In «Green Britain» zählt das Pariser Abkommen
Ein britisches Gericht stoppt den geplanten Ausbau des Londoner Flughafens Heathrow. Ein globaler Präzedenzfall, der weltweit die Taktik von Klimaaktivistinnen verändern könnte.
Von Yvonne Kunz, 06.05.2020
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Leere Autobahnen, gedrosselte Kraftwerke, parkierte Flugzeuge. Covid-19 erzwingt innert Wochen, was zuvor nicht zu schaffen schien: den globalen CO2-Ausstoss drastisch zu reduzieren. Ganz so, wie es sich die Weltgemeinschaft immer wieder vornimmt. 1992 mit der Uno-Klimarahmenkonvention. Im Kyoto-Protokoll 1997. Und zuletzt im Pariser Klimaabkommen, als sich 2015 erstmals alle Staaten der Erde verpflichteten, alles zu tun, um den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur auf 1,5 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau zu halten. Im Oktober 2016 wurde das Abkommen mit der Ratifizierung des Vertrags in jenen 55 Ländern völkerrechtlich bindend, die 55 Prozent der Emissionen verursachen.
Seither müssen die Staaten alle fünf Jahre ein nationales Reduktionsziel bestimmen und Massnahmen definieren, um es zu erreichen. Oder müssten: Nur die Marshallinseln, Surinam und Norwegen hielten sich dieses Jahr an die Frist zur Einreichung ihrer Ziele 2030. Die meisten scheinen das Abkommen eher als unverbindliche Empfehlung zu betrachten – weshalb sie es nach Lust und Laune ignorieren. Das könnte sich nun ändern: In einem wegweisenden Urteil haben britische Richter diesen Februar Ausbaupläne des Londoner Flughafens Heathrow gestoppt – und sich beim Entscheid als weltweit erstes Gericht bei der Beurteilung eines grossen staatlichen Infrastrukturprojekts aufs Pariser Klimaabkommen berufen.
Ort: Court of Appeal, London, Civil Division, Court 71
Zeit: 27. Februar 2020, 10 Uhr
Fall-Nr.: C1/2019/1053, C1/2019/1056, C1/2019/1145
Thema: Einsprachen gegen die Flughafenerweiterung Heathrow
Mit einem Passagieraufkommen von jährlich 80 Millionen ist London Heathrow schon heute der siebtgrösste Flughafen der Welt. Ginge es nach der Betreiberin Heathrow Airport Ltd., würde er dereinst der grösste. Mit einer zusätzlichen Piste sollten täglich weitere 700 Starts und Landungen hinzukommen – oder rund 40 Millionen Fluggäste. Und damit ein enormer boost für den Wirtschaftsstandort Grossbritannien.
Die Politik hatte mitgezogen. Das Kabinett der damaligen Premierministerin Theresa May stellte sich 2016 hinter die Pläne und erklärte die Ausweitung der Flugkapazitäten im Südosten des Landes zur offiziellen Regierungsstrategie. Das entsprechende «Airports National Policy Statement» des Staatssekretariats für Transport wurde vom britischen Unterhaus zwei Jahre später verabschiedet. Damit verhalf das Parlament dem seit Jahrzehnten heftig umstrittenen Vorhaben zum Durchbruch.
Doch die direkt betroffenen Stadtteile gingen rechtlich gegen das Grossprojekt vor. Wegen Lärm, wegen Luftverschmutzung. Weil Tausende Häuser abgerissen werden müssten. Der heutige Premier Boris Johnson, damals noch Londons Bürgermeister, schwor schon 2015, er würde sich persönlich vor die Bagger legen, sollten sie denn auffahren. Auch Umweltorganisationen wehrten sich auf dem Rechtsweg, Greenpeace, Friends of the Earth und die juristische Organisation Plan B Earth.
Nachdem ein britisches Obergericht alle Klagen abgelehnt hatte, gelangten die Parteien vergangenes Jahr unter der Federführung von Plan B Earth an das Berufungsgericht des Landes, den Court of Appeal. Eines der Hauptargumente: «irrational policy». Dazu muss man wissen: Great Britain brüstet sich auch gerne als Green Britain. Als erstes Land überhaupt rief das Königreich vergangenes Jahr den Klimanotstand aus. Unter den grossen Industrienationen ist es bis heute die einzige, in der die Klimaneutralität bis 2050 nicht nur ein Versprechen ist, sondern seit Juni 2019 gesetzlich verankert.
Vor diesem Hintergrund schrieb Tim Crosland, Anwalt von Plan B Earth, in der Beschwerde zusammengefasst und sinngemäss: Man kann nicht einerseits eine Flughafenerweiterung verfolgen, die für sich den CO2-Ausstoss eines kleinen Landes verursachen würde. Und sich gleichzeitig den Pariser Klimazielen verschreiben. Darüber hinaus gelte der Grundsatz: Ein Staat habe die Sicherheit seiner Bürgerinnen zu gewährleisten. Darin einzuschliessen sei, den katastrophalen Folgen einer ungebremsten Erderwärmung entgegenzuwirken.
Was das Berufungsgericht sagt – und was nicht
In den einleitenden Bemerkungen zu seinem Urteil vom 27. Februar 2020 stellt der Court of Appeal gleich klar: In die politische Debatte wolle man sich nicht hineinziehen lassen. Man äussere sich nicht zur Grundsatzfrage, ob der Flughafen Heathrow ausgebaut werden soll oder nicht, das sei «none of the court’s business». Im Fokus des Gerichts stehe die rein juristische Frage, ob die gesetzliche Grundlage dazu, das «Airports National Policy Statement», gesetzeskonform zustande gekommen sei. Und die Antwort auf diese Frage sei: ganz klar Nein.
Der Gerichtsvorsitzende Lord Justice Lindblom bei der Urteilseröffnung: «Das Staatssekretariat hätte bei der Formulierung seiner nationalen Flughafenpolitik das Pariser Abkommen in Betracht ziehen müssen.» Die Flughafenerweiterung sei nicht per se unvereinbar mit den Pariser Klimazielen. Nur habe die Regierung überhaupt nicht dargelegt, wie sie den Ausbau mit diesen in Einklang bringen wolle. Ohne diesbezügliche Ausführungen sei die gesetzliche Grundlage, auf die sich die Regierung abstützte, in ihrer heutigen Form unhaltbar; weil sie im Widerspruch zu den eigenen, vom Parlament auf der Basis des Pariser Abkommens ebenfalls beschlossenen, nationalen Klimagesetzen stehe.
Die Reaktionen auf das Urteil, die Konsequenzen daraus
Londons Bürgermeister Sadiq Khan feierte das Verdikt als «Sieg für künftige Generationen». Es ist wohl auch ein endgültiger Sieg. Die Regierung hat bereits angekündigt, auf einen Weiterzug an den Supreme Court zu verzichten. Damit ist die Berufung, welche die Flughafenbetreiberin einreichen wird, chancenlos.
Im Interview mit dem kanadischen Radiosender CBC sagte Anwalt Tim Crosland: «Die Regierung hat die Ausbaupläne für Heathrow gegenüber Parlament und Öffentlichkeit stets als Paris-konform dargestellt. Im Verfahren hat sich aber gezeigt, dass das nicht stimmt.» Als die Regierungsanwälte im Gerichtssaal sagten, die Pariser Klimaziele seien «vorliegend nicht relevant», habe das auf der Richterbank für spürbares Stutzen gesorgt, erinnert sich Crosland. Es sei der Moment gewesen, in dem er gewusst habe: Der Fall ist gewonnen.
Es war eine gewagte Strategie, mit dem Pariser Klimaabkommen zu argumentieren, so Crosland weiter. Bislang herrschte die gängige Meinung, dass lokal begründete Einsprachen gegen solche Grossprojekte bessere Chancen hätten: mit den Themen Schattenwurf, Verkehrsbelastung, hohe Kosten für die Allgemeinheit. Doch alle diesbezüglich ebenfalls erhobenen Einwände hat das Berufungsgericht verworfen. Aber es hat bestätigt, dass das Pariser Klimaabkommen bindende Wirkung hat.
Als «starkes Signal» wertet Jorge E. Viñuales, Inhaber des Harold-Samuel-Lehrstuhls für Recht und Umweltpolitik in Cambridge, das Urteil in der «New York Times»: «Das Pariser Abkommen hat Zähne bekommen.» Der Entscheid kann weltweit Signalwirkung haben. Er sei ermutigend für Umweltorganisationen oder Indigene, die gegen solche Projekte vorgingen, sagt Margaretha Wewerinke-Singh, Professorin für Internationales Öffentliches Recht in Leiden, Niederlande. Denn gerade in Grossbritannien sei es schwierig, mit einer solchen Klage durchzudringen. Dort werde internationales Recht nicht automatisch in die Landesgesetze eingebunden. Anderswo sei dieser Weg direkter.
Im Kern ist banal, was das Gericht sagt: Regierungen müssen sich an die eigenen Gesetze halten. Hier konkret: Die Regierung muss die Klimaziele zum Schutz der Bürgerinnen einhalten und diesen Aspekt bei allen grossen Entscheidungen mitberücksichtigen. Anwalt Crosland vergleicht das Urteil mit jenem historischen Verdikt, mit dem in den USA die Segregation der Schulen als verfassungswidrig eingestuft wurde. Als nicht vereinbar mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung aller vor dem Gesetz. Und die Zeit sei reif gewesen, diese profunde Wahrheit klar anzuerkennen. Einmal festgestellt, sagt Crosland, gebe es kein Zurück.
Illustration: Till Lauer