Frauen suchen den selbstbestimmten Umgang mit ihren Brüsten: Sämtliche Fotos zu diesem Beitrag sind von der Fotografin Lina Scheynius.

Zur Brust

Brüste, Brüste, überall Brüste, jetzt auch im feministischen Diskurs. Die Frauen entreissen das Organ dem Patriarchat – und holen sich die Deutungshoheit über ihren Körper zurück.

Von Cécile Calla (Text) und Lina Scheynius (Bilder), 19.05.2020

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Ich bin in einer Familie mit vielen Frauen aufgewachsen. So konnte ich von ganz klein auf verschiedene Brüste beobachten: runde, ovale und hängende Brüste, spitze, kleine, grosse – so vielfältig und individuell wie die Gesichter ihrer Trägerinnen. Dieser Körperteil machte mich schon als Kind neugierig.

Vielleicht ahnte ich da bereits, dass es einen eklatanten Gegensatz gab zwischen den real existierenden Brüsten meiner Cousinen und Tanten, meiner Schwester und meiner Grossmutter und den runden, straffen und zugleich vollen Busen, die ich aus Werbung, Fotografie und Filmen kannte. Trotzdem speicherte mein Gehirn ab: Einzig letzterer Busen hatte die weibliche Schönheit zu verkörpern.

Zur Fotografin

Lina Scheynius ist in Schweden geboren, sie lebt und arbeitet in London. Sie ist bekannt für ihre Nackt­aufnahmen und intimen Selbst­porträts. In einem Ausstellungs­katalog heisst es über sie: «Ihre Ästhetik vermittelt eine unbestreitbare Wahrheit, sie schreckt nie vor Verletzlichkeit zurück und offenbart eine Zartheit, die alle Aufmerksamkeit verdient.» Scheynius hatte Ausstellungen in zahlreichen Galerien und Museen, unter anderem in Genf und Zürich.

Das Bild von der weiblichen Brust ist geprägt durch die ästhetischen Vorstellungen des Patriarchats – und geht doch längst nicht mehr darin auf. Heutige Frauen befreien sich zunehmend von diesen Normen und folgen ihren eigenen Sicht­weisen. Auf den BH verzichten? Die Schönheits­operation wagen? Nur im Stillen stillen, es gleich ganz sein lassen? Oder endlich die Nippel befreien? Diese Fragen stellen sich, wenn Frauen den selbst­bestimmten Umgang mit ihren Brüsten suchen. Kaum ein Teil des Frauen­körpers bündelt so viele Heraus­forderungen und leibliche Erfahrungen.

«Die weibliche Brust ist das phänomenologische Organ schlechthin, denn die Frauen können sie als Ort der männlichen Dominanz wie auch als ein Mittel einer möglichen Emanzipation erleben», sagt die feministische Philosophin Camille Froidevaux-Metterie, die in Frankreich gerade ein Buch über Brüste veröffentlicht hat. Dafür hat sie mit über vierzig Frauen jeden Alters über ihre Erfahrungen gesprochen. Ihr Buch ist zugleich ein Fotoalbum, das die Vielfalt und Wandel­barkeit der weiblichen Brust abbildet.

Brüste verändern sich nicht nur während des Zyklus, sondern auch über die verschiedenen Lebens­abschnitte hinweg und durch Erfahrungen wie Schwangerschaft oder Krankheit. Jede Frau kennt diese Veränderungen. Mal fühlt sich die Brust straff an, weil man kurz vor dem Eisprung steht, erregt ist oder auch beides. Mal kommt sie einem kleiner oder weicher vor, etwa während der Menstruation.

Diese Narrative blieben jedoch lange im Hinter­grund, weil die Darstellung der weiblichen Brust, der Diskurs über sie ohne die Frauen stattgefunden hat.

Dass die Brust Gegenstand von Objektivierung, aber auch Tabuisierung ist, entdeckt eine heran­wachsende Frau, sobald sich ihre Brüste zu entwickeln beginnen. Mit dem plötzlichen Aufblähen der Haut beginnt die Sexualisierung ihres Körpers. Für manche ist das eine Belastung, für andere ein Grund zu Freude.

«Ich hielt mich ständig gekrümmt, die Schultern hochgezogen, damit der Stoff des T-Shirts gerade fiel und man meine Brüste nicht sehen konnte», sagt etwa Line (50) im Gespräch mit der Philosophin. Sie sei einfach nicht mit ihnen klargekommen, habe sie eigentlich gar nicht gewollt, so Line weiter.

Ich selbst hingegen schaute als 13-Jährige sehnsüchtig und verzweifelt auf meinen damals flachen Oberkörper. Brüste waren für mich das unverkennbare Zeichen, dass ich zur Frau wurde, und ich konnte es kaum erwarten, dass sie grösser wurden. Ausgerechnet dieses sichtbare Zeichen des Frauseins aber, gepaart mit den Normen der Modeindustrie, birgt für Frauen die grösste Gefahr, objektiviert und auf Äusseres reduziert zu werden. Selbst eine mächtige Frau wie Angela Merkel bleibt davon nicht verschont. Als sie im Jahr 2008 mit einem tief ausgeschnittenen Dekolleté bei der Operneröffnung in Oslo erschien, war die ganze mediale Landschaft in Aufruhr. «Wieviel Dekolleté darf eine Kanzlerin zeigen?» titelte die «Welt».

Von Anfang an vergleichen wir Frauen uns mit den retuschierten Bildern der Hochglanz­magazine, kaufen Push-up-BHs als ultimativen Beweis, dass unsere realen, banalen Busen verbesserungs­würdig seien. Wie oft habe ich ungemütliche, gar schmerzhafte Dessous getragen, ohne gross über deren Sinn und Bedeutung nachzudenken? Bis heute ist wissenschaftlich überhaupt nicht nachgewiesen, dass Büsten­halter – die übrigens erst nach dem Ersten Weltkrieg erfunden wurden – gesundheitlich unentbehrlich seien, zumindest bei kleinen Brüsten. Vielmehr sind hier Normen und Konventionen wirksam.

Heute spielen die sozialen Netzwerke dabei eine ambivalente Rolle: Zum einen ermöglichen sie den Zugang zu feministischen Initiativen, zum anderen verstärken sie etablierte Schönheits­normen. Manche Frauen werden mit diesem Druck nicht mehr fertig und schämen sich derart für diesen Teil ihres Körpers, dass sie keine andere Alternative als die Operation sehen. Brust­vergrösserungen gehören weltweit zu den häufigsten ästhetischen Eingriffen. Für einige Frauen kann dieser Schritt eine Neugeburt bedeuten, eine Möglichkeit, sich in ihrem Leben zu emanzipieren. Für andere wiederum wird die Suche nach dem perfekten Körper immer ein tiefes Mangel­empfinden bedeuten. Und doch kann man sich diesen Diktaten entziehen. Besonders in den letzten fünf Jahren sind Fragen der weiblichen Körperlichkeit in den Fokus des Feminismus gerückt.

Nachdem Frauen im Laufe des 20. Jahrhunderts nach und nach politische, soziale und sexuelle Rechte errungen hatten, stellten sie doch fest, dass ihnen die Deutungs­hoheit über ihre Körper verwehrt blieb. Das führte seit den 2010er-Jahren zu vielen Projekten, Debatten über Menstruation, die weibliche Lust, über die Rolle der Klitoris und die entsprechenden Tabus. In diesem Kontext entstand auch 2017 die #MeToo-Welle.

Eine Diskussion über «emanzipierte» Brüste gehört selbst­verständlich dazu. Hashtags wie #NoBra oder #FreeTheNipple, die seit einigen Jahren die sozialen Netzwerke erobern, sind nicht Ausdruck neuer Modetrends, sondern zeugen vom entschiedenen Wunsch heutiger Frauen, sich die Deutungs­hoheit über die weibliche Brust zurück­zuerobern. Noch sind diese Stimmen im feministischen Diskurs nicht so präsent wie diejenigen, die sich dafür einsetzen, dass über Themen wie Menstruation oder weibliche Lust gesprochen wird; auch sind sie nicht ganz neu: Frauen haben schon nach 1968 ganz bewusst ihre BHs abgelegt. Doch hat das Streben nach körperlicher Selbst­bestimmung zuletzt wieder verstärkt «eine politische Dimension bekommen», wie Camille Froidevaux-Metterie bemerkt.

Zu den Forderungen, die auch die Frauen im Buch von Camille Froidevaux-Metterie formulieren, gehört etwa, die Brust zu entsexualisieren. Konkret: Frauen, die auf das Tragen eines BHs verzichten, sollen sich nicht rechtfertigen müssen oder als aufreizend hingestellt werden, wenn dadurch ihre Brustnippel sichtbar werden. Andere Stimmen fordern gar, ohne Oberteil ins Schwimmbad oder einfach auch mit nacktem Ober­körper auf der Strasse gehen zu dürfen, wenn es heiss ist. «Ich finde, man sollte nicht so viel Aufhebens um Brüste machen (…) Wenn ich oben ohne auf der Strasse gehen könnte, würde ich das machen!», meint die 20-jährige Luz.

Sind solche Vorschläge ein reines Gedanken­spiel, oder sollten alle Frauen dafür kämpfen?

Vielleicht hängt die Antwort von dem Weg jeder Einzelnen und dem Verhältnis zu ihrem Körper ab. Für mich wäre es nicht vorstellbar, mit nackten Brüsten durch die Stadt zu laufen. Allein schon weil für mich die Brust ein wichtiger Aspekt meiner Sexualität und damit meiner Intimität ist. Für nicht wenige Frauen sind die Brüste ja auch fast genauso erogen wie die Klitoris. Nur beschränke sich die sexuelle Dimension der Busen noch immer meist «auf die Rolle der Verführung», so Froidevaux-Metterie. Sobald sich die Körper näher kommen, spielen die Brüste zumindest in einer hetero­sexuellen Beziehung eine untergeordnete Rolle.

Das hat sicher mit dem heterosexuellen Szenario zu tun, in dem der Sexual­verkehr von der Penetration beherrscht wird. Aber auch mit der Tatsache, dass Frauen bis heute nicht dazu animiert werden, über ihre Lust zu sprechen. Statt zu sagen, was sie wollen, sagen sie, was sie nicht wollen. Oder wie es die französische Philosophin im Gespräch formuliert: «Es ist offensichtlich, dass wir nicht gelernt haben, aus unseren Brüsten Quellen der Lust zu machen.»

Schon immer besonders aufgeladen waren Diskussionen über die weibliche Brust in einer ganz bestimmten Funktion: als mütterliche Brust. Anders als etwa in Deutschland oder der Schweiz wurden in Frankreich Frauen lange eher davon abgehalten zu stillen, damit ihre Brüste geschont bleiben und die Frauen ihren Platz in der Gesellschaft schnell wieder einnehmen können. Deswegen bekommen französische Babys weitaus seltener die Brust als ihre europäischen Nachbarn. Laut einer Studie von 2015 stillen 69,7 Prozent der Französinnen direkt nach der Geburt ihres Kindes. In der Schweiz sind es laut einer Erhebung von 2014 hingegen 95 Prozent der Mütter.

Inzwischen werden Frauen vermehrt dazu aufgefordert zu stillen, was Intellektuelle wie die französische Philosophin Elisabeth Badinter als «eine Rückkehr des Naturalismus» empfinden: einen konservativen Backlash also, der die Frau wieder zurück an den Herd bringen solle. Wie polarisierend diese Debatte in Frankreich verläuft, zeigt ein Aufruf, den 1000 Frauen, darunter Feministinnen, Schau­spielerinnen und Journalistinnen, im Jahr 2016 unterschrieben haben. Darin forderten sie das Ende eines gesellschaftlichen Diskurses, der Frauen das Stillen vorzuschreiben versucht oder aber Schuld­gefühle weckt, wenn sie dies ablehnen. Das Stillen solle «eine persönliche Entscheidung» bleiben.

Auch wenn es Unterschiede zwischen einzelnen Ländern gibt: Der gesellschaftliche Druck zu stillen ist generell nach wie vor enorm. Das wurde mir spätestens bei der Geburt meines ersten Kindes in einem Berliner Kranken­haus klar. Für die Hebammen war es ganz selbst­verständlich, dass ich das Kind an die Brust legen würde. Nicht dass ich prinzipiell dagegen war – ich wollte stillen. Nur wäre ich gern gefragt worden. Einfach nur, weil dieser Teil meines Körpers allein mir gehört.

Es gibt also mindestens zwei Tendenzen, die die westlichen Gesellschaften durchziehen: eine starke Erotisierung einerseits und eine Idealisierung der mütterlichen Brust andererseits. In beiden Fällen haben Frauen damit zu kämpfen, dass die Gesellschaft Anspruch erhebt, über ihren Körper mitzubestimmen.

Und mehr noch: Für viele Frauen stehen Sexualität und Mutter­rolle in einem Konflikt. «Es ist sehr schwer, diese beiden Dimensionen zu vereinbaren», sagt Camille Froidevaux-Metterie. Die Frauen, die im Gespräch mit ihr erklärten, nicht stillen zu wollen, begründeten dies oft mit dem Schutz ihrer Sexualität.

Auch dies ist gewissermassen ein Erbe unserer Kultur­geschichte. In früheren Jahrhunderten war es für eine stillende Mutter verpönt, sexuell aktiv zu sein. So gaben Frauen ihre Neugeborenen auch deshalb an Ammen, um weiter sexuell verfügbar zu bleiben. Als sich Philosophen und Ärzte im 18. Jahr­hundert gegen diese verbreitete Gewohnheit wandten, wurde das Stillen als Ausdruck guter Sitten gewertet.

Eigentlich sollte es nun im 21. Jahr­hundert möglich sein, beides zu vereinbaren: körperliche Selbstbestimmung im Sexuellen ebenso wie in der Mutter­rolle. Überlassen wir es doch endlich den Frauen, was sie mit ihren Körpern machen wollen. Es gibt eben nicht den einen richtigen Weg, sondern nur das Bestreben, mit sich selbst in Über­einstimmung zu sein.

Zur Autorin

Cécile Calla, 42 Jahre alt, lebt als freie Journalistin und Autorin in Berlin. Sie hat den feministischen Blog «Medusablätter» gegründet. Zuvor war sie Korrespondentin der Tages­zeitung «Le Monde» und Chef­redaktorin des deutsch-französischen Magazins «ParisBerlin».

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