«Lightbulb», 2015. Sämtliche Bilder in diesem Beitrag sind aus dem Buch «The Community».

Dieses Bedürfnis nach Nähe

Der texanische Fotograf Eli Durst wollte Kirchenräume fotografieren – und landete schnell beim Menschen als Wesen, das mit anderen Menschen zusammen sein will.

Von Amir Ali (Text) und Eli Durst (Bilder), 27.04.2020

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Irgendwann merkte Eli Durst, dass er nicht Räume fotografierte. Und auch nicht direkt das, was die Menschen in diesen Räumen tun. Dass es bei seinem Projekt um etwas anderes ging. Etwas, das uns gerade jetzt bewusst wird, da wir unsere sozialen Kontakte, die Begegnungen, die Berührungen auf ein Minimum heruntergefahren haben: Der Mensch will mit anderen Menschen zusammen sein.

«Die Geschichte Amerikas ist eine Geschichte des Sich-voneinander-Isolierens», sagt Eli Durst am Telefon aus Austin. «Ob in den Vororten oder in der Wildnis, die Leute sondern sich voneinander ab. Und das führt paradoxer­weise dazu, dass wir uns nach Interaktion und Gemeinschaft sehnen.» Um das Sinn­stiftende, das von diesem Zusammen­sein ausgeht, dreht sich das Projekt, das Durst konsequenterweise «The Community» nennt.

Pfadfinder auf Drogen?

Und dann geht es auch um die Frage: Was sehen Sie hier? Eine Freikirche? Eine Selbsthilfe­gruppe für Polyamorie? Die Anonymen Alkoholiker? Pfadfinder auf Drogen? Geistheilung? Rassismus?

Die Bildserie «The Community» des texanischen Fotografen Eli Durst wirkt mit irritierender Ambiguität auf die Betrachterin. Die Bilder bieten eine Offenheit, die verwirrt und die wir uns mit dem aneignen können, was wir selbst mitbringen.

Das ist verwunderlich, beinahe mysteriös, zeigen die Bilder doch ganz konkrete Situationen, Ausschnitte aus der Realität, unverfälscht und nicht inszeniert. «Fotografie bringt immer unser Verständnis von Fakt und Fiktion durcheinander», sagt Durst. Zum Faktischen des Bildes, des Abgebildeten, kommt das, was der Betrachter selbst hineinprojiziert. Die interessante Frage für ihn als Künstler, so Durst: «Wie kann ich aus dem Holzblock der Realität etwas herausarbeiten, das befremdet, das eine neue Symbolik erhält und etwas Eigenes ausdrückt?»

Der Holzblock, den Durst sich ausgesucht hat, sind die Gemeinschafts­räume von Kirchen. Die Idee entstand aus der Not: Des harschen Winters im Bundesstaat Connecticut überdrüssig, wo Durst damals lebte, suchte er nach einem Projekt, für das er nicht draussen fotografieren musste. Irgendwann realisierte er, dass Kirchen perfekte Orte sind, um sich mit den Menschen zu beschäftigen, mit dem, was sie tun, mit ihrer Kultur, ihren Bräuchen und Sitten.

Mainstream und doch versteckt

«Ich habe die Fotografie immer als einen Weg gesehen, um die Welt kritisch zu reflektieren», sagt Durst. «Und diese Kirchen sind sehr aufgeladene Räume, die das sehr normative Amerika repräsentieren. Sehr Mainstream und gleichzeitig sehr versteckt.»

Für ihn, der in einer jüdischen Familie im sehr konservativen Texas aufwuchs, seien Kirchen immer seltsame, interessante, aber auch geheimnis­volle Orte gewesen. «Ich fragte mich immer, was da abgeht. In meiner Vorstellung könnte in diesen Räumen alles passieren.»

Aber eben, Durst interessierte sich ja für Menschen, nicht unbedingt für Räume. Auf der Suche nach Kirchen, die ihn fotografieren liessen, kam Durst schnell auf all die Aktivitäten, die in den Gemeinschafts­räumen stattfinden, welche die Kirchen der Allgemeinheit zur Verfügung stellen: Pfadfinder­treffen, Bibel­unterricht, spirituelle New-Age-Kurse, Bingo­turniere. Als er einige Bilder gemacht hatte und sie sich anschaute, merkte er, dass ihn die Porträts der verschiedenen Aktivitäten künstlerisch gar nicht besonders interessierten.

Dafür fiel ihm etwas anderes auf: Wenn man die Bilder nebeneinander­stellt, verfremden sie sich gegenseitig. Dann werden diese Bilder, die ursprünglich dokumentarisch waren, symbolisch und surreal. Sie zeigen etwas Reales, aber sie scheinen nicht mehr real. «Es entsteht eine Art Alchemie», sagt Durst. Eine Alchemie, die der Realität ihre Eindeutigkeit nimmt und aus der Dokumentation Raum für Suggestion erschafft. Einen Raum, in dem wir beim Betrachten die Geschichte dieser Bilder weiterspinnen können.

Das spürbare Bedürfnis nach Nähe

Auf dem ersten Bild im Buch «The Community», das letzten Herbst herauskam, ist ein glitzernder Deko-Apfel auf einem Tisch zu sehen. Auf dem nächsten Bild daneben: ein Pfadfinder mit rasierten Haaren. Die Textur des Apfels ähnelt der Oberfläche des Kopfs dieses Jungen. Auf dem nächsten Bild sieht man einen Mann, der die Arme ausgestreckt hat. Eine Meditations­pose, wie Durst erklärt, der Mann gibt New-Age-Kurse. Doch im Bildband selbst fehlt jede Erklärung. Weshalb man sich an diesem Punkt fragt: Was sehe ich da eigentlich?

«Viele der Bilder zeigen Situationen, die uns irgendwie vertraut sind, aber in dieser Aneinander­reihung verwirren sie uns», sagt Durst. Zumindest hoffe er das, denn ein essenzieller Aspekt von Kunst sei: «Wenn ich sie angeschaut habe, dann sollte ich danach mehr Fragen haben. Kunst soll mir zeigen, dass die Welt komplizierter ist, als ich dachte.»

«The Community» mag Fragen aufwerfen, verwirren, bisweilen subtil verstören. Eines aber zeigt die Arbeit sehr klar, man müsste präziser sagen: macht sie spürbar. All diese unterschiedlichen Menschen in verschiedenen Kirchen überall in den USA, mit ihren unterschiedlichen Aktivitäten und in den Szenen, in denen Durst sie fotografiert hat, zeigen das universelle Streben der Menschen nach Gemeinschaft, nach dem Verbunden­sein mit anderen. Man spürt, dass diese Menschen da sein wollen, in diesen Räumen, bei diesen anderen Menschen. Und man sieht, dass sie darin aufgehen. Sieht förmlich das Bedürfnis nach körperlicher Nähe. Ein Bedürfnis, das sich ernsthaft oder albern manifestiert. Und das beim Gottesdienst gestillt werden kann, im Theaterkurs oder beim Bingo.

«Apple (Meeting)», 2016.
«Evan», 2015.
«Bruce, Spinning», 2015.
«Mural», 2017.
«Gwen in Circle», 2015.
«Bread (Cross)», 2017.
«Alex in Mask», 2018.
«Raft», 2018.
«Nativity», 2017.
«Animal Demonstration», 2017.
«Family at Church», 2018.
«Pile», 2017.
«Tamra and Eric», 2018.

Zum Fotografen und zum Buch

Eli Durst ist in Austin, Texas, geboren und aufgewachsen. Nach dem Studium an der Wesleyan University in Middletown, Connecticut, lebt er heute wieder in Austin, wo er an der University of Texas Fotografie lehrt. Folgen Sie ihm auf Instagram.

Eli Durst: «The Community», Verlag Mörel Books, 2019, 80 Seiten, ca. 36 Franken.

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