Covid-19-Uhr-Newsletter

Fünf vor zwölf

20.03.2020

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Liebe Leserinnen und Leser

In verschiedenen europäischen Ländern dürfen die Menschen kaum mehr vor die eigene Haustür gehen. Der Bundesrat hat heute Nachmittag entschieden, dass es einen solchen «Lockdown» in der Schweiz im Moment nicht gibt.

Darüber kann man streiten. Wir sehen immer nur zeitverzögert, welche Massnahmen Ansteckungen bremsen – und welche nicht ausreichen.

Keine Entscheidung ist einfach, in einer Pandemie.

Und jede hat ihren Preis. Für viele Menschen ist nämlich schon die jetzige Quarantäne eine Katastrophe.

In den Stunden, in denen wir diesen Newsletter schreiben, tagt ein vom Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) koordinierter Krisenrat, der sich mit einer Frage befasst, die im bisherigen Chaos untergegangen ist: Wie soll der Bund in den kommenden Wochen mit dem befürchteten explosionsartigen Anstieg häuslicher Gewalt umgehen?

In Zürich, St. Gallen und Bern melden die Frauenhäuser, dass sie bereits ausgelastet sind. «Die Erfahrung zeigt», sagt EBG-Sprecherin Hanna Jordi, dass das Problem der häuslichen Gewalt in Krisensituationen häufig verstärkt werde. «Die eingeschränkte Bewegungsfreiheit könnte dies verschärfen und die Nachfrage nach Schutzplätzen steigern.»

Niemand wolle überfüllte Frauenhäuser sofort in direkte Verbindung mit der Pandemie bringen. «Fakt aber ist, dass wir auf eine Krise nicht vorbereitet sind», sagt etwa Susan A. Peter, Geschäftsführerin der Stiftung Frauenhaus Zürich. «Wir sind bereits jetzt voll, und wenn ich nach China oder Italien blicke, wo sich die Zahlen häuslicher Gewalt aufgrund der Ausgangssperre zum Teil verdreifacht haben, müsste der Bund handeln und uns zusätzliche Räumlichkeiten zur Verfügung stellen.»

Das Zürcher Mädchenhaus, sagt dessen Leiterin Dorothea Hollender, habe diese Woche bereits mehrere Schutzsuchende abweisen müssen. Die Berner Frauenhäuser bringen wegen Überlastung momentan Frauen in Hotels unter. Dinge, die nicht zwingend aussergewöhnlich sind, so die Leiterinnen der zuständigen Häuser, aber aufgrund der Corona-Erfahrungen in China eine Problematik verschärfen und die Verantwortlichen nervös machen.

Die Kapazitäten der Frauenhäuser in der Schweiz sind bereits im Normalfall knapp und nicht auf eine Krise vorbereitet. An der Krisensitzung des EBG, die heute Nachmittag in Bern stattgefunden hat, nahmen Mitglieder verschiedener Organisationen teil, unter anderem von der Schweizerischen Konferenz gegen Häusliche Gewalt, der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren, der Konferenz der Kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren sowie vom Bundesamt für Justiz. «Wir werden nächste Woche über weitere allfällige mögliche Schritte informieren», sagt Hanna Jordi etwa auf die Frage, ob der Bund in der Lage oder gewillt wäre, überfüllten Frauenhäusern auf die Schnelle zusätzliche Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen.

Ebenfalls nächste Woche, und zwar am Montag, erscheinen übrigens die neuen Kriminalstatistiken. Wie wir aus gut unterrichteter Quelle wissen, musste im Kanton Zürich – auch ohne Coronavirus – die Polizei im vergangenen Jahr häufiger ausrücken wegen häuslicher Gewalt als in den Jahren zuvor.

Erleben Sie oder jemand in Ihrem Umfeld häusliche Gewalt?

Wenden Sie sich direkt an die Polizei, aber auch an verschiedene Beratungsstellen, Frauen-, Männer- oder Mädchenhäuser oder an die Dargebotene Hand. Die Beratungsstelle Opferhilfe Schweiz, auf die auch das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann verweist, berät Opfer häuslicher Gewalt nach wie vor. Sie ist per Telefon oder E-Mail kontaktierbar. Kontaktinformationen weiterer Beratungsstellen finden Sie in diesem Twitter-Thread.

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

  • Die neuesten Fallzahlen: Heute zählt die Schweiz gemäss Bundesamt für Gesundheit (BAG) 4840 infizierte Personen. Am Dienstag waren es noch 2650 – die Fallzahlen verdoppeln sich derzeit innerhalb von etwa 3 bis 4 Tagen. Wie an dieser Stelle schon erwähnt, stimmen die Daten aber vermutlich nicht auf den Tag genau. Unsere Recherchen zeigen zudem:

  • Dem Bund fehlt der Überblick: Republik-Reporterin Adrienne Fichter zeigt in ihrer Recherche auf, dass das BAG wegen Papierbürokratie, menschlicher Fehler und fehlender digitaler Werkzeuge nicht genau weiss, wie viele Menschen wo in der Schweiz positiv getestet wurden. Das macht gezielte und effiziente Massnahmen (zum Beispiel die Isolation von Kontaktpersonen) schwieriger als nötig.

  • Ausgangssperre light: Der Bundesrat verbietet ab heute Mitternacht Ansammlungen von mehr als 5 Personen im öffentlichen Raum. Wer die neue Regel verletzt, riskiert eine Busse von 100 Franken. Anders als vielfach befürchtet (und von anderen wiederum erhofft), hat sich die Regierung gegen einen kompletten «Lockdown» entschieden, wie ihn etwa Frankreich oder Spanien angeordnet haben. Man wolle keine Spektakel-Politik betreiben, sagte Bundesrat Alain Berset an der heutigen Pressekonferenz. «Die Einführung von Ausgangssperren hat sich nicht als der beste Weg herausgestellt, um die Verbreitung des Virus einzudämmen.» Es sei der letzte Moment, diese jetzigen Regeln und Bitten ernst zu nehmen und umzusetzen, mahnte Berset. «Sonst werden schärfere Massnahmen folgen.»

  • 32 Milliarden Finanzhilfe: Grosse Teile der Schweizer Privatwirtschaft stehen still. Viele Unternehmen kämpfen ums Überleben. Mit dem heute beschlossenen Finanzpaket will der Bundesrat Soforthilfe leisten und die Liquidität der bedrohten Firmen sicherstellen. Zudem sollen auch Selbstständigerwerbende entschädigt werden, die wegen der Pandemie nichts verdienen.

  • Soforthilfe für Kultur und Sport: Die Pandemie soll die Schweizer Kultur- und Sportlandschaft nicht zerstören. Der Bundesrat stellt deshalb per sofort 380 Millionen Franken bereit, wovon 100 Millionen in den Sport und 280 Millionen in die Kulturbranche fliessen sollen.

  • In Italien sterben alte Menschen: Mittlerweile sind in Italien mehr Menschen an Covid-19 gestorben als in China, wo die Pandemie im Dezember ausgebrochen ist. Eine neue Studie zeigt, dass in Italien das durchschnittliche Alter der Verstorbenen bei 79,5 Jahren liegt – nur 5 verstorbene Personen waren unter 40 Jahre alt. Diese litten alle an einer Vorerkrankung. Trotzdem zeigen Daten aus den USA, Frankreich und Italien, dass auch viele junge Menschen an Covid-19 schwer erkranken. In den USA musste zum Beispiel rund jede fünfte Erkrankte zwischen 20 und 44 Jahren ins Spital.

Die besten Tipps und interessantesten Artikel

Heute nur einer: Was, wenn Menschen nicht begreifen wollen, dass die Pandemie sie oder andere umbringen könnte? Der «Atlantic» hat sich überlegt, wie man störrische Personen davon überzeugen könnte, das Haus nicht mehr zu verlassen. Wir haben die Tipps in praktische Vorlagen für den Eigengebrauch umgewandelt:

  • «Es geht nicht um dich, sondern um die Risikogruppen! Denk doch bitte an [nahestehende Person mit Vorerkrankung]!»

  • «Kannst du dich noch an den Film ‹Forrest Gump› erinnern? Sogar Tom Hanks hat es erwischt!»

  • «Ich weiss, wir stecken gerade in einer sehr doofen Situation – und ich verstehe, dass du keine Lust hast, auf [dein Hobby] zu verzichten. Aber ich mache mir wirklich Sorgen um dich.»

  • «Nein, was der Professor Ypsilon da auf Youtube sagt, ist Blödsinn. Glaubst du wirklich, die faulen Journalisten von der Republik würden freiwillig bis 7 Uhr abends arbeiten, wenn die Lage nicht so verdammt ernst wäre?»

Frage aus der Community: Meine Partnerin oder mein Partner lebt im Ausland. Werde ich sie/ihn jetzt noch besuchen können?

Bis auf weiteres sehr wahrscheinlich nicht. Das Schweizer Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) rät seit dem 13. März, auf «nicht dringliche Auslandreisen» zu verzichten. Viele Staaten weltweit haben ihre Einreisebestimmungen extrem verschärft oder gar die Grenzen komplett geschlossen. Kontaktieren Sie unbedingt vorher die Botschaft des Landes, in welches Sie einreisen müssen. Betonung auf «müssen». Reisen Sie nicht, wenn es sich nicht um einen absoluten Notfall handelt. Und nein: Herzschmerz und Sehnsucht sind keine Notfälle. Sorry.

In die Schweiz dürfen im Moment nur Menschen mit einem roten Pass oder einer Aufenthaltsbewilligung einreisen. Ihre verheirateten Partner dürfen ebenfalls noch die Grenze passieren. Achtung: Anders verhält es sich bei binationalen Paaren ohne Trauschein! Ausländischen Partnerinnen und Partnern wird in diesem Fall die Einreise verwehrt, wie das EDA diese Woche an einer Pressekonferenz bestätigte.

Wie die Schweiz öffnet auch Deutschland die Grenzen nur noch für Ausländer, wenn sie aus beruflichen oder «aus dringenden Gründen» einreisen müssen. Ob Ihre Situation als «dringend» gilt, entscheidet jeweils der Beamte am Zoll. Dasselbe gilt bei einer Einreise nach Italien oder Frankreich. An der Grenze zu Österreich müssen Sie ein maximal 4 Tage altes Arztzeugnis vorweisen, das Ihnen bescheinigt, nicht an Covid-19 erkrankt zu sein.

Corona-Lifehack: Seife ist das bessere Desinfektionsmittel

Haben Ihre Mitbewohner im Quartier alle Desinfektionsmittel weggehamstert? Machen Sie sich nichts draus: Auch Seife wirkt gegen Viren sehr effektiv:

Denn ein Virus besteht aus Material in einer Hülle aus Protein und Fett. Mit dem Virus verhält es sich wie beim Geschirrspülen: Allein mit Wasser kriegt man eine Bratpfanne nicht sauber. Erst mit Seife lässt sich das Fett lösen. Auch die fettige Virushülle stösst Wasser ab. Fügt man aber Seife hinzu, so löst sich das Fett im Wasser auf – und das Virus zerfällt. Aber wie mit dem Öl in der Bratpfanne dauert es auch beim Virus eine Weile, bis sich das Fett löst: Waschen Sie Ihre Hände also während 20 Sekunden oder länger.

Desinfektionsmittel funktioniert ähnlich wie Seife. Der Alkohol löst die Fettschicht von Viren auf. Deshalb muss das Mittel zu mindestens 60 Prozent aus Alkohol bestehen. Sind Ihre Hände aber dreckig, kann das die Wirkung des Desinfektionsmittels beeinträchtigen. Wann immer möglich: Nehmen Sie lieber Wasser und Seife, 20 Sekunden lang.

Damit geht die erste Woche Covid-19-Uhr-Newsletter zu Ende. Uns hat es gutgetan, diese Mails zu machen. Wir hoffen, Ihnen hat es gutgetan, sie zu lesen. Wir sehen uns am Montag. Kommen Sie gut durchs Wochenende.

Bleiben Sie umsichtig, bleiben Sie freundlich, bleiben Sie gesund.

Ronja Beck, Oliver Fuchs, Marie-José Kolly, Daniel Ryser, Andrea Arežina und Elia Blülle

PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.

PPS: Wir würden uns freuen, wenn Sie diesen Newsletter mit Freundinnen und Bekannten teilten. Er ist ein kostenloses Angebot der Republik.

PPPS: Etwas auf die Ohren? Diese Woche hat die Republik-Community gemeinsam mit der Redaktion auf Spotify eine «Quarantäne-Playlist für karge Tage» zusammengestellt.

PPPPS: The Kids Are Alright, so nannten wir den Newsletter von gestern. Jetzt sind wir nicht mehr so sicher. Die Polizei im US-Städtchen Purcellville ermittelt gegen mehrere Jugendliche. Sie sollen im Lebensmittelladen absichtlich auf Gemüse gehustet – und sich dabei gefilmt haben.

PPPPPS: Auch in Spanien wird gegen Quarantäne-Sünder ermittelt. Ein Mann aus Murcia lief aus Protest gegen die Ausgangssperre als Tyrannosaurus Rex verkleidet durch die Strassen; ein anderer wurde in Palencia festgenommen, weil er mit einem Stoffhund an der Leine spazieren ging. Im Gegensatz zu Joggen und Spaziergängen ist Gassigehen noch erlaubt.

PPPPPPS: Das brachte einige Spanier auf eine Geschäftsidee: Sie vermieten ihre Hunde jetzt im Internet.

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