Am Gericht

Unsichtbar – und mittendrin

Jennifer Boese ist Gerichts­schreiberin. Wir begleiten sie an einen Strafprozess. Es geht um versuchte Vergewaltigung – und um ein Opfer, das den Täter nicht bestrafen will.

Von Daria Wild, 26.02.2020

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Eine gusseiserne Büste der Justitia prangt an der Wand des Gerichts­saals Nummer 134 im Zürcher Bezirks­gericht, direkt über dem Sitz des Richters. Mit verbundenen Augen wacht die Göttin der Gerechtigkeit über die Verhandlungen, unübersehbar für Besucher und Prozess­parteien. An diesem Mittwoch­morgen steht ein Mann vor der Anklage­bank, den Kopf gesenkt, die Hände gefaltet. Ihm gilt die Aufmerksamkeit, auch wenn den Besuchern sein Gesicht weitgehend verborgen bleibt.

Unter der Justitia sitzen jedoch nicht nur die Richterinnen, sondern auch die Gerichts­schreiber. Sie werden kaum beachtet, doch sie sind bei jeder Verhandlung mit dabei. Manchmal sitzen sie den Richtern zur Seite, meist aber eine Stufe tiefer unten. Hinter grossen Bild­schirmen versteckt, führen sie konzentriert das Protokoll und überblicken wachsam den Saal. Im Gerichts­saal äussern sie sich kaum, doch ihre Mitarbeit im Hintergrund sollte nicht unterschätzt werden.

Ort: Bezirksgericht Zürich
Zeit: 19. Februar 2020, 8.15 Uhr
Fall-Nr.: DG190295
Thema: Versuchte Vergewaltigung etc.

Jennifer Boeses Tag beginnt früh, es dämmert noch, als sie in ihrem Büro im Zürcher Bezirks­gericht auf einem Stehpult Akten sortiert. Die Juristin beschäftigt sich seit eineinhalb Wochen intensiv mit dem Fall, der an diesem Morgen verhandelt wird; ein spezieller Fall, einer, der dem Gericht bereits vor der Verhandlung Kopf­zerbrechen bereitet habe. Sie sei froh, dass es jetzt losgehe, sagt Boese. Sie trägt einen schwarzen Anzug, den sie in einem Büro­schrank gelagert hat: «Das machen wir auf meiner Abteilung so.» Boese legt die Akten in eine offene A4-Karton­kiste, darauf Stifte, Papier, eine Wasserflasche.

Mit langen Schritten erreicht sie den nur ein halbes Stock­werk weiter unten gelegenen Gerichts­saal, setzt sich hinter den hölzernen Tisch, an dem bereits die Auditorin wartet, auf den beiden synchronisierten Bild­schirmen das vorbereitete Verhandlungs­protokoll. Es sind noch wenige Minuten bis zur Verhandlung. Nach und nach betreten Vorsitzender, Referent, Co-Referentin den holzgetäferten Saal, in den Händen Kaffee­becher. Dann werden die Türen nochmals geschlossen und kurze Zeit später für Parteien und Besucherinnen wieder geöffnet. Es scheint, als hätten sich die Auditorin und die Gerichts­schreiberin Boese ab diesem Zeitpunkt Unsichtbarkeits­mäntel umgelegt. Diskret verschwinden sie im Gerichts­saal zwischen Richter­stuhl und Anklage­bank. Ihre Arbeit bleibt unsichtbar – zumindest während der Verhandlung.

Ein dynamisches Gefüge

Bei einem Gespräch einen Tag vor dem Straf­prozess im Büro der Medien­sprecherin bringt Boese das Bild der unscheinbaren Gerichts­schreiber rasch ins Wanken. Mit juristischer Präzision und ruhiger Begeisterung breitet sie die Aufgaben aus, die ihnen zufallen. Spricht davon, wie sie Schnitt­stelle, Verbindungs­glied, Ansprech­personen seien – für die Richterin ebenso wie für die Parteien oder die Anwälte. Sie beschreibt «das dynamische Richter-Gerichts­schreiber-Gefüge», den Dialog, der sich in den Beratungen der Fälle zwischen ihnen entspanne.

Gerichtsschreiberinnen beschäftigen sich intensiv mit den Fällen, bereiten die Verhandlungen vor, schreiben die Urteils­anträge und bilden die Auditoren aus. Viele sind wie Jennifer Boese Ende zwanzig, Anfang dreissig, haben das Jus-Studium hinter und die Anwalts­prüfung vor sich. Gerichts­schreiber sei eigentlich ein veralteter Begriff, stellt Boese klar. «Er kommt wohl davon, dass wir für die Verhandlungs­protokolle verantwortlich sind. Aber prozentual gesehen ist das nur ein kleiner Teil meiner Arbeit.»

Den Fall, der am nächsten Tag bevorsteht, hat Boese mit dem Referenten besprochen und gestützt darauf einen Antrag im Stil eines schriftlich begründeten Urteils verfasst: zur Vorbereitung der Haupt­verhandlung und der Urteils­beratung. Darin steckt viel Recherche­arbeit. Boese hat den Sachverhalt mit ähnlichen Fällen verglichen, die Anwendbarkeit der Gesetze überprüft. Nach einer Kontrolle durch den Referenten wurde der Antrag an die anderen Richter verschickt, während Boese das Urteils­dispositiv für die Urteils­eröffnung vorbereitete. Die Fragen, die der Vorsitzende dem Beschuldigten an der Haupt­verhandlung stellen will, gingen über ihren Tisch.

Der Abstand zum Beschuldigten ist klein

Bis zum Prozess, sagt die Gerichts­schreiberin, falle es ihr noch leichter, einen Fall abstrakt zu behandeln, Distanz zu wahren: zu den Schicksalen, die über ihren Schreib­tisch gehen. Aber dann ist Verhandlungs­zeit. Und die Namen auf den Anträgen und Anklage­schriften gehören zu den Menschen, die dastehen, mit gesenktem Kopf und gefalteten Händen, wie der junge Mann von heute. Manchmal sei das schon belastend, sagt Boese. Beschuldigte müssten viel offenlegen, manche würden während der Verhandlung emotional. Stünden Straftäter vor der Anklage­bank, die sich wegen Schwer­verbrechen verantworten müssen, sei der Abstand zum Pult, hinter dem sie sitze, dann doch ein bisschen klein.

Gerichtsschreiberin Boese und der Beschuldigte haben nichts gemeinsam – ausser den Jahrgang, 1991. Das habe sie schon recht überrumpelt, als sie den Fall gesichtet habe, erzählt Boese später. Ein Mann, genau gleich alt wie sie, bereits vier Kinder und ein schwer­wiegendes Straf­verfahren am Hals. «Das lässt mich nicht kalt.» Es ist ohnehin ein spezieller Fall.

Der Mann ist der versuchten Vergewaltigung und der versuchten Schändung angeklagt. Laut Anklage­schrift wollte er im September 2018 trotz heftiger Gegenwehr seiner Frau und mit Absicht gegen ihren Willen vaginal in sie eindringen und liess erst von ihr ab, als das acht Monate alte Baby zu schreien begann. Die Nachbarin hatte in der Zwischenzeit die Polizei gerufen. Gemäss dem zweiten Anklage­punkt soll er sich im Januar 2017 auf dem Sofa hinter seine Schwieger­mutter gelegt, sie zwischen den Beinen und an den Brüsten gestreichelt und seinen Penis an ihrem Hintern gerieben haben, während sie sich schlafend stellte. Das ist als Schändung angeklagt.

Auf die Einsicht folgt die Versöhnung

In der Untersuchungs­haft erkannte der Mann, dass er zur Tatzeit in eine Depression und eine schwere Alkohol­sucht gerutscht war. Er realisierte, dass er, hatte er getrunken, zu einem streit­süchtigen, gewalt­tätigen Menschen wurde, zu einer ganz anderen Person, wie er vor Gericht mehrmals beteuert. Zum Zeitpunkt der versuchten Vergewaltigung hatte er gemäss Gutachten mindestens 2,75 Promille intus. Er gab zwar an, keine Erinnerung mehr zu haben, auf die Polizisten konnte er aber adäquat reagieren. Kurze Zeit zuvor war er bereits mit ähnlich viel Promille angehalten worden, er hatte noch eine längere Strecke mit dem Auto hinter sich gebracht. Eine enorme Alkohol­gewöhnung also.

Nach der Einsicht kam die Arbeit – und die Versöhnung. Der Mann hörte auf, Alkohol zu trinken. Er liess sich die Haare wachsen, um Haarproben abgeben zu können, fand wieder einen Job, dem er seit einem Jahr gewissenhaft nachgeht – und er besucht regelmässig eine Abstinenz­therapie. Seine Frau, die sich bei diesem Offizial­delikt zunächst noch als Privat­klägerin am Verfahren beteiligen wollte, verzieh ihm, gab eine Desinteresse-Erklärung ab und bat während der Straf­untersuchung darum, ihn nicht zu bestrafen. Die beiden zogen wieder zusammen, die Frau wurde ein viertes Mal schwanger, das Baby ist jetzt drei Monate alt.

An diesem Mittwochmorgen sitzt sie, die Geschädigte, auf der Besucher­bank, direkt hinter ihrem Mann; zu seiner Unterstützung, wie sie sagt. Und doch: Sie hatte dereinst gegen ihn ausgesagt.

Volle Härte oder Verständnis?

Der Gerichtsvorsitzende Roland Heimann nimmt sich Zeit für die Einvernahme, hakt nach, Kindheit, Ehe, Arbeit, Hobbys. Was er von der Aussage halte, ein Süchtiger sei für immer süchtig. Der Beschuldigte zeigt sich einsichtig, reuig, emotional. Unverkennbar belastet ihn das Verfahren, die Erinnerung an die Untersuchungs­haft bedrückt ihn. Die versuchte Vergewaltigung anerkennt er. Er glaube den Aussagen seiner Frau. Sein Verteidiger plädiert deshalb nicht auf einen vollumfänglichen Freispruch. Der Staats­anwalt fordert eine Freiheits­strafe von 20 Monaten bedingt und 10 Jahre Landesverweis.

Die versuchte Vergewaltigung ist also unumstritten. Doch dieser Fall zeigt, wie viel an einem Straf­prozess dennoch verhandelt werden muss. War er schuld­unfähig oder vermindert schuldfähig? Ist die Anerkennung einer Tat ein Geständnis? Ist er rückfallgefährdet? Ist ein Härtefall gegeben? Muss hier, wie es der Staats­anwalt in seinem Plädoyer sagt, ein Zeichen gesetzt werden gegen häusliche Gewalt in Ehe und Partnerschaft?

Bereits beim Gespräch vor dem Prozess hatte Gerichts­schreiberin Jennifer Boese geäussert, hier liege die Schwierigkeit bei einem Fall wie diesem: Wie kann man dem Opfer gerecht werden, der Tat gerecht werden, aber auch den Läuterungs­weg des Täters anerkennen? Besonders dann, wenn das Opfer keine Bestrafung will?

Mitreden ist erlaubt, entscheiden nicht

Draussen hat die Nachmittags­sonne den Regen vertrieben, die Urteils­verkündung verspätet sich, durch die massiven Holztüren klingen gedämpft die Stimmen der Beratenden. Jennifer Boese wird später sagen, es sei eine Verhandlung ohne grosse Überraschungen gewesen. Das Gericht sei dem Antrag weitgehend gefolgt, sei sich grösstenteils einig gewesen. Gerichts­schreibern steht die Möglichkeit offen, bei der Beratung mitzureden, mitentscheiden dürfen sie jedoch nicht. Sie selber habe beispiels­weise, sagt Boese, darauf hingewiesen, dass der Wiedergutmachungsartikel, der hier zur Anwendung komme, kürzlich geändert worden sei. Es müsse aber dennoch die alte Fassung angewandt werden, die zum Tatzeitpunkt galt – weil es sich um das mildere Recht handle.

Mit zwanzig Minuten Verspätung wird das Urteil schliesslich verkündet. Der Mann wird der versuchten Vergewaltigung schuldig gesprochen und vom Vorwurf der Schändung freigesprochen. Von einer Bestrafung wird in Anwendung des Wiedergutmachungs­artikels (in der alten Fassung, die zur Tatzeit galt) abgesehen. Das Gericht legt dem Mann eine Reihe von Weisungen auf. Er muss die ambulante therapeutische Behandlung fortsetzen, die nächsten vier Jahre regelmässig Haar­proben abgeben, ein Abstinenz­programm sowie ein Lehr­programm zu gewalt­freier Partnerschaft absolvieren. Von einer Landes­verweisung wird abgesehen.

Er sei, schliesst der Gerichts­vorsitzende, in einer schwierigen Lebens­lage gewesen, habe sich aber davon befreit. Die Versöhnung sei echt, auch vonseiten der Frau, sie sei nicht unter Druck gestanden. Das Gericht habe nichts gegen eine härtere Gangart bei häuslicher Gewalt, so Heimann, hier läge aber kein öffentliches Interesse vor.

Dem Mann ist die Erleichterung anzusehen, er faltet die Hände, senkt den Kopf wieder, es sieht aus wie ein Gebet. Als er den Gerichts­saal verlässt, hat er tränen­gerötete Augen. Seine Frau ist der Urteils­verkündung ferngeblieben.

Es ist Nachmittag, vor dem Gerichts­saal lümmeln Schüler herum, sie besuchen die nächste Verhandlung, bei der Jennifer Boese auch mit dabei ist, eine Pause hat sie jetzt nicht. Gegen 19 Uhr meldet sie sich mit einer Nachricht aus dem Büro. Für ein Gespräch in Ruhe reicht die Zeit erst am kommenden Tag, nachdem Boese bereits die dritte Verhandlung in dieser Woche hinter sich hat. Diesmal eine Scheidung.

Illustration: Till Lauer

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