«Sollte man Antifaschismus etwa nicht verordnen?»

Wo steht Deutschland am 75. Jahrestag der Befreiung vom National­sozialismus? Wir haben mit der Philosophin Susan Neiman über Vergangenheits­aufarbeitung und das Problem historischer Vergleiche gesprochen.

Ein Interview von Daniel Graf, 08.05.2020

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«In der Bundesrepublik sahen sich die meisten jahrzehntelang selbst als Opfer»: Susan Neiman. Daniel Hofer/laif

Am 8. Mai 1945 wurde Deutschland durch die Alliierten vom NS-Regime befreit. Heute, 75 Jahre später, ist dieser Jahrestag nun offizieller Feiertag – allerdings vorerst nur einmalig und nur in Berlin. Was verrät die Geschichte des Umgangs mit diesem Datum über die deutsche Auseinander­setzung mit dem Zivilisations­bruch des Holocaust und mit der NS-Ideologie, die weit über 1945 hinaus fortwirkte? Wie stellt sich die deutsche Aufarbeitung der eigenen Geschichte heute dar, in Zeiten rechten Terrors und des Aufstiegs der AfD? Die Philosophin Susan Neiman, die als jüdische Amerikanerin im Westberlin der 1980er-Jahre gelebt hat und seit 2000 das Einstein Forum in Potsdam leitet, hat zu diesen Fragen jüngst ein Buch vorgelegt.

Frau Neiman, der 8. Mai als Tag des Gedenkens hat in Deutschland eine komplizierte Geschichte. Warum haben sich die Deutschen lange so schwer­getan, diesen Tag als «Tag der Befreiung» zu feiern?
Sie stellen die Frage auf eine typisch westdeutsche Weise …

… weil ich gleich hätte dazusagen müssen, dass diese Geschichte eine doppelte ist?
Ja, das möchte ich einfach immer wieder betonen. Man vergisst vollkommen, dass der 8. Mai in der DDR schon seit deren Gründung 1949 «Tag der Befreiung» hiess. Oft kommt der Hinweis, der Antifaschismus in der DDR sei ja ein «verordneter» gewesen. Wobei meine Frage dann immer lautet: Sollte man Antifaschismus etwa nicht verordnen? Deutschland war ein faschistisches Land. Das war eine Bevölkerung, die noch schwer von der faschistischen Ideologie geprägt wurde. Es war absolut richtig, das zur Staats­räson zu erklären.

Das heisst, der Vorwurf «verordnet» taugt aus Ihrer Sicht nicht, um die Vergangenheits­aufarbeitung der DDR zu diskreditieren – wie das manchmal aus westdeutscher Perspektive suggeriert wird.
Wie das fast immer aus westdeutscher Perspektive suggeriert wird! (lacht) Es hat 40 Jahre gedauert, bis die Bundes­republik denselben Schritt gewagt hat. Vorher hiess der 8. Mai dort «Tag der Kapitulation», «Tag der Niederlage» oder man liess das Datum einfach unbenannt. Es war ein grosser Schritt, als Richard von Weizsäcker vor 35 Jahren in seiner Rede zum 8. Mai die Worte «Tag der Befreiung» benutzt hat. Ich lebte allerdings damals schon in Westberlin und habe gar nicht verstanden, warum diese Rede so bedeutend sein soll. Denn Weizsäcker hat eigentlich nur das gesagt, was alle im Ausland für selbst­verständlich hielten: Ja, die Deutschen haben gelitten, aber andere haben noch viel mehr gelitten – und wer hat den Krieg angefangen?

Heute werten Sie diese Rede dennoch als Wegmarke bei der deutschen Vergangenheits­aufarbeitung. Warum genau war sie so wichtig?
Ich habe lange etwas Grundlegendes nicht verstanden, und ich glaube, das geht den meisten Ausländern so: nämlich, dass die meisten Menschen in der Bundes­republik sich jahrzehnte­lang als Opfer sahen. Bei Weizsäckers Rede war ich schon drei Jahre in Berlin und kannte viele Leute, die von ihren Nazi-Eltern erzählten. Da waren Scham- und Schuld­gefühle, extrem komplizierte Familien­geschichten und Brüche. Was sie aber nicht sagten: Sie waren nicht nur Nazis, sie haben sich auch selbst als die grössten Opfer gefühlt. Etwas Zweites: Vor allem ein Bild von Nachkriegs­deutschland ging um die Welt, und das war Willy Brandts Kniefall.

In Warschau, 1970, am Ehrenmal für die Toten des Ghettos.
Für uns Ausländerinnen war das repräsentativ von Deutschland, denn das war das Bild, das wir sehen sollten. Für uns war klar: Diese Verbrechen sind begangen worden – natürlich soll der deutsche Vertreter dafür Busse leisten, auch wenn Brandt persönlich sich nichts hatte zuschulden kommen lassen. Was aber im Ausland nicht erzählt wurde: dass Brandt extrem unpopulär war, erstens wegen seiner Emigration und zweitens wegen dieser Geste in Warschau, die für viele West­deutsche schrecklich gewesen war.

Unpopulär zumindest in bestimmten Kreisen. Die Union hat 1961, noch unter Adenauer, Wahlkampf­stimmung gegen Brandt mit dem Hinweis gemacht, dass er im Exil gewesen war.
Das verschlug mir die Sprache, als ich das erfahren habe! Genau das, was Brandt in den Augen des Auslands zum «guten Deutschen» gemacht hat, eben die Tatsache, dass er freiwillig in die Emigration ging, hat ihn in den Augen seiner Landsleute zum «schlechten Deutschen» gemacht. Das ist schwer verständlich. Aber es war eben so.

Vor dem Hintergrund dessen, was Sie eben sagten: Welche Bedeutung hatte es, dass Weizsäckers Rede vom 8. Mai 1985 von einem Konservativen kam?
Genau das war eben wichtig. Und vergessen wir nicht: Weizsäcker war nicht nur ein Konservativer, er war auch an der Verteidigung seines Vaters bei den Nürnberger Prozessen beteiligt und fand die Verurteilung seines Vaters, Staats­sekretär im Auswärtigen Amt, immer ungerecht, bis zum Ende seiner Tage. Ernst von Weizsäcker musste allerdings nicht lange im Gefängnis bleiben, so wie fast alle, die in West­deutschland verurteilt worden sind. Sie wurden schnell entlassen – anders wiederum als in der DDR, wo viele alte Nazis vor Gericht kamen und es mehr Verurteilungen gab.

Für die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte gibt es in Deutschland verschiedene Bezeichnungen, etwa «Vergangenheits­bewältigung» oder «Erinnerungs­kultur» als eher jüngeren Begriff. Sie verwenden bewusst den Begriff «Vergangenheits­aufarbeitung». Weshalb?
Die Vergangenheit kann nie bewältigt werden. Sie ist nichts, was man ein für alle Mal hinter sich lassen könnte. Aber ich finde auch diese jüngere Bezeichnung «Erinnerungs­kultur» wirklich merkwürdig.

Empfinden Sie das Wort als euphemistisch?
Total euphemistisch! Es gibt jetzt allerdings eine ganze akademische Spezial­disziplin namens «Memory Studies». Darin geht es ja im Grunde nur um die negativen Erinnerungen. Die Erinnerungs­kultur verweist auf das Gebot: Man darf nicht vergessen, was begangen wurde.

Aber das würden Sie doch auch unterschreiben?
Das unterstreiche ich. Aber ich würde es nicht mit dieser vagen, nichts­sagenden Formel «Erinnerungs­kultur» benennen. Ich verwende das Wort «Aufarbeitung», weil es nicht suggeriert, dass man damit an ein Ende kommen könnte. Die Schuld aufzuarbeiten, das ist doch der Sinn der Erinnerung. Das Gebot, sich zu erinnern, besteht ja nicht einfach so – das hat einen Zweck. Also ich wehre mich gegen das Wort «Erinnerungs­kultur», aber ich werde damit wohl kaum erfolgreich sein. Der Begriff hat sich ziemlich durchgesetzt.

Ihr aktuelles Buch «Von den Deutschen lernen» zeigt noch einmal eindrucks­voll auf, wie sehr falsche historische Vergleiche einer Aufarbeitung gerade entgegen­stehen. Dennoch haben Sie eine vergleichende Perspektive zwischen Deutschland und den USA gewählt. In welcher Hinsicht?
Es wird in Deutschland manchmal sehr scharf reagiert und gesagt: Man darf die Nazis mit überhaupt nichts vergleichen. Dabei wird aber vergessen: Man vergleicht sie sehr wohl, und zwar mit dem Kommunismus, über die Totalitarismus­theorie. Dieser Vergleich wird oft missbraucht. Interessanter­weise hat man den Historiker­streit vergessen.

Die Debatte von 1986/1987.
Ja, sie ist sehr breit geführt worden, und danach war es weitgehend Konsens, dass man die Verbrechen des Nazismus und des Stalinismus auf keinen Fall gleichsetzen dürfe.

Aber der Vergleich zwischen Deutschland und den USA in Ihrem Buch ist ein ganz anderer.
Es gibt in der Geschichte der USA zwei grosse «Ursünden», wenn man das so nennen will: den Genozid an den Ureinwohnern und die Sklaverei, bei der man nicht einmal weiss, wie viele Menschen bereits auf der Überfahrt ermordet wurden. Man geht von Millionen aus. Die Menschen wurden im Zuge der Sklaverei nicht nur gefoltert, sondern auch ermordet. Und zwar – das ist sehr wichtig, denn auch viele weisse Amerikaner wissen das nicht – auch nach 1865 und dem Ende des Bürger­kriegs, als die Sklaverei offiziell verboten war. Man hat vor allem in den Südstaaten, aber auch im Norden, Wege gefunden, Sklaverei in anderen Formen weiterzuführen. Was mich jedenfalls interessiert am Vergleich mit Deutschland – und das Eingangs­kapitel reflektiert die Probleme des Vergleichens –, ist weniger, wie man zwei Formen des Bösen vergleicht. Sondern wie man zwei Formen der Aufarbeitung vergleichen kann. Und in dieser Hinsicht, muss man sagen, steht Deutschland deutlich besser da als die USA.

In Deutschland werden Sie auch auf Unbehagen stossen mit einer Diagnose, die der deutschen Vergangenheits­aufarbeitung ein relativ gutes Zeugnis ausstellt.
Die Betonung muss auf dem Wort «relativ» liegen. Ich habe nicht gesagt, dass alles gut gegangen ist – ganz im Gegenteil. Die ersten 40 Jahre nach dem Krieg war es skandalös. Und Ralph Giordano hat vollkommen recht, wenn er in seinem Buch von einer «zweiten Schuld» spricht. Aber relativ zu anderen Ländern … die USA stecken diesbezüglich gerade erst in den Kinderschuhen.

Woran machen Sie das fest?
Die unsägliche Präsidentschaft von Donald Trump hat vielen weissen Amerikanern klargemacht, wie tief der Rassismus in unserer Geschichte wurzelt und wie wenig wir von der Geschichte wissen. Diese unaufgearbeitete Geschichte ist dadurch aber doch in der Gegenwart präsent. Als ich vor vier Jahren anfing mit meinen Forschungen, erschraken auch die meisten Amerikanerinnen, wenn ich sagte: «Learning from the Germans» sei der Titel meines Buches. Jetzt ist das nicht mehr so. Jetzt ist klar geworden, dass Nazis nicht nur ein deutsches Problem sind. Weil der Mann, der im Weissen Haus sitzt, auch Menschen mit Haken­kreuz­fahne verteidigt. Aber für Deutschland haben Sie natürlich recht. Der Hang zur Selbst­kritik ist sehr stark, und der Witz ist: Das ist auch gut so! Es wäre fatal, wenn Deutsche sich als Weltmeister der Vergangenheits­aufarbeitung brüsten würden. Das hätte etwas Perverses.

«Es gibt derzeit eine weltweite Tendenz zu Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus.» Daniel Hofer/laif

Es wäre moralisch falsch. Aber es wäre auch mit der gegenwärtigen Empirie schwer kompatibel. Da ist der Aufstieg der AfD, wir haben Halle erlebt und Hanau, es gibt eine hohe Zahl antisemitischer Delikte. Was ist da schief­gelaufen bei der Vergangenheits­aufarbeitung?
Zunächst mal, und das kann ich als nicht gebürtige Deutsche sagen, obwohl ich inzwischen auch die deutsche Staats­bürgerschaft habe: In anderen Ländern ist es noch viel schlimmer. Es gibt derzeit eine weltweite Tendenz zu Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus. Und – es ist traurig, das zu sagen – in den letzten anderthalb Jahren sind in den USA mehr Juden ermordet worden als irgendwo sonst auf der Welt. Ich will die Ausländer­feindlichkeit und den Antisemitismus in Deutschland überhaupt nicht kleinreden. Ich will nur sagen: Die Vergangenheits­aufarbeitung hat dazu geführt, dass diese Phänomene, relativ betrachtet, weniger stark sind als in anderen Ländern – Gott sei Dank. Und meine Botschaft ist vielleicht: Vergangenheits­aufarbeitung ist keine Impfung, nichts, womit man ein für alle Mal fertig sein kann. Man muss jetzt nicht verzweifeln und sagen, es hat alles nichts genutzt, weil wir nun eine rechts­radikale Partei haben, die gerade diese Vergangenheits­aufarbeitung im Zentrum ihres Programms angreift – «Denkmal der Schande» etc. Vielmehr möchte ich die Deutschen ermutigen, die Auseinander­setzung mit der eigenen Geschichte aufrecht­zuerhalten und weiter auszubauen.

Was aber, wenn sich hinter den positiven Entwicklungen, die Sie beschrieben haben, nur veränderte Erscheinungs­formen verbergen? Dass also offener Antisemitismus gesellschaftlich stärker an den Rand gedrängt ist als früher, aber israelbezogener Antisemitismus weitverbreitet ist. Und es gibt Diskriminierung von anderen Minderheiten, denen gegenüber Hass­kriminalität weniger tabuisiert ist.
Die Problemlage ist komplex, aber es ist sicher richtig, dass es neue Erscheinungs­formen in diesem Land gibt, und zwar seit längerer Zeit. In der Öffentlichkeit ist es weitgehend tabuisiert, ganz offen Vorurteile gegenüber Juden zu äussern, während das gegenüber Muslimen oder anderen Minder­heiten eher geschieht. Was das Thema Israel­kritik angeht, müssen wir extrem vorsichtig sein. Soeben fand ich mich in die Kontroverse um Achille Mbembe verwickelt. Ich bin gefragt worden, ob ich für ein Radiogespräch zur Verfügung stünde, und auf einmal ist es für mich ein Dauer­thema. Es stimmt: Es ist möglich, dass Kritiker von Israel auch antisemitisch sind, aber nicht jede Kritik an israelischer Politik ist antisemitisch. Und viele Deutsche, auch die deutsche Regierung, machen es sich zu einfach mit der Gleich­setzung von scharfer Kritik an Israel mit Antisemitismus. Das finde ich sehr problematisch.

Vielleicht müssen wir den Fall, den Sie eben ansprachen, kurz konkretisieren: Der renommierte kamerunische Intellektuelle Achille Mbembe steht in Deutschland derzeit scharf in der Kritik: Ihm werden Antisemitismus und eine Nähe zu der Organisation BDS vorgeworfen, die der Deutsche Bundestag als antisemitisch einstuft. Verschiedene Stimmen wiederum haben Mbembe verteidigt, er selbst bestreitet die Vorwürfe. Sie sagten es schon, auch Sie haben sich zu Wort gemeldet. Wie nehmen Sie diese Debatte wahr?
Man muss sagen, dass die kritischen Äusserungen von Achille Mbembe nicht schärfer sind als solche, die man auch von vielen Israelis und Juden hört. Und Mbembe hat sich von BDS distanziert.

Dennoch müssen wir hier auf eine konkrete Textstelle schauen. In den Fokus des Streits ist ein Text gekommen, der bis dahin kaum bekannt war: ein Vorwort von Mbembe aus einem 2015 erschienenen Band mit dem Titel «Apartheid Israel». Darin schreibt Mbembe einerseits, Israel habe das Recht, in Frieden zu leben. Andererseits aber nennt er «die Besetzung Palästinas» den «grössten moralischen Skandal unserer Zeit» und folgert, «die Zeit für eine globale Isolation» sei gekommen. Bei aller Wert­schätzung für anderes, was der Autor geschrieben hat: Das ist doch zumindest ein Satz, den man nicht so stehen lassen kann und der nicht anders klingt als Boykott­aufrufe von BDS.
Ja, was Mbembe schreibt, ist übertrieben. Und man müsste auch auf Menschenrechts­verletzungen zum Beispiel in Saudiarabien oder China hinweisen. In China gibt es derzeit Konzentrations­lager mit Millionen von Uiguren, und weil China so grosse ökonomische Bedeutung hat, wird kaum darüber gesprochen. Und die Menschenrechts­verletzungen in Saudiarabien und anderswo sind hinreichend bekannt.

Solche Hinweise bringt Mbembe ja nicht, sondern verweist mit einem Superlativ speziell auf Israel. Können Sie nach­vollziehen, dass man das als Dämonisierung empfinden kann?
Ja, das verstehe ich. Aber es war schliesslich ein kleines Vorwort in einem Buch «Apartheid Israel». Ich sehe, dass das diskriminierend wirkt. Aber auch meine israelischen Freunde, die zur Friedens­bewegung gehören und in den besetzten Gebieten arbeiten, sind extrem verzweifelt. Ich bin selbst ein paarmal da gewesen mit dieser Gruppe und war erschrocken, weil alles, was ich bis dahin gelesen hatte, die Wirklichkeit dieser apartheid­ähnlichen Zustände gar nicht wider­spiegeln konnte. Das muss man einfach sagen. Diese Zustände sind übrigens längst auch von anderen, etwa dem südafrikanischen Apartheid-Gegner Breyten Breytenbach, so beschrieben worden.

Diskutiert wird nicht nur dieser eine Satz. Auch auf Passagen aus dem Buch «Politik der Feindschaft» wird kritisch hingewiesen.
Ich bin keine Expertin für das Werk von Mbembe, aber die problematischen Passagen habe ich alle gelesen, und das Einzige, was ich wirklich problematisch fand, war der Passus in dem Vorwort. Die anderen Stellen, die angeblich den Holocaust relativieren, da finde ich die Vorwürfe völlig übertrieben.

Was bedeutet die Kontroverse für die Postcolonial Studies?
Ich würde Mbembe nach Lektüre seiner Texte und seiner Erklärungen nicht als Antisemiten bezeichnen, sondern nehme ihm persönlich seine Erklärung dazu ab. Es ist aber schon so, dass die Postcolonial Studies in den letzten Jahren einen Hang dazu entwickelt haben, Israel als Kolonial­macht zu sehen, ohne Kontext, ohne Geschichte. Und Palästina als Metapher für alle Kolonien, die es je gegeben hat.

Also ein ganz simples Freund-Feind-Schema für einen sehr komplexen Konflikt?
Ja. Und dazu muss ich als Jüdin, aber auch als israelische Staats­bürgerin, die ich immer noch bin, sagen, dass sich beide Seiten bewegen müssen. Israel nur als Kolonial­macht zu sehen, ist absurd. Die Postcolonial Studies müssen verstehen, dass die Gründung des Staates Israel einen Grund hatte und leider immer noch einen Grund hat: Es gibt Nachbar­staaten, Ägypten ist einer davon, die sich freuen würden, wenn es Israel nicht mehr gäbe. Richtig ist aber auch: Israel hat jetzt die rechteste Regierung seiner Geschichte. Es ist kein Zufall, dass Netanyahu der engste Verbündete von Donald Trump ist, nicht mal Bolsonaro schafft es, so Trump-treu zu sein. Und das ist eine giftige Verbindung, die zu einer Verschlechterung für die Palästinenser in den besetzten Gebieten führt.

«Die Schuld aufzuarbeiten, das ist doch der Sinn der Erinnerung.» Daniel Hofer/laif

Lassen Sie uns zur deutschen Vergangenheits­aufarbeitung zurück­kehren. Die deutsche Geschichte nach 1945 war auch eine Geschichte höchst problematischer Vergleiche. Man verwies gerne auf die Verbrechen anderer Nationen, sehr gerne etwa auf die USA.
Das ist richtig. Die Nazis haben das natürlich als Entlastung gemacht. Es hiess immer wieder: Was die USA in ihrer Politik gegen die indigenen Völker gemacht haben, das könne Deutschland in Osteuropa machen. Und ich verstehe, wenn Deutsche heute sehr vorsichtig sind mit Vergleichen, denn diese Entlastungs­versuche reichten bis weit in die Nachkriegs­zeit hinein.

Um die eigene Schuld zu relativieren.
Deshalb habe ich immer wieder einen Satz des bulgarisch-französischen Philosophen Tzvetan Todorov zitiert: Deutsche sollen auf die Singularität des Holocaust hinweisen, Juden auf die Universalität. Das ist kein Paradox! Wenn ein Deutscher sagt, der Holocaust ist universell, ist das ein Entlastungs­narrativ. Wenn eine Jüdin sagen würde, der Holocaust sei singulär, hätte das für mich einen Beigeschmack. Es hiesse, nur das Verbrechen gegenüber meinem Stamm ist wirklich schlimm, und das möchte ich auf keinen Fall sagen.

Es kommt also nicht nur darauf an, was womit verglichen wird. Sondern wichtig ist auch: Wozu, mit welchem Zweck wird verglichen?
Genau. Ein Deutscher, der sagt, der Holocaust ist singulär, zeigt, dass er Verantwortung übernimmt. Wenn eine Amerikanerin sagt: «Schau mal, wie die Deutschen Verantwortung übernommen haben – machen wir doch was Ähnliches», dann ist das mein Versuch, Verantwortung zu übernehmen. Die Wende, die sich mit der Weizsäcker-Rede vollzog, steht in den Südstaaten der USA noch aus. Da werden die Armeen der Südstaaten bis heute als Helden, aber auch als grösste Opfer angesehen. Erst mit der Arbeit an diesem Buch habe ich verstanden, wie die Deutschen in den ersten Jahr­zehnten nach dem Weltkrieg über sich sprachen: «Unsere Städte wurden zerbombt; unsere Männer sind gefallen; unsere Frauen und Kinder litten an Hunger. Und zu allem Überfluss haben uns dann noch die Amis gesagt, wir sind selbst dran schuld.» Exakt solche Reden hört man bis heute in den Südstaaten über den Bürger­krieg. Also: «Wir haben gelitten, wir waren die grössten Opfer – und die Yankees sagen auch noch, der Krieg sei unsere Schuld.» Dieser Mythos wurde auch in den Norden weiter­getragen. Der Bürger­krieg wird im ganzen Land verklärt und spielt eine grosse Rolle für die jetzigen Race Politics der Vereinigten Staaten.

Die Holocaust-Überlebende Esther Bejarano und viele andere fordern, der 8. Mai solle endlich ein gesetzlicher Feiertag in Deutschland werden. Würden Sie sich dem anschliessen?
Ja, das würde ich unterstützen.

Ein Schlüsselsatz Ihres Buches lautet: «Erinnerung ist kein Zauber.» Was bedeutet der Satz für die Vergangenheits­aufarbeitung der Zukunft?
Dass wir immer wieder aufpassen müssen, dass Vergangenheits­aufarbeitung nicht zu sehr ritualisiert wird. Und da Sie mich fragten wegen des 8. Mai: Wenn man den 8. Mai als nationalen Feier­tag ausrufen will, muss man wirklich kreative Formen finden, diesen Feier­tag zu begehen, damit es nicht in leerem Gerede endet. Es gibt ja Leute, die genau über diese Dinge nachdenken. Und das ist unbedingt notwendig.

Zur Person

Susan Neiman, 1955 in Atlanta geboren, ist Philosophin und Autorin zahl­reicher Sach­bücher. Sie war Professorin in Yale und Tel Aviv, seit 2000 ist sie Direktorin des Einstein Forums in Potsdam. Sie promovierte bei dem Gerechtigkeits­theoretiker John Rawls, ein durchgängiger Bezugs­punkt ihrer Arbeit ist die Philosophie von Immanuel Kant. Kürzlich erschien ihr aktuelles Buch «Von den Deutschen lernen» in deutscher Übersetzung. Zuvor erschienen «Das Böse denken. Eine andere Geschichte der Philosophie» (2004), «Moralische Klarheit» (2010), «Warum erwachsen werden? Eine philosophische Ermutigung» (2015) und «Widerstand der Vernunft. Ein Manifest in postfaktischen Zeiten» (2017).

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