Covid-19-Uhr-Newsletter

Jetzt untertreiben Sie mal nicht so

31.03.2020

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Liebe Leserinnen und Leser

Wir spüren gerade täglich, dass unsere Leserschaft unheimlich viel über das Virus und die Krise wissen möchte. Den Covid-19-Uhr-Newsletter haben unterdessen mehr als 30’000 Menschen abonniert, und über unsere E-Mail-Adresse erreichen uns täglich Dutzende von Mails – oft mit sehr guten Fragen, berührenden Dankesschreiben und Tipps. Das freut uns!

Doch sehr viele Zuschriften zeigen auch, wie gross die Verunsicherung ist. Beim Thema Corona passiert gerade im Schnelltempo, was über Jahre bei der menschengemachten Klimaerwärmung passiert ist. Selbst ernannte Experten erklären die Pandemie zur Glaubenssache. Autokraten, wie zum Beispiel der brasilianische Präsident, spielen die Gefahr herunter. Und auf Krawall gebürstete Journalistinnen und Entertainer spitzen vernünftige Debatten über Lösungen bis zur Unkenntlichkeit zu.

Wir erhalten zahlreiche Links zu Videos und Blogbeiträgen, in denen typischerweise Männer erzählen, dass das alles Panikmache sei, dass man doch endlich mal die Zahlen richtig analysieren solle. Seit die Corona-Epidemie ausgebrochen ist, verbreitet sich Unsinn darüber im Netz viral: Die Falschnachrichten keimen irgendwo auf, werden auf den sozialen Medien geteilt und verstreuen sich über das ganze Internet. Die Inhalte sind oft einseitig, verzerrt oder schlicht falsch.

In den Zuschriften werden wir häufig darum gebeten, solche Videos und Blogbeiträge zu überprüfen. Aber ganz ehrlich: Selbst wenn wir ein Team von zehn Leuten abbestellen würden, um all diese Links zu checken, könnten wir nur einen Bruchteil aller Einsendungen seriös verifizieren. Deshalb geben wir Ihnen hier drei der Instrumente an die Hand, mit denen wir in unserem journalistischen Alltag glaubwürdige von problematischen Informationen unterscheiden:

  • Überprüfen Sie die Urheberschaft. Ist sie namentlich bekannt? Verfügt der Absender über wissenschaftliche oder fachliche Expertise? Oder gehört er oder sie zu einer seriösen journalistischen Publikation, die an methodische Standards gebunden ist und sich auch vor dem Presserat verantworten muss?

  • Überprüfen Sie die Quellen der Urheberschaft. Hat sie ausgewiesen, woher sie ihre Informationen bezieht? Stützt sie ihre Argumentation auf unterschiedliche, voneinander unabhängige Quellen? Stützen sich die Aussagen der Urheberschaft auf seriöse wissenschaftliche Studien?

  • Überprüfen Sie Ihre eigenen Vorurteile. Wird die These nur in Ihrem persönlichen Umfeld vertreten, oder wird sie auch von anderen Personen geteilt? Wird sie nur von einer oder auch von anderen Personen mit vergleichbarer Expertise besprochen?

Wenn wir beim Überprüfen einer Information eine dieser Fragen mit «Nein» oder «Nicht eindeutig» beantworten können, verwenden wir sie nicht – oder wir schränken unsere Aussage ein und teilen Ihnen explizit mit, dass ein wissenschaftliches Ergebnis erst vorläufig ist, eine These erst von einem Forschungsteam publiziert wurde. Wir empfehlen Ihnen, dasselbe zu tun – und Videos oder Texte nur dann in den sozialen Medien oder mit Ihren Freunden und Bekannten zu teilen, wenn sie diese Qualitätskriterien erfüllen.

Wir raten vor allem dann zur Vorsicht, wenn Experten von sich selber behaupten, dass sie die «andere Sicht» darstellen würden, oder wenn sie etablierte Institutionen – wie renommierte Universitäten – ohne stichhaltige Belege der Lüge, der Verschwörung, der Hysterie oder des Verschweigens bezichtigen.

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

  • Die neuesten Fallzahlen: Gemäss Daten, die das Statistische Amt des Kantons Zürich aus den Daten der einzelnen Kantone zusammenstellt, zählt die Schweiz heute mindestens 16’186 infizierte Personen. Am 22. März waren es noch knapp 8000. Die Fallzahlen scheinen sich im Moment innerhalb von etwa neun Tagen zu verdoppeln.

  • Bund gründet Taskforce: Ein neues Gremium aus Wissenschaftlern soll künftig den Bundesrat und die Behörden in der Pandemiebekämpfung beratend unterstützen. Geleitet wird die Gruppe mit dem Namen «Swiss National Covid-19 Task Force» von Matthias Egger, dem Präsidenten des Nationalen Forschungsrats des Schweizerischen Nationalfonds (SNF). Auf Anfrage steht das Expertenteam auch den kantonalen Entscheidungsträgern zur Verfügung.

  • Keine Ferien im Süden: Tessin und Graubünden haben heute in einer gemeinsamen Mitteilung Ferienhausbesitzer und Touristinnen dazu aufgefordert, auf Reisen in die beiden Kantone zu verzichten. Insbesondere über die Ostertage sollte man zu Hause bleiben, damit die Infrastrukturen des Gesundheitssystems nicht noch zusätzlich belastet würden.

  • Dramatische Situation in Spanien: Fast 100’000 bestätigte Covid-19-Fälle und mehr als 8000 Todesfälle zählt Spanien bisher, die Intensivstationen in Madrid sind voll. Nach Italien ist Spanien das am zweitstärksten betroffene Land Europas. Die wachsenden Zahlen bewegten die spanische Regierung am Sonntag zu einer erneuten Verschärfung der dort geltenden Massnahmen: Offen bleiben bis Ostern nur Betriebe, die lebensnotwendige Güter produzieren. Die Regierung fordert von der EU finanzielle Hilfe.

Die besten Tipps und interessantesten Artikel

Sie suchen Hilfe beim Erkennen falscher oder irreführender Informationen? Die eingangs erwähnten Methoden sind ein guter erster Schritt, um dubiose Videos oder eigene Vorurteile zu hinterfragen. Hier ein bisschen Hintergrundlektüre dazu:

  • Der Bullshit Syllabus zweier Dozenten der Universität Washington ist ein Kurs in englischer Sprache, den Sie auch online absolvieren können. Die vorgeschlagene Kurslektüre wird Ihnen dabei helfen, Bullshit im Netz als solchen zu erkennen.

  • Das deutsche Recherchezentrum Correctiv entlarvt Falschmeldungen. In diesem Artikel teilt die Redaktion ein paar Tipps dazu, wie man sich vor irreführender Information schützen kann. Zum Beispiel, indem man auf seine Gefühle achtet.

  • Die Ausstellung «Fake» im Stapferhaus in Lenzburg sensibilisiert Besucher für Wahrheit und Lüge, Information und Desinformation. Sie ist eigentlich noch bis zum 28. Juni 2020 zu sehen – falls Ausstellungen und Museen bis dahin wieder öffnen dürfen. Die Materialien zur Ausstellung stellt das Stapferhaus aber auch online zur Verfügung. Wenn Sie Kinder haben: eignet sich wunderbar für erweitertes Homeschooling.

Apropos Quellenkritik:

  • Wir haben einen Blog von einer Medienstelle bekommen – ein Corona-Tagebuch von Mitarbeiterinnen des Helvetas-Hilfswerks, die in Burma, Burkina Faso und Peru die Lage beobachten. Normalerweise publizieren wir solche Hinweise auf nichtjournalistische Inhalte nicht. Da wir aber im Moment (und ehrlicherweise fast immer) nur wenig aus diesen Gegenden hören, leiten wir Ihnen den Link gerne weiter. Sie haben ja jetzt alle Werkzeuge, um sich eine Meinung zu diesen Informationen zu bilden.

Frage aus der Community: An der saisonalen Grippe sterben auch Menschen – sind die Massnahmen im Kampf gegen die Pandemie wirklich verhältnismässig?

Wir erhalten immer wieder Nachrichten von Leserinnen und Lesern, welche die Verhältnismässigkeit der aktuellen politischen Massnahmen infrage stellen. Häufig verweisen sie dabei auf die jährlichen Todesfälle durch die saisonale Grippe.

Um Covid-19 mit der Grippe – von sogenannten Influenzaviren verursacht – vergleichen zu können, muss man vor allem zwei Werte kennen:

1. Wie schnell sich das jeweilige Virus verbreitet.
Wissenschaftler beschreiben das Tempo, mit dem sich ein Virus verbreitet, wenn keinerlei Massnahmen das Virus eindämmen, mit dem Wert R0: Eine infizierte Person steckt im Schnitt R0 weitere Personen an.

Das Coronavirus verbreitet sich also bedeutend schneller als die saisonale Grippe. Das heisst: Es stecken sich in derselben Zeit viel mehr Menschen an. Hinzu kommt: Im Gegensatz zur Grippe gibt es gegen Sars-CoV-2 keine Impfung, die breite Teile der Bevölkerung immunisieren könnte. Jede kann sich anstecken.

2. Wie tödlich die Krankheit ist, die es auslöst.
Die Sterberate beschreibt, wie viele der Angesteckten an der Krankheit, die das Virus verursacht, sterben.

  • Bei Influenzaviren liegt der obere Bereich der Sterberate bei 0,1 Prozent.

Covid-19 ist also gemäss dem, was wir aktuell wissen, rund zehnmal tödlicher als eine Grippe. Nebst der Statistik gibt es Bilder aus der ganzen Welt, die anschaulich illustrieren, wie heftig dieses Virus auf die Menschen und die Gesundheitssysteme trifft. Zum Beispiel der gekühlte Lastwagen, der in New York vor einem Spital steht: Im Spitalgebäude gibt es nicht mehr genügend Lagerkapazität für die Leichen der verstorbenen Covid-19-Patienten. Die Stadt hat nun Dutzende solcher Wagen bestellt, um Spitäler zu unterstützen. Bei einer normalen Grippewelle wäre das nicht nötig.

Zum Schluss eine gute Nachricht: Spezialisten ohne Arbeit formieren sich gegen das Virus

Es sind nicht nur Restaurants oder Geschäfte, die im Zuge der Pandemie schliessen mussten. Auch viele Wissenschaftlerinnen können nicht mehr oder nur noch reduziert forschen. Wie das Wissenschaftsmagazin «Nature» schreibt, sitzen jedoch viele von ihnen nicht einfach tatenlos zu Hause rum, sondern setzen ihre Expertise neu gegen Covid-19 ein. Über die neu gegründete Plattform «Crowdfight Covid-19» haben sich nicht weniger als 32’000 Spezialisten aus Bereichen wie Biomedizin über Mathematik bis hin zu den Sozialwissenschaften freiwillig gemeldet – in einer Woche. Sie wollen mit ihrem Wissen dazu beitragen, die Pandemie einzudämmen.

Bleiben Sie umsichtig, bleiben Sie freundlich, bleiben Sie gesund.

Bis morgen

Ronja Beck, Oliver Fuchs, Marie-José Kolly und Elia Blülle

PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch

PPS: Wir würden uns freuen, wenn Sie diesen Newsletter mit Freundinnen und Bekannten teilten. Er ist ein kostenloses Angebot der Republik.

PPPS: Heute ist erstmals das «Literaturmagazin für Gemeinschaft im Lockdown» erschienen, an dem viele Autoren mitgewirkt haben, die auch regelmässig für die Republik schreiben. Die nächste Ausgabe gibt es Ende April.

PPPPS: Der russisch-deutsche Pianist Igor Levit gibt jeden Abend um 19 Uhr vor Tausenden Zuschauern ein Konzert auf Twitter – «bis wir uns alle wieder gemeinsam, real, nah beieinander versammeln und Kunst erleben können».

PPPPPS: Seit heute ist es offiziell: Die Republik kann mindestens zwei zusätzliche Jahre weitermachen. Danke für die grosse Unterstützung!

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