Die Geheimnisse der Hermes Ambassador

Schmales Werk, nachhaltige Wirkung: Die Bücher von Fleur Jaeggy verströmen eine düstere Faszination. In der Schweiz geboren, lebt die Autorin seit langem in Mailand. Ihre Wohnung ist eine Wunder­kammer der Erinnerungen.

Von Barbara Villiger Heilig, 16.01.2020

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Ein geheimnisvolles Wesen, das in sich ruht: Fleur Jaeggy als junge Frau. Privatarchiv

Auf der einen Seite des Raums, von der Tür aus links, thront zwischen Papier­stapeln die Hermes Ambassador. Auch wenn ich sie immer nur eingepackt gesehen habe: An dieser Schreib­maschine sind Bücher entstanden, deren Wirkung weit in die Welt hinausstrahlt.

Gegenüber, rechts der Tür, hängt das Bild, verdeckt von einem Tuch. Lange zögerte ich, bis ich darum bat, das Tuch heben zu dürfen. Zum Vorschein kam ein fein gezeichnetes, fast durchsichtiges Porträt der Autorin als junge Frau. Signiert hat es Pierre Klossowski.

Das Tuch, behauptet Fleur Jaeggy, schütze vor dem Sonnen­licht, das – selten genug – durch die Terrassen­tür ins Zimmer fällt. Eine nur halbwegs überzeugende Recht­fertigung. Ich stelle mir vor, wie die Schrift­stellerin am Schreibtisch sitzt, stundenlang, tagelang, und tippt. Will sie nicht eher verhindern, dass ihr jüngeres Ich sie dabei beobachtet?

Das Innenleben eines Hauses

Fleur Jaeggy ist ein geheimnis­volles Wesen. Alles um sie herum scheint nach innen gerichtet, angefangen bei der Wohnung im Zentrum von Mailand. Gegen die Strasse hin eine schmucklose, ja, abweisende Mauer mit massivem Holztor: Niemand würde den idyllischen Innenhof dahinter vermuten, von dem aus der Treppenhaus­schacht nach oben führt zur verwinkelten Wunder­kammer, in der die Autorin seit Jahrzehnten lebt.

Drinnen ein schmaler Korridor mit Bücher­gestellen, bis hoch hinauf an die Balken­decke lückenlos gefüllt. Alte, wertvolle Ausgaben, Klassiker, Raritäten – wer hat sie wann gelesen? Früher verkroch sich Tsanga in einem der Regale, die geliebte Katze. Als sie starb, hinterliess sie tiefe Trauer und viele Fotos, die sich überall verteilen, angepinnt an Wänden, verstreut auf Möbeln, zwischen anderen Fotos von anderen Leben.

Schreiben inmitten all der Bücher und Erinnerungen: Fleur Jaeggy an ihrer Schreibmaschine 1989 in Mailand. Ferdinando Scianna/Magnum Photos/Keystone

Die Wohnung ist nicht gross. Trotzdem fehlt mir die Orientierung. Küche, Bad, weitere Bücher­zimmer, in einem davon steht der zierliche Flügel … Meistens sitzen wir im Wohn- und Arbeits­zimmer, ich am kleinen Teetisch, Fleur auf der niedrigen Couch unter dem Porträt, die Hermes im Blickfeld, auf der sie ihre Texte schreibt, wie sie Klavier spielt: Tonleitern, Wort­ketten. Denn laut ihr geht es auch beim Schreiben darum, die Finger mechanisch in Bewegung zu halten. Und: eine ganz bestimmte Sonorität zu erzeugen. Warum dieses Wort, will ich wissen, weil ich eine adäquate Übersetzung suche. Wegen des Klangs, lautet die Antwort.

Am Ende des Gangs, im geräumigsten Zimmer, steht ein Computer mit grossem Bildschirm, auch der umgeben von wachsenden Bücher­stössen und sich türmenden Manuskripten. Das Studio des Ehemanns Roberto Calasso, selbst ein Autor und der Chef des prestige­trächtigen Mailänder Adelphi-Verlags. Calasso hat den Rest der Etage dazugemietet, eine Zimmer­flucht, die allerdings bloss einen Teil seiner unendlichen Bibliothek beherbergt: Hier die griechische Antike, hier die indische Mythologie, kommentiert er während der Führung durch die Gemächer. Kein Zweifel, dass er genau weiss, wo sich was befindet, und vor allem: was die Bücher beinhalten.

Als Verfasser kultur­historischer und kultur­kritischer Essays ist Calasso einer der herausragenden italienischen Intellektuellen. Wenn er die Gegenwart analysiert, dann immer vor dem Hintergrund der nahen und fernen Vergangenheit. Das Universal­wissen, das ihn durchströmt, findet gedruckten Niederschlag in seinem von Band zu Band sich weiter­entwickelnden Werk. Er liest, denkt nach, schreibt; hält Vorträge, gibt Interviews, reist an Konferenzen. Und er leitet, was kein Nebenjob ist, seinen Verlag. Roberto Calasso ist immer in Bewegung.

Fleur Jaeggy verkörpert das komplementäre Gegenteil. Sie scheint in sich zu ruhen. Alles verdichtet sich in ihren schmalen Büchern zum Konzentrat. Gegenwart und Vergangenheit fallen ineinander. Die Schrift­stellerin absorbiert, was sie wahrnimmt und empfindet, um es irgendwann in eigene Geschichten zu verwandeln. Literarische Echos, ob Zufall oder Absicht, verfangen sich darin. «Die seligen Jahre der Züchtigung» (1989), der Roman von Jaeggys Durchbruch, spielt in einem Appenzeller Internat und ist durchzogen von jener unheimlichen Stimmung aus aggressiver Angstlust und fieberhafter Erotik, wie sie auch «Jakob von Gunten» nicht fremd ist. Robert Walser – ein Seelenverwandter.

Als die Vergangenheit noch Zukunft war

Dieses Jahr wird Fleur Jaeggy achtzig. Trotz weisser Haare hat sie sich ihre mädchen­hafte Anmutung bewahrt. Und eine jugendlich kraftvolle Stimme. Aber etwas ist neu. Offenbar möchte sie gewisse Dinge jetzt ordnen. «Vista la mia età», beginnt sie das Gespräch, «in Anbetracht meines Alters …»

Was meint sie damit?

Bei einem Abendessen in Zürich vor dreissig Jahren trafen wir uns erstmals. Zur Tisch­runde zählten auch Klaus Wagenbach und seine damalige Frau. Fleur Jaeggy und Roberto Calasso rauchten filterlose Zigaretten. Sie wirkten wie ein Glamour-Paar aus dem Kino: gesellschaftlich versiert, konversations­sicher, geistreich. Was geredet wurde, weiss ich nicht mehr. Nur, dass Fleur einen Eindruck von hoheitsvoll-unnahbarer Nonchalance hinterliess. Über der Erinnerung liegt ein Glanz von Lebhaftigkeit.

Eine weitere Begegnung, Jahre später, fand im Hotel Tiefenau statt. Wieder Zürich, diesmal Hottingen, am Nachmittag vor einer Lesung. Keine tiefschürfenden Gesprächs­themen: dies und jenes, insbesondere die passende Garderobe. Nichts liess mich vermuten, dass Fleur Jaeggy in der unmittelbaren Nachbarschaft einen Teil ihrer Kindheit verbracht hatte. Denn über ihre eigene Biografie schwieg sie sich standhaft aus.

«Proleterka» (2001), jenes Buch, aus dem sie abends bei der Veranstaltung las, beginnt mit dem Zürcher Sechse­läuten. Das Coverfoto – ein Mann mit Dreispitz, ein Mädchen in Tracht – zeigt nicht irgendwen, sondern den Vater der Autorin und sie selbst. Bloss erkannte ich sie nicht. Ihre Reserviertheit in Bezug auf Privates wirkte wie ein Sehverbot.

Schöne Erinnerungen ans Sechseläuten: Fleur Jaeggy (Mitte) mit ihrem Vater. Privatarchiv

Ich weiss noch, dass die Veranstalter anschliessend zum Essen in den «Vorderen Sternen» einluden. Statt in die «Kronenhalle»! Damit schien sich Fleur nicht abzufinden. Lustlos stocherte sie in ihrer Rösti herum, wie ein Kind, dem man die Erfüllung des innigsten Wunschs verweigerte. Dabei war sie von Fans umringt, unter ihnen namhafte Schweizer Autorinnen. Ein erfolgreicher Anlass, der für die gefeierte Protagonistin offensichtlich in einem Misston endete. Mich wunderte und befremdete das sogar.

Allerdings ahnte ich nicht, dass ihre Enttäuschung etwas ganz anderem galt als der mittel­mässigen Rösti. Dass die «Kronenhalle», auf die sie verzichten musste, zur Suche nach einer verlorenen Zeit gehört hätte. Jener Zeit, als die Tochter von Paul Jaeggy an dessen Seite den Sechseläuten­umzug absolvierte. Ob sie mit ihm, der als Zürcher Anwalt einen bürgerlichen Lebensstil pflegte, auch in der «Kronenhalle» sass? Oder war das später, zusammen mit Calasso, der sich dort vielleicht mit Elias Canetti verabredete?

Noch ein Treffen. In Ascona war Fleur Jaeggy Gast bei den «Eventi letterari», dem Literatur­festival auf dem Monte Verità. Sie logierte im Hotel Eden Roc: atemraubende Seesicht, erstklassige Hotellerie, Luxus pur. Als ich sie eines Vormittags abholte, überraschte ich sie in ihrem Zimmer an einem Frühstücks­tisch, der dem Schlaraffen­land ähnelte. Croissants, Toast, exotische Frucht­säfte, frischer Obstsalat, Bircher­müesli, Kaffee in der Silber­kanne – und davor, hilflos, sie. Wo anfangen?

Oft dachte ich an diese surreale Inszenierung zurück. Erst jetzt geht mir der Zusammen­hang auf. Seit ich weiss, dass Fleur Jaeggy, kaum volljährig, die Modewelt frequentierte und während dieser Phase ausschliesslich in Grand­hotels verkehrte. Also wieder ein Versuch, Vergangenes zu vergegenwärtigen? Den Moment, als die Zukunft noch vor ihr lag wie das lockende Versprechen eines überreich gedeckten Tischs …

Gewalt und Schrecken

Die Frage, die sich mir immer drängender stellt, betrifft das Verhältnis von Literatur und Leben. Den alchemistischen Prozess, der Leben oder Erleben in Literatur transformiert. Bei jeder Autorin, bei jedem Autor nimmt er einen individuellen Verlauf. Im Fall von Fleur Jaeggy blieben die Domänen stets strikt getrennt. Das Leben: privat. Die Literatur: öffentlich.

Zwar hat sich diese Abgrenzung in letzter Zeit etwas gelockert. Der 2014 erschienene Sammel­band «Sono il fratello di XX» (er wurde seltsamer­weise nie auf Deutsch übersetzt) enthält verschiedene Ich-Texte, die klar in der Realität verankert sind: Reminiszenzen an Joseph Brodsky, Oliver Sacks, Ingeborg Bachmann, mit denen sie befreundet war.

Aber abgesehen davon: Inwiefern ist Jaeggys Schreiben – ihre kurzen Romane, ihre Erzählungen – autobiografisch? Als Kulissen, Statisten, Requisiten tauchen darin Orte, Personen, Gegenstände auf, die durchaus eine Rolle spielen in der Biografie der Autorin: Je mehr ich davon erfahre, desto deutlicher fällt mir das auf. Trotzdem ist Vorsicht geboten. Der Schrecken, die Gefühls­kälte, das stille Grauen, die subtile Gewalt: Sie prägen ihr Werk, passen aber so gar nicht zu dem Ton, in dem sie – nun plötzlich doch – von Kindheit und Jugend erzählt.

Dabei liegt die Wucht ihrer Literatur exakt da. Ohne Wimpern­zucken sondiert Jaeggy die Abgründe des Gemüts. Pünktlich zieht sie damit ihre Leserschaft in den Bann. Der jüngste Beweis liegt auf dem Teetisch in Mailand – eine Graphic Review. In Comic-Form schildert der US-amerikanische Zeichner Nathan Gelgud seine Lektüre der «Seligen Jahre». Vor schwarzem Hinter­grund das weisse Buch, zwischen den aufgeklappten Seiten ein Messer: «It was like discovering a murder weapon.»

Nur keine Psychologie!

Woher die Mordwaffe kommt, darüber lässt sich spekulieren. Es ist leicht, Fleur Jaeggys Jugend­jahre als Erklärung beizuziehen (wobei die Autorin selbst sich psychologische Begründungen verbietet). Ein Scheidungs­kind, aufgewachsen bei der Tessiner Grossmutter und in wechselnden Internaten: Lugano, Teufen, Lindau, Zug, das noble Römer Institut Villa Pacis. Ferien mit dem Vater in der Schweiz. Aufenthalte bei der Mutter in Rom.

Gehobene Verhältnisse. Keine materiellen Sorgen. Dafür: Trennungen, Ortlosigkeit. Die seelische Verfassung münzt Fleur Jaeggy um in ihre schwindel­erregende Prosa (und eine persönliche Poetik):

Kinder hören auf, sich für ihre Eltern zu interessieren, wenn sie verlassen werden. Sie sind nicht sentimental. Sie sind leiden­schaftlich und kalt. In gewisser Weise lassen manche ihre Empfindungen, ihre Gefühle fallen, als wären es Gegenstände. Mit Entschlossenheit, ohne Trauer. Sie werden Fremde. Manchmal Feinde. (…) Die Eltern sind nicht notwendig. Wenig ist notwendig. Manche Kinder regieren sich selbst. Das Herz, ein unverderblicher Kristall. Sie lernen vorzutäuschen. Und die Fiktion wird der aktivste, realste Teil, verführerisch wie Träume. Sie tritt an die Stelle dessen, was wir für wahr halten. Vielleicht ist es nur das, manche Kinder besitzen die Gnade der Loslösung.

Aus: «Proleterka» (Übersetzung: Barbara Schaden/Berlin Verlag).

Der Schock dieser Prosa – mitleidlose Messer­schärfe, komplette Abwesenheit von Larmoyanz – erklärt sich kaum aus dem Leiden an den familiären Umständen. Er setzt Kraft voraus. Resilienz. Den Triumph, solchen Zumutungen gewachsen zu sein. Den Stolz, daraus Gewinn gezogen zu haben: einen seismo­grafischen siebten Sinn für Mikro­emotionen. Und die Begabung, ihn zu verbalisieren. Wenn Fleur Jaeggy schreibt, verfügt sie souverän über ihre Instrumente, die Mordwaffen.

Und während ihre Bücher durch affektive Distanziertheit bestechen, hält die Autorin heute, in Anbetracht ihres Alters – wie sie zu sagen pflegt –, Rück­schau auf das, was ihrem Dasein Halt gab. Für die Abgründe ist die Literatur zuständig. Doch um hinunter­zublicken, ohne selbst in den Abgrund zu fallen, ist ein Geländer nötig. Sicherheit, Selbstsicherheit.

Fleur Jaeggy ist eine starke Persönlichkeit.

Es war einmal

Fotoalben, Schriftstücke, Gegenstände. Ihnen entlang begleite ich Fleur Jaeggy auf den Erinnerungs­exkursionen. Dorthin, wo sie noch gar nicht als Schrift­stellerin in Erscheinung tritt. Wo sich aber, im Nachhinein, Motive aus den Vexier­bildern finden, die ihre Bücher darstellen: der kleine Bruder, Freundinnen aus dem Internat, ein Velo, Marke Condor, der Flügel, das Ortsschild von Teufen im Appenzell … Und immer wieder Aufnahmen von Fleur, als Kind beim Skifahren, als blonder Teenager mit einem Verehrer. Jetzt fügen sich solche Motive, ergänzt durch andere und eingebettet in einen Zusammen­hang, zu einer neuen Geschichte. Zum Roman eines Lebens. Lückenlos ist er nicht. Aber was für ein Leben!

Ein paar Stichworte daraus:

Pierre Klossowski. Auf dem Foto an der Pinnwand sitzt der Künstler neben der blutjungen Fleur; eine Haar­spange befreit die hohe Stirne von der dicht herabfallenden Mähne. Beide lächeln. Lustig sei er gewesen, nicht wie sein Bruder, der sich Balthus nannte und sich einen Adels­titel andichtete (sie verzieht spöttisch das Gesicht). «Wo wurde das Foto gemacht?» – «Vielleicht in der Normandie …» – Ausser dem Porträt gibt es in der Wunder­kammer zwei weitere Kunst­werke von Klossowski, ohne Vorhang, trotz der kruden Sujets: übermächtige Frauen­figuren. Nacktheit.

Muralto. Dort, am Lago Maggiore, stand die gross­elterliche Villa. Ihr Verkauf war, aufgrund des paradiesischen Gartens, dem Lokalblatt einen Artikel wert – er hängt, mit Klebe­band fixiert, an der Wand. Die Kindheit verbrachte Fleur grösstenteils bei der Grossmutter. Fahrrad­ausflüge zum Monte Verità hinauf. Wilde Spiele mit den Kameraden. Zu wild, fand die Grossmutter und schickte die Enkelin nach Lugano ins Internat. Bei den Nonnen sei es «fürchterlich» gewesen, im Unterschied zu den späteren Internaten. Die Hoch­achtung hat sich die Grossmutter dadurch nicht verspielt. Auf einem Foto mit Gelbstich legt ihr Fleur zärtlich den Arm um die Schulter.

Die Mutter. Sie stammte aus dem Tessin. Eine extravagante, selbstbestimmte Frau. Der kleine Hut, die lässige Geste, mit der sie sich ihre Zigarette anzündet: Ein Schnapp­schuss fängt den Charakter ein. Nach der Trennung vom ersten Mann heiratete sie einen Diplomaten, dem sie nach Südamerika folgte. Den festen Wohnsitz in Rom gab man nicht auf. Fleurs einige Jahre jüngerer Halb­bruder gehörte zur zweiten Familie. Eine Aufnahme aus der Römer Zeit zeigt zudem jenen Jüngling, der nach Zürich fuhr und beim Vater um Fleurs Hand anhielt. Eine exzellente Partie, doch die Verlobte entschwand – nach Mailand und bald in entferntere Sphären.

L’école de ménage. Das letzte Internat befand sich in Zug: eine Haushalts­schule. Fleur Jaeggy benützt die französische Bezeichnung (wahrscheinlich, weil die Eltern mit ihr Französisch sprachen). Vor den Lektionen drückte sie sich. Oder wie sie es formuliert: «Ich habe nie etwas Schwieriges gemacht.» Hingegen nahm sie, «aus Jux», an einem Wettbewerb der italienischen Zeitschrift «Grazia» teil und wurde prompt nach Mailand eingeladen. Darauf bereiste sie als indossatrice – heute würde man Model sagen – die Mode­hauptstädte in Europa und den USA. «Wir waren sehr verwöhnt. Die besten Hotels, die besten Restaurants.»

«Dr. Paul C. Jaeggy, Rechtsanwalt». Eine Visiten­karte aus der Mappe mit den Dokumenten des Vaters. Seine Kanzlei lag vis-à-vis dem Zürcher Haupt­bahnhof am Anfang der Bahnhof­strasse. (Unternahm man von dort aus die oft erwähnten Besuche bei Sprüngli?) Aufgewachsen war der Vater im aargauischen Rothrist als Sohn eines Textil­fabrikanten. Ein dicker, bebilderter Band gibt Auskunft über die Lokal­geschichte. Das Familien­wappen. Das herrschaftliche Haus. Fleur Jaeggy ist nie dort gewesen. Doch ihr Interesse für den Familien­hintergrund bezeugt die enge väterliche Bindung, die sich ausserdem in der spontanen Freude beim Hören des Sechseläuten­marsches ausdrückt.

Paris. Wo hat sie eigentlich zu schreiben begonnen? Unklare Auskunft, «vielleicht in Paris», dann korrigiert sie sich: Dort habe sie vor allem gezeichnet. Warum überhaupt Paris? «Alle waren dort», und: «Ich wollte die Billard­schule besuchen.» Sie erzählt von einem Café bei Les Halles, das unterdessen verschwunden sei. Der Patronne brauchte sie den Kaffee nicht zu bezahlen. Damals war das Geld knapp: «Non avevo un soldo!»

Spitzweg. Ein kleines Ölgemälde, goldgerahmt. Vor dem rotbraunen Hinter­grund hebt sich die Wasser­pfeife nur durch den Glanz­effekt ab, so transparent ist das Glas. Unten die Signatur des Malers. Handelt es sich um eine Detail­studie zu den «Zwei Türken im Kaffeehaus», die ich im Internet entdecke? Das Bild hing seit je bei Fleur Jaeggys Vater. Jetzt hängt es neben ihrem Lieblings­platz, der Couch, wo man es fast übersieht. «Vergiss nicht, den Spitzweg zu erwähnen», ruft sie mir beim Abschied hinterher.

Und auf Deutsch …?

In rund dreissig Sprachen sind Fleur Jaeggys Bücher übersetzt: Von Armenien bis Spanien, von Island bis China, von den USA bis Taiwan, von Kroatien bis Russland, von Schweden bis Griechenland, von Polen bis Ägypten betören sie ihr Publikum. Die Leserschaft nimmt laufend zu, wie Neuübersetzungen und Wieder­auflagen beweisen.

Nur auf Deutsch sind alle diese Bücher vergriffen. Wer sie lesen möchte, muss sich mit Bibliotheks­exemplaren begnügen. Auch in der Deutsch­schweiz, wo die Schrift­stellerin anno 1940 zur Welt kam, als – so steht es im Schweizer Pass – Fleur Anne Marie Claude Jaeggy.

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