Corona-Korrespondenz – Folge 4

Liebe Michelle, der Schritt, bis sich die Nachbarn gegenseitig denunzieren, ist ziemlich klein

Vom italienischen und vom Basler Alltag mit Corona hat Michelle Steinbeck in ihrem Brief an Rebecca Gisler erzählt. Die antwortet nun mit Szenen aus der Bretagne – und Gedanken zu einer gemeinsamen Lektüre.

Von Rebecca Gisler (Text) und Elisabeth Moch (Illustrationen), 27.04.2020

Liebe Michelle,

Danke für deinen Brief. Man sagt doch, je mehr Verrückte anwesend sind, umso lustiger ist es, und während dieser Quarantäne­zeit sind deine Briefe immer ein willkommener Verrückter mehr im Haus. Was ich damit sagen will, ist, dass ich mich immer sehr freue, von dir zu lesen.

Hier bin ich, mit zwei maskierten Wrestlern und einem Onkel, der niemals schlechte Laune hat und ein begeisterter Wrestling-Fanatiker ist. Bei den anderen beiden ist das nicht so mit der Laune. Manchmal haben sie Mühe, ihre Emotionen in den Griff zu bekommen, und werfen Mülltüten durch die Küche oder zerschlagen einen Garten­stuhl, so à la Lucha Libre.

Zudem ist es nicht immer einfach, dem Onkel zu erklären, dass er besser nicht in den Super­markt gehen sollte (seine Lieblings­beschäftigung), da das Virus für ihn sehr gefährlich sein könnte. Vor ein paar Wochen lag er noch im Kranken­haus mit vergiftetem Blut und Atemnot; genau wissen wir jedoch auch nicht, was mit ihm geschehen könnte. Trotzdem haben wir uns angewöhnt, dass, wenn der Onkel nicht auf uns hören will, wir ihn dramatisch anschreien: «Du wirst daran sterben!» Das funktioniert einiger­massen, aber wahrscheinlich nur, weil er will, dass wir mit dem Geschreie aufhören.

Manchmal herrscht in unserer bretonischen WG also ziemlich verrückte Stimmung. Es erinnert mich oft an den amerikanischen Dokumentar­film «Grey Gardens», kennst du den? Der Film beschreibt den Alltag zweier Frauen, eine Mutter und eine Tochter, die einst der oberen Mittel­schicht angehörten (Tante beziehungsweise Cousine von First Lady Jacqueline Kennedy), dann aber jahrzehnte­lang in einem Zustand der Isolation lebten, abgeschottet mit hunderten von Katzen in einem ziemlich ungesunden Haus.

Ein Unterschied ist, dass wir hier nicht ganz alleine sind. Zwischen uns und den Nachbarn wohnen jetzt noch die Ponys. Und die furzen ununterbrochen. Innerhalb von zwei Tagen haben sie die gesamte Wiese aufgefressen. Ausser die Disteln, die essen sie nicht. Die Disteln ragen also immer noch aus dem Boden. Und da, wo Disteln sind, haben die drei Ponys hingeschissen, so als klares Zeichen, dass sie diese Disteln wirklich nicht mögen. Durch das Gefurze kann man vor dem Haus nur knappe und nicht allzu seriöse Diskussionen führen.

Eine Freundin meinte dazu, vor der Krise habe man immer gehustet, um das Pupsen zu übertönen; heute sei es genau umgekehrt.

Zudem witzeln alle Nachbarn, sie würden bald die Polizei anrufen, wenn ich hier ohne Bescheinigung aus dem Haus gehe. Bescheinigungs­witze und Ponyfürze kommen hier ziemlich gut an. Aber schlimmer ist, dass ich glaube, der Schritt, bis sich die Nachbarn tatsächlich gegenseitig denunzieren, ist ziemlich klein. Und das Herum­albern wohl auch einfach eine natürliche Art, seine Angst zu bändigen. Es ist, als ob wir uns gerade in der General­probe der neuen globalen Angst­politik befänden.

Deshalb konzentriert sich hier jeder Dorfbewohner darauf, brav seine Bescheinigung auszufüllen, wenn es darum geht, eine Stunde Sport zu treiben oder einkaufen zu gehen. Ich konzentriere mich unter anderem darauf, nicht zu rauchen. Zudem habe ich das Gefühl, die Pollen werden dieses Jahr besonders stark herum­geschleudert. Letzthin habe ich in einem Brief zwischen zwei Poeten über Krankheiten & Tautologie gelesen: «Ich glaube, es gibt ein Asthma-Vergnügen – einen Asthmaanfall-Orgasmus sozusagen.» Ich weiss nicht, was ich davon halten soll. Was meinst du?

Mehrmals am Tag kommt mein Onkel die Treppe runter und behauptet, er habe gehört, dass Rauchende weniger an Corona erkranken. Mein Onkel ist der lebende Medien­trichter. Tagein tagaus ernährt er sich vom beängstigenden Bildmaterial der Fernseh­sender BFM & Co. Wahrscheinlich hätte das Coronavirus ohne dieses Angst­virus, das auf den Bildschirmen läuft, nicht die Hälfte der Menschheit so schnell nach Hause geschickt.

Hier am Meer sind nun die Strände verboten. Die Polizei vergibt fleissig Geldbussen, sobald man das Haus ohne eben diese Bescheinigung verlässt, und/oder auf der Bescheinigung das falsche Motiv ankreuzt. Es ist, als wären die Polizisten gerade überglücklich zu sehen, dass die ganze Gegend ihnen gehört. Und diese Art der Überwachung nimmt jetzt langsam ihre Form an. Der einzige Unterschied wird darin bestehen, dass die antiterroristische Überwachung ohne das Wissen der Überwachten funktioniert, während der Kampf gegen Viren die bewusste Beteiligung aller an der eigenen Überwachung erfordert.

Und ja, in der alten Prä-Corona-Welt wären wir jetzt zusammen in Rom. Ich hoffe wirklich, dass wir das bald doch miteinander erleben können. Aber wenn ich sehe, dass meine Nachbarn den ganzen Koffer­raum mit Toiletten­papier gefüllt haben, dann denke ich mir, wir sind vielleicht doch noch weit davon entfernt. Oder meinst du, dass wir bald in einer neuen Welt aufwachen werden? In einer Welt, in der die Menschen von Kopf bis Fuss mit Desinfektions­mitteln eingeschmiert sind; einer Welt, in der es einen einzigen Online-Lehrer für mehrere tausend Schüler gibt; und in der jede soziale Krise zur brutalen Bekräftigung einer nie aufhörenden Klassen­spaltung führt?

Die Krankheit ist auch so etwas Absurdes. Genau wie bei Luce d’Eramos «Umweg», während ihres Krankenhaus­aufenthaltes, wenn sie selbst beim Schreiben nicht versteht, was genau sie da gerade durchlebt.

Ich mag diesen Text sehr. Wie du gesagt hast, begleitet er auch mich durch diese Zeit. Es gibt solche Texte, da liest du den Beginn und bist bereits traurig beim Gedanken, dass er bald aufhören könnte.

Präsident Macron übrigens kann die Corona­krise innerhalb von zehn Minuten zwanzig mal als «Krieg» bezeichnen: Nous sommes en guerre. Aber nein, das sind wir nicht. Wie der französische Historiker Jérôme Baschet es bereits in seinem Artikel «Qu’est-ce qu’il nous arrive?» beschreibt, sind wir ganz am Anfang von solchen Krisen, die sich in Zukunft und mit der Globalisierung nur noch vermehren werden. Er nennt das Corona­virus das Virus des Kapitalismus. Innerhalb von zwei Wochen ist es um die Welt gereist.

Müssen wir uns etwa daran gewöhnen, dass ein Helikopter über ein 15-Einwohner-Küstendorf fliegt und es durchs Megafon schallt: «Bleibt zuhause!»? Dass ein Staat mithilfe von Ausgeh­bescheinigungen ein Gefühl der kontrollierten Übersichtlichkeit verbreiten will? Aber item. Meine Konzentration kommt langsam ans Ende. Das ist ebenfalls ein Symptom dieser Zeit. Konzentrations­mangel.

Jetzt, wo ich dir schreibe, fliegt tatsächlich der Heli wieder vorbei. Stell dir vor, da bei der Polizei, haben sie ernsthaft einen finden können, der bereit war, mit Heli und Megafon, die menschenleeren Strände zu überfliegen (denn die Menschen halten sich so oder so an die Quarantäne). Das wirft schon grundlegende Fragen auf, oder?

Die toxischen Algen scheinen grad harmlos zu sein im Vergleich zur aktuellen Krise. Aber ja, tatsächlich gibt es die hier. Die Informationen darüber sind nur leider auch bei diesem Thema sehr vage: tote Jogger, tote Rehe, tote Dachse, tote Wildschweine … Ich weiss es auch nicht. Im Sommer werden manchmal Tafeln aufgestellt, die vor dem grünen toxischen Salat warnen. Zurzeit liegt aber kein Salat in der Bucht. Vielleicht macht der auch gerade Pause.

Nun bin ich wieder vom Hahn zum Esel gesprungen. «Du coq à l’âne», auf Deutsch sagt man das nicht, oder?

Mein Onkel sass heute Morgen zwei Stunden in der Badewanne. Er hat sein Haar abrasiert. Nun sieht er aus wie ein gerupftes, krankes Huhn. Er meinte, in Rom gäbe es ein super Grusel­museum, gleich neben dem Vatikan, das hat er im Internet gesehen.

Ich grüsse dich auf deinen Balkon, da stelle ich mir dich in der Sonne sitzend mit deiner Roma-Mütze vor. Grüss mir die Bohnen und den Rosmarin. Denk daran, mit den Radieschen zu sprechen, wenn es dir schlecht geht – solange du sie nicht zu laut antworten hörst, ist alles noch okay. Die Ponys furzen schon wieder.

Alle grüssen dich lieb. Bis bald.

Deine Rebecca
Saint-Germain de la Mer, Sonntag, 19. April

Zur Adressatin

Michelle Steinbeck ist Autorin von Büchern, Theater­stücken, Reportagen. Und sie ist leitende Redaktorin der Fabrikzeitung und Kolumnistin der WOZ. Zurzeit schreibt sie an einem neuen Roman und übersetzt Gedichte – unter anderen von Allen Ginsberg und Rebecca Gisler.

Zur Autorin

Rebecca Gisler ist Absolventin des Schweizerischen Literatur­instituts und des Master-Studiengangs in «Création littéraire» an der Universität Paris 8. Sie schreibt auf Deutsch und auf Französisch. Veröffentlichungen von Prosa und lyrischen Texten in zahlreichen Zeitschriften und Anthologien. Zurzeit arbeitet sie an der deutschen Übersetzung ihres ersten Romans «Kastor».

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