigen diese an sich rationalen und nützlichen Systeme leider oft zu Entgleisungen. Aber durch Aufklärung und Erziehung können sie wieder ins Lot gebracht werden.

Freud stellte dieses Modell auf den Kopf. Die zentrale Trieb­feder menschlichen Handelns, die Suche nach sexueller Lust, ist zutiefst dysfunktional. Voraus­gesetzt, die primären Bedürfnisse sind befriedigt, suchen Menschen nicht das, was nützt und funktioniert, sondern das, was stört und überflüssig ist. Sexualität schadet, sie bringt Unglück, Leid und Schmerz, und sie lenkt von allem ab, was nützlich ist. Unter grossen Mühen versuchen der Einzelne und die Gesellschaft trotz allem auf Kurs zu bleiben und nicht vollständig abzustürzen. Das Skandalöse am Denken Freuds ist, die Dysfunktionalität zum default mode gemacht zu haben und das sogenannt normale Funktionieren zur (un-)glücklichen Ausnahme.

Folgt man Freuds Gedanken­gang, wird deutlich, weshalb es eine vollkommen befreite Sexualität nicht geben kann. Es dauerte denn auch nicht lange, bis die sogenannte befreite Sexualität wieder eingefangen und in die Koppel eingepfercht wurde. In den Achtziger­jahren wird die Sexualität wegen Aids wieder zu etwas Gefährlichem und Unmoralischem, und ein Teil der Frauen­bewegung monierte, dass die sogenannte sexuelle Revolution den männlichen Macht­anspruch nur zementierte. Wir waren wieder so weit: Nach einem kurzen Intermezzo war die Sexualität wieder aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Damit meine ich nicht den Hochglanz­sex, dem wir überall begegnen, in der Werbung, in der Pornografie oder im Aufklärungs­unterricht, sondern jenes nutzlose und störende Getrieben­sein, das Sand im Getriebe jeder Gesellschaft ist.

Dämonische Damen

Genau in dieser Zeit ereilte die Psycho­analyse denn auch das Schicksal, das alle heimsucht, die ihre Seele verkaufen: Der Teufel kommt sie holen. Seit Beginn der Achtziger­jahre verliert die Psycho­analyse als Therapie, nicht als Kultur­theorie, konstant an Bedeutung. Heute scheint deshalb der richtige historische Moment gekommen zu sein, um die Sexualität wieder aus dem Gift­schrank zu holen und in eine Serie zu verwursten, die scheinbar von Freud und der Psycho­analyse handelt. Eine Psycho­analyse am Rande der Bedeutungs­losigkeit kann sich gegen diese Verein­nahmung nicht mehr wehren. Aber was für ein Bild von Sexualität wird in diesem Dämonen- und Hypnose­schauer­märchen vermittelt?

Ich jedenfalls habe dank «Freud» über Sexualität eine Menge erstaunlicher Dinge gelernt: Sex ist, wenn wunder­schönen nackten Frauen plötzlich Schaum aus dem Mund quillt und sie mit irrem Blick und tiefer Stimme die Beine spreizen, um dann ihrem Gegenüber ins Gemächt beissen zu können. Männer sind der Urgewalt, mit der das Dämonische urplötzlich aus dem Damen­haften hervor­bricht, natürlich wehrlos ausgeliefert. Im Grunde wollten sie nur ganz lieb helfen, aber gegen solche Monster sind selbst Genies wie Freud machtlos.

Ist das schon Sex? Ella Rumpf und Robert Finster in «Freud». Netflix

Die Netflix-Serie «Freud» setzt den alten Pakt zwischen Film und Psycho­analyse fort: Der Name Freuds verleiht der Serie einen quasi­aufklärerischen Anstrich, der es ihren Machern erlaubt, Gewalt und Elemente des Horror­genres hemmungslos aufzufahren, während gleichzeitig der Eindruck vermittelt wird, die Talfahrt der Psycho­analyse sei gestoppt und sie habe wieder an gesellschaftlicher Bedeutung gewonnen.

Doch der Unterschied zu früher ist augen­fällig: Sex kommt in dieser Serie vor und erweckt so den Eindruck, die Tabuisierung der Sexualität zu durch­brechen. Doch der Schein trügt. Sexualität wird nicht als Ausdruck der unüberwind­baren Konflikt­haftigkeit der menschlichen Seele geschildert, sondern als dämonische Besessenheit beziehungs­weise gefährliche Krankheit, die Frauen befällt und Männer zu Opfern macht – unverschuldet natürlich. Dies ist aber genau das reaktionäre und frauen­feindliche Bild der Sexualität, gegen das Freud ein Leben lang angetreten ist.

Mehr Missbrauch des Namens Freud ist eigentlich nicht möglich, nur Harvey Weinstein würde seine Freude haben. Endlich ist belegt, dass er eigentlich nichts dafür kann.

In einer früheren Version haben wir im zweiten Bild (mit dem Pendel) fälschlicher­weise Ella Rumpf als Schau­spielerin genannt. Wir entschuldigen uns für den Fehler.

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