Seiner Zeit voraus: Der indische Autor und Poet Rabindranath Tagore war 1913 der erste asiatische Nobelpreisträger. Fox Photos/Getty Images

Europa an den eigenen Massstäben messen

Vor über 100 Jahren hat der indische Nobelpreisträger Rabindranath Tagore über den Nationalismus nachgedacht. Seine neu auf Deutsch erschienenen Reden sind von beunruhigender Aktualität.

Von Sieglinde Geisel, 25.03.2020

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Im Jahr 1916 unternahm der indische Dichter Rabindranath Tagore (1861–1941) eine Vortrags­reise nach Japan und in die USA, um über den japanischen, US-amerikanischen und indischen Nationalismus zu sprechen. Die Berliner Konferenz von 1884, an der die europäischen Mächte den afrikanischen Kontinent unter sich aufteilten, lag erst gute dreissig Jahre zurück.

Die Nation, schreibt Tagore, sei «organisierte Egomanie». Und der Nationalismus eine der mächtigsten Drogen, die je erfunden worden sind: «Unter ihrem betäubenden Einfluss kann das ganze Volk einem systematischen Programm des aggressivsten Egoismus folgen, ohne sich im mindesten der moralischen Perversion dieses Vorgangs bewusst zu sein.»

Der Berenberg Verlag hat Rabindranath Tagores Vorträge über den Nationalismus in einer Neuübersetzung herausgebracht, und es scheint, als gewinne der über hundert Jahre alte Text nun mit jedem Tag an Aktualität. «Europa hat immer seinen eigenen Massstab der Vollkommenheit gehabt, an dem wir seine eigenen Fehler und das Ausmass seines eigenen Versagens ablesen können; wir können es vor sein eigenes Tribunal zitieren und es dadurch beschämen» – wer denkt bei diesen Worten nicht an die Flüchtlings­krise in der Ägäis?

Und das globale Denken, das Tagore dem Nationalismus entgegenhält, ist in der Klimakrise ebenso relevant wie angesichts der Coronavirus-Pandemie. Die Begriffe Nationalismus und Kapitalismus nennt Tagore oft in einem Atemzug – ganz so, wie es heute die Klimabewegung tut. Laut Tagore sind die beiden Ideologien nichts als Manifestationen des organisierten Eigennutzes, sie vergrössern «nur unsere Macht, nicht unsere Menschlichkeit».

Daran, dass der Mensch zu Höherem geboren ist, gibt es für den indischen Dichter, der 1913 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, keinen Zweifel. Mit seinem Appell an das Gute im Menschen stiess Tagore damals allerdings in West und Ost gleichermassen auf Widerstand. Wie der indische Intellektuelle Pankaj Mishra im Vorwort zur Neuausgabe ausführt, verzichtete etwa Thomas Mann 1921 darauf, Tagore kennenzulernen, er stellte ihn sich offenbar als eine Art Gutmenschen vor, «beseelt von einer etwas anämischen Humanität».

Tagore sieht im Osten eine Alternative zur westlichen Rationalität, so vertraut er in seinem Vortrag «Nationalismus in Japan» darauf, dass Japan seine Eigenart gegenüber den westlichen Einflüssen bewahren werde. In dem Text, der sich an Indien wendet, erkennt er in seinen eigenen Lands­leuten gar die «Banner­träger der Zivilisation der Zukunft»: Sie trügen eine grosse Verantwortung, «weil Ihr ohne die Fesseln einer gierigen, geizigen Vergangenheit seid». Diese idealistische Vorstellung hatte sich nicht erfüllt. Und von chinesischen Studenten wurde Tagore bei einer Rede ausgebuht, sie schrien: «Wir wollen hier nicht Philosophie, wir wollen Materialismus!»

Und doch war Tagore, was die Dekolonialisierung des Denkens angeht, seinen Zeitgenossen in vielerlei Hinsicht voraus. «Was uns an Bildung zugestanden wird, ist so unglaublich dürftig, dass es das Anstands­gefühl der westlichen Menschheit empören müsste», schreibt er selbstbewusst. Und die Ausbeutung der kolonialisierten Länder durch die imperialen Mächte benennt er mit Worten, die nichts von ihrer Aktualität eingebüsst haben: «Einer exklusiven Zivilisation, die sich von anderen ernährt, diese anderen aber von allem Nutzen ausschliesst, ist durch ihre eigene moralische Beschränktheit das Todes­urteil gesprochen.» Auch was Tagore über die Abschottung gegenüber dem Fremden sagt, gilt, mit Abstrichen, noch heute: «Fremde werden nur unter der Bedingung ins Land gelassen, dass sie sich darauf beschränken, niedere Dienste zu verrichten. Entweder schliesst Ihr Eure Tore oder Ihr macht sie zu Sklaven.»

So fühlt man sich beim Lesen ständig ertappt. Die Aktualität von Tagores Worten ist dabei umso bestürzender, als sich Tagore mit den Werten des Westens vorbehaltlos identifiziert. Auf der einen Seite prangert er den Westen mit drastischen Bildern an, so sei der Nationalismus eine Maschine, «welche mit ihren eisernen Klauen der Welt das Herz aus dem Leibe kratzt und nicht weiss, was sie getan hat».

Doch dieser Anklage stellt er eine ebenso sprachmächtige, ans Pathos rührende Liebes­erklärung gegenüber: «Im Herzen Europas fliesst der reinste Strom menschlicher Liebe, der Liebe zur Gerechtigkeit, des Geistes der Selbst­aufopferung für höhere Ideale.» Und gerade darin liege die grösste Gefahr: dass Europa die Menschen­rechte ebenso hervorgebracht hat wie die koloniale Gewalt: «wie Gift, das mit dem besten Essen zusammen aufgetragen wird».

Die Sprache dieser Vorträge ist bildstark und, in Joachim Kalkas Übersetzung, so modern wie die Gedanken. Auch als politischer Autor bleibt Tagore Dichter: So heisst es etwa, die Herrschaft des Nationalismus werde erst dann möglich, «wenn an die Stelle des Menschen ein Oktopus aus Abstraktionen getreten ist, der seine zuckenden Tentakel in alle Richtungen ausschickt und mit seinen unzähligen Saugnäpfen sogar die ferne Zukunft besetzt». Solche zupackenden, fantasievollen Formulierungen finden sich auf jeder Seite.

Was also braucht es?

Tagore fordert nicht weniger als eine moralische Neuorientierung, «welche die ganze Welt umfasst und nicht bloss die jeweiligen nationalen Gruppen». Gesprochen hat er diese Worte vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs und den Verheerungen der Kolonial­herrschaft, doch ihr Inhalt ist berechtigter denn je.

Es hat etwas Verstörendes, wenn man sich von einem hundert Jahre alten Text auf Schritt und Tritt gemeint fühlt. Doch zugleich ist es auch etwas Tröstliches. Wir sind nicht die Ersten, die an der Verwirklichung des Universalismus scheitern, und wir werden wohl auch nicht die Letzten sein. Wir sind nicht allein.

Das Buch

Rabindranath Tagore: «Nationalismus». Aus dem Englischen von Joachim Kalka. Mit einem Vorwort von Pankaj Mishra, Berenberg Verlag, Berlin 2020. 120 Seiten, ca. 32 Franken.

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