Serie «Zurück in die Diktatur» – Teil 1

Was geschieht nach der Rückkehr? Hinter dem willkommenen Schleier des Nichtwissens

Die Schweiz tut alles, damit weggewiesene Asylsuchende aus Eritrea in ihr Land zurückkehren. Was mit ihnen dort passiert, weiss in Bern aber niemand so genau. Jetzt sprechen erstmals Eritreer öffentlich darüber, wie es ihnen ergangen ist. Zurück in die Diktatur, Teil 1.

Eine Recherche von Christian Zeier (Text) und Florian Spring (Bilder), 08.04.2020

Das Treffen kam nach langer Vorbereitung zustande: Tesfay suchte vergeblich in der Schweiz Asyl, kehrte zurück nach Eritrea – und floh nach zwei Tagen schon wieder.

Eigentlich hat Tesfay abgeschlossen – mit Eritrea, mit der Schweiz und überhaupt. «Ich bin ohne Hoffnung und hasse es, zu leben. Deshalb will ich nur noch Gott nahe sein», sagt er. Zurückziehen wollte er sich, Ruhe finden in einem Kloster, nie mehr sprechen über das Scheitern und über all das, was schiefgelaufen ist.

Doch jetzt droht seinem Sohn dasselbe Schicksal wie ihm: die Wegweisung aus der Schweiz und die Rückkehr in die eritreische Diktatur. Deshalb sitzt Tesfay nun in diesem leeren Festsaal, im obersten Stock eines kleinen Hotels. Er ist gekommen, um seine Geschichte ein letztes Mal zu erzählen.

Warum er in die Schweiz geflohen ist.

Wieso er freiwillig in die Diktatur zurückkehrte.

Und wieso er Eritrea dann erneut verlassen hat.

Serie «Zurück in die Diktatur»

Seit die Behörden den Druck erhöht haben, müssten Tausende Asyl­suchende aus Eritrea die Schweiz verlassen. Die Rückkehr in das autoritär regierte Land sei «möglich und zumutbar», findet das Staats­sekretariat für Migration. Doch nun zeigen Recherchen des Journalisten-Kollektivs Reflekt in Zusammen­arbeit mit der Republik, wie frag­würdig diese Sicht ist.

Sie lesen: Teil 1

Der Schleier des Nicht­wis­sens

Teil 2

Die Zer­mür­bungs­stra­te­gie

Teil 3

Willkür, Folter, Zwangs­ar­beit

Podcast

Gespräch mit den Autoren

Dass Eritrea die Politik, die Justiz und die Öffentlichkeit in der Schweiz seit Jahren umtreibt, hat vor allem drei Gründe:

  • Erstens ist Eritrea seit 2011 ununterbrochen das wichtigste Herkunftsland von Asylsuchenden in der Schweiz. Rund 40’000 Gesuche sind in dieser Zeit eingegangen.

  • Zweitens wird darüber gestritten, wie schlimm die Menschenrechts­lage in Eritrea genau ist und was Menschen erwartet, denen die Schweiz keinen Schutz gewährt. Nach wie vor erhalten die meisten eritreischen Asylsuchenden in der Schweiz entweder Asyl oder eine vorläufige Aufnahme. Doch seit 2016 ist das Staatssekretariat für Migration (SEM) deutlich strenger und fällt anteilsmässig mehr negative Entscheide. Über 3000 Eritreerinnen hätten die Schweiz seither verlassen müssen – im Vergleich zu Ländern wie Deutschland oder Grossbritannien schätzt die Schweiz die Rückkehr nach Eritrea weniger problematisch ein.

  • Drittens kehren dennoch kaum Eritreer in ihr Heimatland zurück. Freiwillig gehen nur ganz wenige, und unfreiwillige Rückkehrerinnen – sprich Ausschaffungs­flüge – akzeptiert das Regime in Asmara nicht.

Die Schweiz weist also immer mehr Menschen weg, kann sie aber nicht zur Ausreise zwingen. Das ist in etwa so, als würde jemand zu einer Gefängnis­strafe verurteilt und könnte dann selbst entscheiden, ob er sie antreten will.

Ein Flugticket und Tausende Franken in bar

Die Folge davon: Immer mehr abgewiesene Asylsuchende tauchen unter, reisen in andere Länder weiter oder landen hier in der Schweiz in der Nothilfe. 2017 waren Eritreer erstmals die grösste Gruppe von Nothilfe­beziehenden. 2018 waren es über 800, die nur noch das Nötigste zum Überleben bekamen und in zugewiesenen Unterkünften leben mussten, ohne Erwerbs­möglichkeit, ohne Aussicht auf Integration.

Es ist genau die Situation, in der Tesfays Sohn derzeit ist. Und weil Menschen wie er die Schweiz nicht verlassen, werden die Forderungen immer lauter, die Rückkehr nach Eritrea auf irgendeine Art zu fördern – oder gar zu forcieren. «Ich denke, wenn man ein bisschen Geld in die Hand nimmt, könnten diese Leute auch zu Zehntausenden freiwillig und mit Würde in ihr Heimatland zurückkehren», sagte die SVP-Nationalrätin Barbara Steinemann letztes Jahr gegenüber der «Rundschau». «Der Bund hat dafür zu sorgen, dass die Kantone die Wegweisungen vollziehen können», liess sich Urs Betschart, Vizepräsident der Vereinigung der kantonalen Migrationsbehörde, in der NZZ zitieren. Und Toni Locher, Honorarkonsul und Sprachrohr der eritreischen Regierung in der Schweiz, forderte in der «SonntagsZeitung»: «Der Bund muss rasch eine freiwillige Rückkehr nach Eritrea organisieren.»

An ein Rücknahme­abkommen mit Eritrea glaubt aktuell kaum jemand. Die Schweizer Behörden tun jedoch einiges dafür, dass abgewiesene Asylsuchende freiwillig zurückkehren. Dazu wird den Betroffenen einerseits das Leben in der Schweiz schwer gemacht – darüber später mehr.

Andererseits gibt es für Rückkehr­willige ein kostenloses Flugticket nach Eritrea sowie 3000 bis 5000 Franken in bar. Anfang Jahr erhielten abgewiesene Asylsuchende im Kanton Bern ein Angebot: Wer sich bis zum 15. März für eine selbstständige Rückkehr anmeldete, hätte von einer «erhöhten finanziellen Rückkehr­hilfe profitieren» können. Gewirkt hat der Anreiz nicht: «Das Angebot hat allgemein kaum Anklang gefunden», schreibt die Rückkehr­beratung des Kantons Bern auf Anfrage, «und von Eritreern haben wir gar keine neuen Anmeldungen erhalten.»

Doch was bedeutet es, nach Eritrea zurückzukehren? Ist das für die Menschen, die von dort geflohen sind, überhaupt möglich? Was erwartet sie in der Diktatur?

«Ich habe es nicht geschafft»

Tesfay trägt den weissen Umhang eines Mönchs, als er an einem Morgen im Dezember 2019 die Lobby unseres Hotels in Addis Abeba durchschreitet. Er betritt den metallenen Lift neben der Réception, fährt hinauf in den fünften Stock und steht dann vor einer Fensterfront, die den Blick auf das aufstrebende Viertel Bole freigibt: breite Strassen, kleine Kaffees, Shopping­zentren und rundherum Baustellen, auf denen meist chinesische Firmen Hochhäuser in den Himmel ziehen. Tesfay aber interessiert sich nicht für die Aussicht. Der Mann Mitte fünfzig eilt in den angrenzenden Festsaal. Hier wird er in den kommenden zwei Stunden sein Leben ausbreiten – zumindest die schwierigen Teile davon.

In der relativen Sicherheit des Nachbarlandes: Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba.

Während knapp zweier Monate haben wir dieses Treffen vorbereitet, haben Vertrauen aufgebaut und dafür gesorgt, dass der Rückkehrer Tesfay seine Geschichte anonym und ohne Angst vor den Behörden erzählen kann. Dennoch ist er vorsichtig in den ersten Minuten, gibt kurze Antworten und blockt Fragen nach seiner Jugend ab.

Doch Tesfay hat auch eine Motivation, mit uns zu sprechen: Sein Sohn hat in der Schweiz einen negativen Asylbescheid bekommen und müsste das Land jetzt eigentlich verlassen. Im Entscheid schreibt das SEM, dass der Vater schliesslich auch zurückgekehrt sei und in Eritrea lebe. Tesfay, der als Mönch im Nachbarland Äthiopien lebt, will zeigen, dass das nicht stimmt. Je länger er spricht, desto ausführlicher werden seine Antworten. Nur einmal versagt ihm die Stimme. «Ich habe mein Bestes gegeben, um von der Schweizer Regierung akzeptiert zu werden», sagt der alte Mann. «Aber ich habe es nicht geschafft. Ich habe versagt. Und jetzt leidet meine ganze Familie darunter.» Dann beginnt er zu weinen.

Willkür und Zwangsarbeit

Eritreerinnen benötigen eine Erlaubnis, um ihr Land zu verlassen. Die eritreische Regierung hat wiederholt erklärt, dass illegal ausgereiste Landsleute straffrei zurückkehren können, wenn sie gewisse Bedingungen erfüllen. So müssen sie etwa eine Steuer für den Wiederaufbau des Landes zahlen oder einen sogenannten letter of regret unterschreiben, der einem Schuld­eingeständnis gleichkommt. Weil die illegale Ausreise eine Straftat sei, so die eritreischen Behörden, könne es in einigen Fällen zu «angemessenen, wenn auch milden Strafen» kommen («appropriate, though lenient, penalties»).

Die Schweizer Behörden lehnen sich offenbar an diese Argumentation an. Seit 2016 sieht das SEM die illegale Ausreise aus Eritrea allein nicht mehr als Grund, um in der Schweiz als Flüchtling anerkannt zu werden. Das SEM geht davon aus, dass gewisse geflohene Personen freiwillig zurückkehren können, ohne in Eritrea eine unverhältnismässige Strafe fürchten zu müssen.

«Eritreer, die eine Wegweisung erhalten haben, können jederzeit freiwillig zurückkehren», sagte SEM-Chef Mario Gattiker Ende 2019 gegenüber der NZZ. Jedes Asylgesuch werde sorgfältig und einzeln geprüft, ergänzt SEM-Sprecher Daniel Bach auf Anfrage. Wegweisungen würden nur ausgesprochen, wenn das SEM dabei zum Schluss komme, dass die betroffene Person in der Heimat keine konkrete Bedrohung erwartet.

Dass dies eine bestenfalls sehr blauäugige Sicht auf die Lage in Eritrea ist, zeigen die Geschichten, die das gemeinnützige Schweizer Recherchekollektiv Reflekt in Zusammenarbeit mit der Republik rekonstruiert und verifiziert hat.

Tesfay ist der erste Eritreer, der öffentlich davon erzählt, worüber in der Schweiz sonst nur spekuliert werden kann: Was passiert mit einem, der aus Eritrea geflohen ist und dann wieder dorthin zurückkehrt? Seine und vier weitere Geschichten werfen kein gutes Licht auf die Schweizer Asylpraxis.

Obschon es gewisse Anzeichen einer Öffnung gibt, ist Eritrea immer noch eines der am stärksten abgeschotteten Länder der Welt. Klar ist, dass das Land unter schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen Fortschritte bei der Erreichung gewisser Entwicklungsziele gemacht hat – besonders im Gesundheits- und Bildungssektor.

Klar ist aber auch, dass eine einzige Partei mit eiserner Faust regiert. Dass die Menschen nicht wissen, wie lange sie den obligatorischen Nationaldienst leisten müssen, der nach internationalem Recht durchaus als Zwangsarbeit gewertet werden kann (mehr dazu im dritten Teil dieser Serie). Dass jegliche politische Opposition unterdrückt wird und dass es keine Medien- und Meinungsfreiheit gibt.

So wurden in der Vergangenheit zahlreiche kritische Journalisten und Politiker ohne Verfahren ins Gefängnis gesteckt. Von vielen Inhaftierten weiss man nicht einmal, ob sie noch am Leben sind. Diese Menschenrechts­verletzungen werden von niemandem bestritten, der sich ernsthaft mit Eritrea auseinandersetzt. Weniger klar ist, in welchem Ausmass und wie systematisch sie begangen werden.

Mit ganz wenigen Ausnahmen basiert die Einschätzung der Menschenrechts­lage auf Zeugen­aussagen. Es gibt Vorwürfe von Folter und Zwangsarbeit, von systematischen Misshandlungen und aussergerichtlichen Hinrichtungen – aber kaum Dokumente, Bilder oder Videos, die dies belegen. Hinzu kommt, dass Eritrea internationalen Beobachtern den Zugang zu seinen Gefängnissen verwehrt und es unabhängigen Organisationen unmöglich macht, die Rückkehr geflohener Eritreerinnen vor Ort zu überwachen.

Niemand weiss, was passiert

Das SEM kommt daher auf Seite 12 seines aktuellsten Eritrea-Berichtes zum Schluss: «Eine Überwachung zurückgekehrter ehemaliger Asylbewerber ist nicht möglich. Dies bedeutet, dass es an wesentlichen Informationsquellen (...) fehlt.» Und auf Seite 61: «Eine Quelle besagt, dass Gerüchten zufolge einige inhaftiert sind und andere nicht. In den meisten Fällen gibt es jedoch keinerlei Informationen.» (Dieser SEM-Bericht wurde vom European Asylum Support Office veröffentlicht.)

In den Jahren 2015 und 2016 hat die eritreische Regierung Gespräche zwischen freiwillig zurückgekehrten Personen und europäischen Delegationen organisiert – darunter auch eine Fact-Finding-Mission der Schweiz. Vertreter des Regimes waren anwesend und haben Interview-Partner sowie Übersetzer organisiert. Selbst das SEM schreibt, dass die Aussagen unter diesen Umständen «mit Vorsicht» zu behandeln seien. Ein Ersuchen, mit Rückkehrern aus der Schweiz zu sprechen, wurde abgelehnt.

Weil es in Eritrea selbst so schwierig ist, an unabhängige Informationen zu kommen, sind wir für diese Recherche ins Nachbarland Äthiopien gereist. Hier, im Staat mit 112 Millionen Einwohnern, lebt etwa ein Drittel der geschätzt 500’000 Menschen, die aus Eritrea geflohen sind. Das sind 10 Prozent der Bevölkerung (5,1 Millionen). Die Kulturen der beiden Länder ähneln sich stark, und Äthiopien verfolgte lange Zeit eine Politik der Offenheit gegenüber geflohenen Eritreern. Hier können sie offen über ihre Heimat sprechen – unabhängig vom Druck einer westlichen Asylbehörde oder ihrer eigenen Regierung.

Zwei Jahre warten, zwei Jahre kämpfen

Im Juni 2014 betritt Tesfay erstmals Schweizer Boden. Über den Sudan, die Sahara, Libyen, das Mittelmeer und Italien landet er zuerst im Empfangs­zentrum Chiasso, dann im Durchgangs­zentrum Friedeck in Buch SH und zuletzt in der Asyl­unterkunft Neunkirch bei Schaffhausen. Hier bleibt er vier Jahre. Die ersten zwei wartet er auf seinen Asylentscheid – die anderen zwei kämpft er gegen diesen an. Denn das SEM hält Tesfay nicht für politisch verfolgt, weist sein Asylgesuch ab und lässt ihn nur aus humanitären Gründen als sogenannt vorläufig aufgenommenen Ausländer in der Schweiz leben.

Das erschwert ihm den Aufenthalt mehrfach. Erstens findet er keine Arbeit und erhält mit seinem Status nur eine reduzierte Sozialhilfe. Zweitens ist bei vorläufig aufgenommenen Ausländern der Familien­nachzug eingeschränkt. Während Tesfay noch um einen besseren Aufenthalts­status kämpft, flieht auch sein Sohn aus Eritrea. Weil der Vater ihn nicht regulär in die Schweiz holen kann, nimmt er den gefährlichen Weg durch die Wüste und über das Mittelmeer auf sich.

Und drittens kann Tesfay mit seinem Status und der Abhängigkeit von der Sozialhilfe seinen Wohnort nicht frei wählen. «Ich bin ein alter Mann und brauche meine Familie», sagt er. «Deshalb wollte ich bei meinem Sohn sein. Aber sie haben uns nicht erlaubt, zusammenzuleben.»

Tesfay mit dem weissen Umhang des Mönchs. Nachdem er zum zweiten Mal aus Eritrea floh, lebt er jetzt in einem äthiopischen Kloster.

Vier Jahre nach seiner Ankunft in der Schweiz gibt Tesfay auf. «Ich bin gegangen, weil es mir schlecht ging», sagt er. «Ich war erstaunt, dass so was ausgerechnet dort passiert, wo Recht und Demokratie herrschen.» Er entscheidet sich für die freiwillige Rückkehr und wählt damit das seiner Ansicht nach kleinere Übel: Diktatur statt Ohnmacht und Perspektiv­losigkeit.

So wie Tesfay haben in den letzten drei Jahren rund 150 Eritreer die Schweiz kontrolliert und selbstständig verlassen – wie viele von ihnen tatsächlich in ihre Heimat zurückgekehrt sind, kann das SEM nicht sagen.

Am zweiten Tag in Eritrea kommt der Brief

Im Juni 2018 fliegt Tesfay von Zürich aus nach Istanbul und von dort in die eritreische Hauptstadt Asmara. «Ich fühlte mich traurig, etwas ängstlich und hoffnungslos», erinnert er sich. Eigentlich wollte er lieber nach Äthiopien reisen, doch als eritreischer Staatsangehöriger ohne Reisepass steht ihm diese Option nicht offen.

Am Flughafen von Asmara trifft Tesfay erstmals seit seiner Flucht wieder auf uniformierte Beamte seines Heimatlandes. Sie nehmen seine Personalien auf, wollen wissen, woher er komme, wie er heisse und wo er wohnen werde. Tesfay gibt die Adresse seines Bruders an. «Eritrea hat mich ganz gewöhnlich begrüsst», sagt er. «Das ist ihr System. Sie machen keinen grossen Aufruhr am Flughafen. Sie wissen, dass sie dich auch später holen können.»

Mit einem mulmigen Gefühl reist er in das Dorf seines Bruders und sieht dort nach Jahren seine Verwandten wieder. Man erzählt ihm Geschichten von Rückkehrern, die brieflich vorgeladen und dann in den berüchtigten Gefängnissen inhaftiert wurden. Als er am zweiten Tag seines Aufenthalts ins Haus des Bruders zurückkehrt, liegt dort ein Brief mit einem blauen runden Stempel der Verwaltungsregion Süd. Ein Beamter der Subregion Senafe hat ihn vorbeigebracht. Es ist eine kurze, auf dem Computer geschriebene Nachricht: «Bitte melden Sie sich unverzüglich beim Verwaltungsbüro der Subregion.»

Als Tesfay den Brief liest, ist er geschockt. Obwohl er eigentlich bei seiner Familie leben wollte, entscheidet er sich noch am selben Tag, Eritrea wieder zu verlassen. In der Nacht überquert er die Grenze nach Äthiopien, doch anders als bei seiner ersten Flucht hat er nun kein Ziel mehr. Weil er jede Hoffnung auf ein besseres Leben aufgegeben hat, lässt er sich in einem Kloster nieder. «Wenn ich dem Aufgebot gefolgt wäre, würde ich jetzt nicht hier sitzen und mit euch sprechen», sagt er. «Ich weiss nicht, ob sie mich ins Gefängnis stecken, umbringen oder als Soldaten dienen lassen wollten. Ich weiss nur, das mich nichts Gutes erwartet hätte. Deshalb bin ich wieder gegangen.»

Fünf Rückkehrer und kein Happy End

Tesfay ist kein Einzelfall. Während Monaten haben wir weitere Rückkehrerinnen aufgespürt – und wurden mit zahlreichen Geschichten und Gerüchten konfrontiert. Fünf davon konnten wir so weit rekonstruieren und verifizieren, dass wir davon ausgehen können, dass sie der Wahrheit entsprechen.

Von zwei Personen, die aus der Schweiz nach Eritrea zurückgekehrt sind, fehlt jede Spur:

  • Beim Ersten handelt es sich um einen jungen Mann, dessen Asylgesuch in der Schweiz abgelehnt wurde. Er litt unter schweren psychischen Problemen und kam dann im Rahmen der freiwilligen Rückkehr wieder nach Eritrea. Sein Zustand war so schlecht, dass er nicht allein mit dem Zug an den Flughafen Genf reisen konnte. Das war Ende 2019 – seither haben die beiden Personen, die mit ihm in der Schweiz befreundet waren und uns seine Geschichte unabhängig voneinander erzählt haben, nichts mehr von ihm gehört.

  • Die zweite Rückkehrerin ist eine Frau, die ebenfalls Ende 2019 freiwillig nach Eritrea zurückging. Sie sagte uns vor ihrer Abreise, sie habe «nur zu fünf Prozent ein gutes Gefühl», dass ihr in Eritrea nichts passiere. Anfang Januar schrieb sie in einer kurzen Nachricht: «Gottseidank ist bis jetzt alles in Ordnung.» Seither hat sie auf Rückfragen nicht mehr reagiert, ihre zuvor rege Facebook-Aktivität ist zum Erliegen gekommen.

Drei weitere Personen sind aus der Schweiz zunächst nach Eritrea zurückgekehrt und danach erneut aus dem Land geflohen:

  • Der eine von ihnen ist Tesfay, der uns in Addis Abeba seine Geschichte persönlich erzählen konnte.

  • Ein weiterer Mann kehrte 2016 nach Eritrea zurück, wurde dort mehrere Monate in einem berüchtigten Gefängnis inhaftiert und floh dann erneut über die Grenze. Zwischen Juli und Oktober 2019 befand er sich laut Zeugen­aussagen in Äthiopien – dann wurde er wegen schwerer psychischer Probleme von seiner Familie nach Eritrea zurückgebracht.

  • Der Fall des fünften Rückkehrers ist der brisanteste. Nennen wir ihn Yonas. Er befindet sich jetzt, während dieser Bericht erscheint, in einem EU-Land und hofft darauf, es bald noch einmal in die Schweiz zu schaffen. Er sagte am Telefon, dass man ihn direkt nach seiner Rückkehr inhaftiert und gefoltert habe.

«Dann banden sie mich an einen Stuhl»

Klar ist, dass Yonas in der Schweiz lebte, hier einen negativen Asylentscheid bekam und aufgrund eines Suizidversuchs hospitalisiert wurde. Klar ist auch, dass er sich aufgrund des hohen Drucks und der Ausweglosigkeit für eine freiwillige Rückkehr entschied, dass er bei der Rückkehr­beratung des Kantons Zürich war und im August 2017 von Zürich über Istanbul nach Asmara reiste.

Yonas sagt aus, dass er am Flughafen Asmara von zwei Männern des eritreischen Geheimdienstes empfangen worden sei, die ihn befragten und dann mit dem Auto in eine rund 20 Minuten entfernte Wohnung brachten. Dort sei er in Einzelhaft festgehalten, mehrmals verhört sowie gefoltert worden. «Sie wussten, dass ich an einer Demonstration in Genf teilgenommen habe, und beschuldigten mich, ein Spion der Opposition zu sein», sagt Yonas. «Dann banden sie mich an einen Stuhl und schlugen mich.» Unter anderem habe einer mit einem Gürtel auf Rücken und Schultern eingeschlagen, der andere mit einem Stock auf Kopf und Beine. Nach ungefähr zwei Wochen hätten sie ihn ins Gefängnis Adi Abeito gebracht, von wo er schliesslich fliehen konnte.

Zur Transparenz: Wie wir die Erzählungen verifiziert haben

Während Ereignisse in der Schweiz mittels Dokumenten oder weiterer Zeugen­aussagen nachgeprüft werden konnten, lassen sich die Geschehnisse in Eritrea nur anhand der Erzählungen der betroffenen Personen verifizieren. Bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit haben wir uns an den vier Kriterien orientiert, die auch das Staatssekretariat für Migration in den Asylverfahren anwendet:

– Substanziiertheit (präzise und detailliert)
– Schlüssigkeit (kohärent, keine unerklärbaren Widersprüche)
- Plausibilität der Erzählung sowie Glaubwürdigkeit der Person.

Tesfay traf uns nur widerwillig zum Gespräch. Er tat es, weil er mit dem Treffen belegen konnte, dass er erneut aus Eritrea geflohen ist – was die Beschwerde seines Sohnes gegen dessen negativen Asylentscheid positiv beeinflussen könnte. Er ist als Person glaubwürdig und erzählt eine sehr plausible, differenzierte sowie präzise Geschichte ohne Widersprüche.

Der vierte Rückkehrer, der in Eritrea im Gefängnis sass, dann in Äthiopien lebte und schliesslich von seiner Familie zurückgebracht wurde, hat ohne Anreiz für eine Falschaussage mit mehreren Vertrauens­personen in der Schweiz und in Äthiopien über seine Inhaftierung gesprochen. Zwei von ihnen berichteten uns im persönlichen Gespräch unabhängig voneinander seine Geschichte, glaubwürdig und kohärent.

Für die Verifizierung von Yonas’ Erzählung haben wir am meisten Zeit aufgewendet. Denn erstens sind seine Aussagen besonders brisant. Und zweitens hat er als einziger der fünf Rückkehrer einen möglichen Anreiz zur Falschaussage. Könnte er gegenüber dem SEM glaubhaft machen, dass er nach seiner Rückkehr inhaftiert und gefoltert worden ist, würde das seine Chancen auf Asyl in der Schweiz deutlich erhöhen.

Yonas erzählt schlüssig von seiner Zeit in der Schweiz, der Rückkehr nach Eritrea, seiner Inhaftierung und der darauffolgenden Flucht. Kleinere Widersprüche und Unklarheiten kann er auf Nachfrage entweder klären oder spricht sie glaubhaft erschwerenden Umständen zu.

Ein Beispiel: «Ich war in einem gestressten Zustand während meiner Zeit im Gefängnis. Ich kann mich nicht genau erinnern, wie lange ich bleiben musste. Aber ich schätze eine Woche.»

Yonas beschreibt sowohl Details im Gefangenen­lager Adi Abeito als auch den Weg hinaus korrekt. Sein Erzählverhalten ist nicht sehr ausführlich, auf Nachfrage kann er aber Geschehnisse oder Orte detailliert beschreiben.

«Sie brachten mich in einen Raum, fesselten meine Hände hinter meinem Rücken an einen Stuhl. Sie waren vermummt, der eine nahm seinen Gürtel heraus und schlug mich damit, während der andere einen Stock nahm, der im Zimmer lag, und auf meinen Rücken einschlug.»

Wenn er eine Frage nicht beantworten kann, gibt er dafür einen schlüssigen Grund an, etwa: «Es war dunkel, ich kann nicht genau sagen, wie das Fahrzeug (mit dem er vom Flughafen abgeholt wurde) von aussen ausgesehen hat.»

Wie sah es innen aus? «Es hatte zwei Teile, vorne die Fahrer und hinten eine Art Gefängnis. Sie steckten mich in den fensterlosen Gefängnisteil.»

Werden ihm mögliche Antworten angeboten, widerspricht er und legt seine Sicht der Dinge dar.

Wie sahen sie aus, wie gross waren sie? Waren sie vollhaarig, dick, schlank? «Der eine hatte eine schwarze Kappe auf, darunter erkannte man ein bisschen Glatze. Er war etwas kleiner. Der andere hatte auch eine Kappe auf. Sie war blauschwarz.»

Zudem ist seine Geschichte grundsätzlich plausibel. Die Möglichkeit, dass ein Rückkehrer direkt ab Flughafen inhaftiert wird, ist sogar im aktuellen Eritrea-Bericht des SEM erwähnt. Ein Fragezeichen bildet die Flucht aus dem Gefängnis Adi Abeito. Diese schildert Yonas so, dass ein Wärter ihm geholfen habe, indem er mitten in der Nacht die Zellentür öffnete und ihn entwischen liess. Das ist laut Fachpersonen eher ungewöhnlich, aber möglich.

Die Glaubwürdigkeit der Person ist aufgrund der Distanz (mehrere telefonische Gespräche) schwer einzuschätzen. Ihre Handlungsweise entspricht aber in keiner Weise den Kriterien, die das SEM als «unglaubwürdiges Verhalten» definiert.

Den Fall Yonas dürfte es nicht geben

Auch wenn vieles dafür spricht, dass Yonas die Wahrheit sagt und er nach seiner Rückkehr tatsächlich inhaftiert und gefoltert wurde, lässt sich auch seine Erzählung nicht abschliessend überprüfen. Sollte Yonas erneut in die Schweiz einreisen, wird das SEM entscheiden müssen, ob es die Geschichte für glaubhaft hält. Falls ja, könnte das Konsequenzen für die Schweizer Asylpraxis haben – auch darauf gehen wir später genauer ein. Denn einen Fall wie Yonas dürfte es nicht geben.

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Satellitenbilder zeigen Gefangene im Innenhof des Gefängniskomplexes von Adi Abeito. Hier werden vor allem Personen inhaftiert, die auf der Flucht verhaftet wurden.


Die Schweiz geht davon aus, dass Rückkehrer wie Tesfay und Yonas in Eritrea nicht generell als Verräter betrachtet und daher nicht hart bestraft werden. Ihre Bestrafung erfolge «nicht mehr derart rigoros», befand das Bundes­verwaltungs­gericht 2017.

Die Geschichten, die wir hier rekonstruiert haben, widersprechen dieser Annahme. Sie zeigen, dass eine freiwillige Rückkehr nach Eritrea nicht problemlos ist. Und: Wenn Yonas in Eritrea tatsächlich gefoltert wurde, hätte die Schweiz mit seiner Wegweisung wohl das Folterverbot nach Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt.

Sarah Frehner, Juristin bei der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, sieht eine mögliche Parallele zum Fall Sri Lanka von 2013: Damals wurden zwei abgewiesene sri-lankische Asylsuchende aus der Schweiz ausgeschafft und nach ihrer Rückkehr inhaftiert sowie gefoltert. Das SEM verhängte daraufhin einen temporären Wegweisungs­stopp. «Bereits in der Vergangenheit hat die Schweiz die Situation in Herkunfts­staaten nicht korrekt abgeklärt und die mit einer Abschiebung verbundene Gefahr unterschätzt», sagt Sarah Frehner. Wie bei Sri Lanka lägen auch im Fall Eritrea Hinweise vor, dass Wegweisungen riskant sind. «Um zu verhindern, dass Rückkehrer gefährdet werden, muss das SEM seine Praxis überdenken.»

Die Schweizer Behörden wissen einiges – und vieles nicht

Dieses will ohne detaillierte Einsicht in die Fälle nicht konkret zu den Vorwürfen der eritreischen Rückkehrer Stellung nehmen. Generell werde laut SEM-Sprecher Daniel Bach jedes Asylgesuch sorgfältig und einzeln geprüft, «um ein reales Risiko einer Gefährdung» auszuschliessen. Daher sei es vertretbar, zu sagen, dass im Falle einer Wegweisung eine Rückkehr möglich und zumutbar sei.

An dieser Einschätzung ändert laut dem SEM auch die Tatsache nichts, dass «wenig über konkret zurückgekehrte Personen bekannt ist». Die Beurteilung der Schweizer Behörden basiere auf der geltenden Asylpraxis sowie der nationalen und internationalen Rechtsprechung. Dokumentierte Fälle von weggewiesenen Asylsuchenden, die nach ihrer Rückkehr in Eritrea unbehelligt geblieben sind, kann das SEM allerdings auch nach mehrmaliger Rückfrage nicht vorweisen.

Lange stand Äthiopien im Krieg mit Eritrea, heute bietet das Land vielen Eritreern Schutz: Im Umland der Hauptstadt Addis Abeba.

Selbst in seinem eigenen Eritrea-Länderbericht von 2019 erwähnt das SEM, es sei möglich, dass illegal ausgereiste Eritreer bei ihrer Rückkehr schwerwiegende Konsequenzen zu befürchten hätten. Auf Seite 56 etwa: «Einige Personen werden verhaftet und in eine Polizeistation oder ein Gefängnis in der Innenstadt von Asmara gebracht.» Oder auf Seite 60: «Eine andere Quelle verfügt über Kenntnisse von Fällen von Rückkehrern (…), die kurz nach ihrer Ankunft inhaftiert wurden. Berichten zufolge wurden sie im Gefängnis verhört und gefoltert und später in eine Militäreinheit geschickt; ein Teil von ihnen floh wieder aus dem Land.»

Wieso also schicken die Schweizer Behörden Menschen in ein Land zurück, von dem sie wissen, dass dort Willkür herrscht und gefoltert wird? Die Antwort des SEM ist immer dieselbe: Man prüfe den Einzelfall. Weggewiesen würden nur Asylsuchende, bei denen keine stichhaltigen Gründe für die Annahme einer konkreten und ernsthaften Gefahr bestünden. Ein Monitoring der Rückkehrer halte man weder für notwendig noch für umsetzbar.

Zusammengefasst heisst das: Die Schweizer Behörden verfügen über keine dokumentierten Fälle von Rückkehrern aus der Schweiz, die unbehelligt blieben. Sie sind nicht in der Lage, die Rückkehr zu überwachen. Und doch hat die Schweiz die Asylpraxis verschärft und preist die freiwillige Rückkehr als valable Option an.

All das wirft Fragen auf: Wussten das SEM und das Bundes­verwaltungs­gericht genug über die Lage in Eritrea, um einschätzen zu können, wie gefährlich es für jene Menschen ist, die sie dorthin zurückschicken wollen? Wie will die Schweiz diese Menschen dazu bringen, zurückzukehren, wenn sie kein Beispiel einer problemlosen Rückkehr vorlegen kann? Ist es unter diesen Umständen vertretbar, die freiwillige Rückkehr zu fördern? Und weshalb wissen die Schweizer Behörden so wenig über ihre Rückkehrer, wenn es doch möglich ist, sie aufzuspüren?

Letzte Frage an Tesfay, bevor er das Hotel verlässt und sich auf den Weg zurück in sein Kloster macht: «Hat jemand aus der Schweiz versucht, dich nach deiner Rückkehr zu kontaktieren?» – «Nein, keiner hat gefragt.»

Alle Namen geändert

Zu Teil 2 der Serie: Die Zermürbungsstrategie

Morgen im zweiten Teil der Serie lesen Sie: Wie schlimm muss das Leben in der Schweiz sein, damit man freiwillig in eine Diktatur zurückkehrt?

Zu den Autorinnen

Der Journalist Christian Zeier beschäftigt sich seit Jahren mit Eritrea sowie eritreischen Asylsuchenden in der Schweiz. 2016 hielt er sich mit einem offiziellen Visum in Eritrea selbst auf. Der Fotograf Florian Spring arbeitet vorwiegend im Genre der Reportage, bisher unter anderem in Papua-Neuguinea und Moçambique. Ayse Turcan, die zu Teil 2 dieser Serie beigetragen hat, ist Journalistin und freie Mitarbeiterin beim Recherchekollektiv Reflekt.

Serie «Zurück in die Diktatur»

Sie lesen: Teil 1

Der Schleier des Nicht­wis­sens

Teil 2

Die Zer­mür­bungs­stra­te­gie

Teil 3

Willkür, Folter, Zwangs­ar­beit

Podcast

Gespräch mit den Autoren