Corona-Korrespondenz – Folge 3

Liebste Rebecca, ich wollte dir von dem Faschisten erzählen

Eigentlich hätten die Autorinnen Michelle Steinbeck und Rebecca Gisler in diesen Tagen gemeinsam in Rom sein wollen. Dann kam Corona. Also wechseln sie nun Briefe aus der Quarantäne zwischen Basel und der Bretagne: über die Krise in Italien, Frankreich und der Schweiz.

Von Michelle Steinbeck (Text) und Elisabeth Moch (Illustrationen), 24.04.2020

Liebste Rebecca

Wie geht es dir? Was gibt’s Neues aus der bretonischen WG?

Seit du letzte Woche am Online-Literaturfestival Viral gelesen hast, ist es ja nun publik, dass du mit zwei mexikanischen Musikanten-Wrestlern und einem ominösen Onkel in Unter­hosen irgendwo an der Atlantik­küste lebst und Gemüse ziehst. Hast du die Männer schon zu den Radieschen gesperrt? Oder reitet ihr auf den Nachbars­ponys am Strand in den Sonnen­untergang (eure Füsse schleifen am Boden) und schrummelt Lagerfeuerlieder?

In der alten Prä-Corona-Welt wären wir jetzt zusammen in Rom. Um diese Zeit hätten wir schon ein paar Gedichte übersetzt und würden uns auf der herrschaftlichen Terrasse der Villa Maraini mit leuchtenden Getränken zuprosten und besprechen, was es zum Znacht gibt. Wir würden auf den Park und die umliegende Stadt schauen, und ich würde dir erzählen, dass der Hügel, auf dem die von Palmen und Pinien umsäumte Villa steht, ein aufgeschütteter Abfall­berg ist. Und dass Emilio Maraini der Italo-Schweizer-Zucker­könig war, dessen früh verwitwete Frau, «la contessa» Carolina Maraini-Sommaruga, ein Herz für Künstlerinnen und Wissenschaftler hatte und ihnen diese wahnwitzige Marmor­bude als Residenz­haus vermachte.

Ich würde dir «die Schreibmaschine» zeigen, das faschistische Monument; «die Schildkröte», das antike Pantheon; den höchsten Punkt der Stadt, direkt gefolgt von unserem Turm: die Kuppel des Petersdoms; und schliesslich das Arbeitsamt, vor dem sie jeden Mittwoch mit Triller­pfeifen und Megafonen demonstrieren. Einer meiner damaligen Co-Residents erzählte mir, dass er mit dem Feldstecher in die Fenster des Amtes reingucken konnte. Er sah Beamte sich in Büro­stühlen fläzen und, Füsse auf dem Tisch, den ganzen Tag nichts tun. Sie starten nicht mal den Computer auf, behauptete er. Ich würde nicht aufhören von damals zu erzählen, bis du irgendwann sagtest: «Alti, zünd endlich dini Zigi a!»

Ah, damals hätten wir noch geraucht. Jetzt schliessen wir die Fenster und träumen von Plastik­partikeln in der Luft, die uns Blut husten lassen.

Nach Ostern war ich in der Permanence, weil die Pollen wie gelber Rauch durch die Strassen ziehen und meine Lungen verkleben. Die Apothekerin hat mir geraten, in die Praxis zu gehen, mit den Worten: «Heute gehen die Leute erst, wenn es zu spät ist.» Vor der Plexiglas­scheibe stellte ich mich unglücklich mit «Lungen­schmerzen» vor, präzisierte schnell zu «allergischem Asthma», wurde «als Vorsichts­massnahme» in einem kleinen Raum isoliert, wo ich mit Mund­schutz auf die Ärztin wartete und Michela Murgias Buch las: «Faschist werden. Eine Anleitung». Als sie reinkam, versteckte ich es schnell, wollte sie nicht zusätzlich beunruhigen.

Der «Guardian» hat gestern eine Liste aller Corona-Toten des britischen Gesundheits­wesens veröffentlicht. Es sind so viele Junge darunter, dass ich den Risikogruppen-Sprech nicht mehr verstehe.

Ich, sicher zu Hause, bewege mich an den Rändern. Lehne am Balkon­geländer für den letzten Sonnen­strahl des Tages, kämpfe mit den pöbelnden Spatzen und füttere sie, trage die serbelnden Topf­pflanzen dem Licht nach von einem Fenster­brett zum andern. Draussen heile Welt des Quartier­lebens, Kinder spielen, schiessen die distanzierte Oma mit Wasser­pistolen ab, schreiben mit farbiger Kreide «CORONA <3» auf den Boden. Auf dem Pingpong­tisch aperölt die Nachbarschaft; wir sind neu, uns grüsst niemand auf dem Balkon. Kurz vor dem Lockdown bin ich nach drei Jahren Italien, Frankreich, Deutschland zurück in die Schweiz gezogen; komfortabler hätte ich mir die Quarantäne nicht aussuchen können. Alles schreit: Die Schweiz wird vergleichs­weise unbeschadet durch diese Krise kommen – erprobt unsolidarisch; geistige Landes­verteidigung, Spargeln statt Kartoffeln, neben uns die Sintflut.

Die Reichen kommen immer durch. Und die andern werden (in der NZZ wörtlich) dazu aufgerufen, in der «Schlacht» ihr Leben zu riskieren – für die Wirtschaft. Wer dabei draufgeht, war nicht für diese Branche, dieses Leben geschaffen; das ist die natürliche Selektion des Marktes.

Der Bundesrat erfüllt unsere persönlichen und sozialen Bedürfnisse: Bald dürfen wir wieder zum Zahni und zur Beerdigung der Grosseltern. Sommaruga, die andere Contessa, versprach an der letzten Presse­konferenz, wir würden bald zur Normalität zurückkehren – indem uns die gewohnten Einkaufs­möglichkeiten wieder ermöglicht würden. Schöner hätte sie nicht zusammen­fassen können, wer in diese Gesellschaft gehört und wofür wir in ihr leben. Der Konsum als unser aller Lebens­inhalt. Bloss nicht auf blöde Gedanken kommen lassen, schnell wieder Baumärkte und Nagel­studios öffnen. Jemand im Saal hat ständig gehustet.

Ein Freund aus Rom hat mir geschrieben, er habe das Gefühl, die «Nach­kriegszeit» werde erst richtig schlimm. Das sei den Leuten noch nicht so bewusst – zum Glück.

Ich denke an die Menschen in der römischen Peripherie, die sich in besetzten alten Fabriken eingerichtet haben, weil sie sonst nirgends willkommen sind. Wie sie selbst in diesen Zeiten nicht sicher sind vor einer Räumung, davor, aus reiner Bosheit auf die Strasse gesetzt zu werden. Und an meine Freunde in Kalabrien, wo vor drei Jahren ein hoffnungs­voller Sommer begann, zum ersten Mal seit Jahrzehnten ohne den Schatten der Mafia, weil die gesamte lokale Bande verhaftet worden war. Nun blüht die Mafia im ganzen Süden offen auf – verteilt Essen an Familien und unterstützt die kleinen Geschäfte, die keine Hilfe vom Staat bekommen – und sät so ihre giftigen Sporen für die Zukunft.

Im SRF beschwichtigen die Korrespondierenden: «Die Populisten profitieren diesmal nicht», «Salvini hat gerade nichts mehr zu sagen». Die Faschismus­forschung sagt etwas anderes, meine Timeline und die Kommentare unter den Seenot­rettungs-Artikeln auch.

In den Horror­lagern auf den griechischen Inseln gibt es Ausschreitungen und mutwillig gelegte Brände. Und die ganzen rechts­extremen Verschwörer, die sich auf ihren «Tag X» vorbereiten und Waffen bunkern, sind gerade richtig geil, denn Corona beschleunigt und verstärkt alles, worauf sie abzielen: Destabilisierung, Abgrenzung, Verzweiflung durch Armut, Gewalt.

Statt Evakuierung der Lager und solidarischer Corona-Bonds werden weiter Zugeständnisse an die extreme Rechte gemacht. Und die auf uns zurollende Wirtschafts­krise wird besonders in den hart getroffenen Südländern der extremen Rechten weiteren Aufschwung geben, in Italien der Lega und den Fratelli d’Italia. Schliesslich trägt die EU-Sparpolitik, die auch das dortige Gesundheits­system weiter verstümmelt hat, eine Mitschuld an den vielen Corona-Toten in Italien und Spanien.

Ich wollte dir von dem Faschisten erzählen, den ich letzten Herbst in der Toskana kennengelernt habe. Ich muss immer wieder an ihn denken. Er arbeitete als Kellner im Hotel, während wir als künstlerische Residents die Aufgabe hatten, die teuer zahlenden Gäste zu bespassen. Ich freundete mich mit ihm an, er war lustig.

Als ich rausfand, dass er überzeugter Salvini-Wähler ist – unterm Steuerrad baumelte ein lederner Lega-Schlüssel­anhänger –, sassen wir schon zusammen im Auto auf einer zweistündigen Fahrt an ein Konzert, zu dem ich ihn überredet hatte. Ich wollte unbedingt herausfinden, wie er so denken konnte: so menschen­verachtend und dumm, wie ich fand. Ehrlich gesagt hatte ich auch eine naive Ambition, seinen «Defekt» zu finden, ihn irgendwie zu läutern.

Er meinte, wenn ich Kommunistin sei, würde er mich rauswerfen und auf dem Pannenstreifen stehen lassen.

Dann hörte ich vor allem zu. Woran ich mich besonders erinnere, ist, dass er Tag und Nacht arbeitet und sich allein­gelassen und ausgenommen fühlt. Und einen diffusen Hass auf Kommunistinnen und Chinesen hat. Wenn ich jetzt sehe, was andere in diesen Zeiten auf Facebook schreiben, erkenne ich erst, dass er nicht (mehr?) der einzige meiner italienischen Bekannten ist, der «so denkt».

Auch deshalb ist meine Quarantäne-Lektüre nicht das «Decamerone», sondern Luce d’Eramos «Der Umweg», das ich dir schickte. Ich weiss nicht, wie weit du schon gelesen hast, aber Luce d’Eramo schreibt irgendwo über die Nazis: «Sie waren die Befehls­ausführer derjenigen, die ihnen das Bewusstsein zerstört hatten, und zwar schon in den zwanziger Jahren, mit der schwindelerregenden Inflation, die Millionen von kleinen Sparern an den Bettelstab gebracht und Millionen von deutschen Arbeitern ins Elend gestürzt hatte.» Bei der Lektüre fühlte ich mich ertappt, wenn die Autorin sich selbst beschreibt: wie sie als junges Mädchen so bemüht die Klassen­unterschiede verschwinden machen will. Wenn ich daran denke, wie wir – privilegierte Künstlerinnen aus der Schweiz, London, Mallorca – den toskanischen Bauern ein paar Stunden bei der Weinernte mithalfen ...

Rebecca, die Bretagne, seid ihr eigentlich in der Nähe dieser tödlichen Giftalgen? Wo es mehr Schweine gibt als Menschen, deren Farmen das Umland verpestet haben, und Jogger nur von den Dämpfen tot umfallen?

Falls wir je das Rom-Projekt nachholen dürfen, werden wir uns verbotener­weise ins Gras legen und uns Dacia Maraini vorlesen. Sie ist Emilios Nichte und eine wunderbare Schrift­stellerin, und sie schreibt über eine taubstumme Herzogin im alten Sizilien, eine Taschen­diebin im Zwischenkriegs-Rom und viele andere Frauen. Es heisst, sie war mit Luce d’Eramo befreundet. Ich habe den «Umweg» vor ein paar Wochen zufällig im Buchladen entdeckt, und jetzt trägt mich das Buch irgendwie durch diese Zeit. D’Eramo durchlebt einen anderen Ausnahme­zustand, das Ende des Zweiten Weltkriegs. Und irgendwie fühlt es sich an, als stünden wir in gewisser Weise wieder am Anfang dieser Katastrophe, als hätten wir nichts daraus gelernt.

Aber hey, es ist Freitag, ich komme zu spät zum wöchentlichen Zoom-Gathering. Fichen-Feiern!

Küsse ans Meer!

Deine Michelle
Basel, Freitag, 17. April

Zur Adressatin

Rebecca Gisler hat Prosa und lyrische Texte in zahlreichen Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht. Zurzeit arbeitet sie an der deutschen Übersetzung ihres ersten Romans «Kastor».

Zur Autorin

Michelle Steinbeck ist Autorin von Büchern, Theater­stücken, Reportagen. Ihr Debüt­roman «Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch» (2016) war nominiert für den Deutschen sowie den Schweizer Buchpreis. Es folgten der Gedicht­band «Eingesperrte Vögel singen mehr» (2018) und die Kurzgeschichten­sammlung «The Return of the Lobster» in der Übersetzung von Jen Calleja (2020). Steinbeck ist leitende Redaktorin der Fabrikzeitung und Kolumnistin der WOZ. Zurzeit schreibt sie an einem neuen Roman und übersetzt Gedichte – unter anderen von Allen Ginsberg und Rebecca Gisler.

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