Am Gericht

Eine Lektion in Wahrheitssuche

Die Viehhändler streichen Millionen an Subventionen ein. Und manche tricksen auch noch auf den Viehmärkten. Diese Vorwürfe durfte die Konsumenten­sendung «Kassensturz» erheben, meint die Unabhängige Beschwerde­instanz für Radio und Fernsehen – obwohl unklar ist, ob die Aussagen stimmen.

Von Dominique Strebel, 18.12.2019

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Schweizerinnen und Schweizer können Falschmeldungen unkontrolliert publizieren, wenn sie dabei keine Persönlichkeits­rechte verletzen oder in den Wettbewerb zwischen Konkurrenten eingreifen. Nur Journalisten unterstehen einer weitergehenden Kontrolle. Sie sind der Wahrheit verpflichtet. Der Presserat rügt Journalistinnen, wenn sie das Wahrheits­gebot des Journalisten­kodex verletzen. Und die Unabhängige Beschwerde­instanz für Radio und Fernsehen (UBI), eine Art Journalisten­gericht, beurteilt auf Beschwerde hin, ob eine Radio- oder TV-Sendung «sachgerecht» war.

«Wahrheit» prüfen die UBI-Richter und der Presserat nur indirekt, denn oft ist nicht klar, was wirklich wahr ist. Kontrollieren lässt sich aber immerhin, ob sich eine Journalistin nach bestem Wissen und Gewissen darum bemüht hat, möglichst wahre Information herzustellen und die Zuschauerinnen nicht zu manipulieren. «Wahrheit» wird so zur «Due-Diligence-Prüfung». Wie im Fall der «Kassensturz»-Sendung mit dem Titel «Die Tricks der Viehhändler».

Ort: Journalistenschule MAZ, Luzern
Zeit: 8. November 2019, 10.30 Uhr
Fall-Nr.: UBIE b.823
Thema: Staatliche Wahrheitskontrolle

Es geht um Vieh. Um Kühe genauer und um Viehhändler. An einem Freitagvormittag Anfang November 2019 warten die Redaktions­leiterin des Konsumenten­magazins «Kassensturz», drei Vertreter des Viehhändler­verbands und ihre Rechtsbeistände vor einer grauen Schultür.

Durch diese Tür schreiten normalerweise Kommunikations­fachleute und Journalistinnen, die hier an der Schweizer Journalisten­schule MAZ ausgebildet werden. Heute tagt an diesem Ort ausnahmsweise ein «Journalisten­gericht» – die unabhängige Beschwerde­instanz für Radio und Fernsehen, kurz UBI. Sie versammelt sich einmal im Jahr an einem anderen Ort als an ihrem Sitz in Bern. Eigentlich wäre das Bundesgericht in Lausanne vorgesehen gewesen, aber wegen Bau­verzögerungen musste die UBI kurzfristig ausweichen – eben nach Luzern.

«Kuhhandel auf Kosten der Bauern: Die Tricks mancher Viehhändler»: Die «Kassensturz»-Sendung vom 28. Mai 2019 provoziert schon im Titel. Das Konsumenten­magazin rechnet vor, dass Viehhändler gemäss Bundesamt für Landwirtschaft jährlich zehn bis zwölf Millionen Franken Subventionen kassierten. Einzig dafür, dass sie an Viehmärkten alle Tiere zu einem Mindestpreis kaufen müssen – auch bei schlechter Marktlage – und so den Bauern eine gewisse Abnahme- und Preisgarantie bieten.

Das sei eine falsche Rechnung, entgegnen zwei Viehhändler im Fernsehbeitrag. Von diesen Subventionen gäben sie viel an Bauern und Produzenten weiter. Doch der Vizedirektor des Bundesamts für Landwirtschaft (BLW) widerspricht: «Studien zeigen, dass nur ein kleiner Teil dieser Mittel effektiv zu den Produzenten zurückfliesst.» Und sagt später in der Sendung, dass man diese Subventionen abschaffen könne. «Das ist auch das, was der Bundesrat vorgeschlagen hat, im Rahmen der Vernehmlassung zur Agrarpolitik 22.»

Weiter erhebt der «Kassensturz» den Vorwurf, dass auf diesen Viehmärkten gar nicht wirklich gesteigert werde, sondern die Viehhändler sich untereinander absprächen, wer welche Kuh kauft. «Das ist eine abgekartete Sache: Diese Kuh kaufe ich, jene du», kritisiert ein Bauer vor laufender Kamera. Ein weiterer, anonym interviewter Bauer und ein Viehmarkt­besuch mit versteckter Kamera bestätigen diesen Eindruck. Der Geschäftsleiter des Schweizer Viehhändler­verbandes weist im Beitrag entschieden zurück, dass Absprachen getätigt würden.

Fünf Richterinnen und vier Richter sitzen im Zimmer der Journalisten­schule MAZ in Hufeisenform an einfachen Tischen. Alle sind sie Juristinnen, teilweise auch Journalisten, und alle vom Bundesrat dafür gewählt, Sendungen wie «Die Tricks mancher Viehhändler» zu beurteilen. Sie tun das pro Jahr an fünf bis sechs Tagen und fällen zwischen 20 und 35 Entscheide – immer in öffentlicher Beratung. So kann seit 2007 jedermann mitverfolgen, welcher UBI-Richter wie argumentiert.

Das ist äusserst selten in der Schweiz. Nur an ganz wenigen Gerichten wie etwa am Bundesgericht werden Urteile ebenfalls öffentlich beraten. Alle anderen Gerichte verhandeln zwar vor Publikum, hören also Zeugen, Experten und die Plädoyers von Staatsanwälten und Verteidigerinnen öffentlich an, ziehen sich dann aber für die geheime Urteils­beratung zurück.

Die Erfahrungen der UBI mit den öffentlichen Beratungen sind positiv: «Es gibt Beschwerde­führer, die vor der UBI unterliegen, aber uns trotzdem sagen, dass sie damit leben können, weil sie in der Beratung unsere Argumente gehört und auch unsere interne Diskussion miterlebt haben», sagt UBI-Präsidentin Mascha Santschi. Persönliche Angriffe wegen Einzelvoten seien ausgeblieben, obwohl einige UBI-Mitglieder dies befürchtet hätten. Nicht erfüllt habe sich hingegen die Hoffnung, dass die öffentliche Beratung viel Publikum anziehe. Die UBI-Präsidentin wertet aber allein schon die Tatsache als durchwegs positiv, dass jeder Bürger und jede Bürgerin jederzeit und ohne weiteres zuschauen und zuhören könnte.

Auch an jenem Freitag im November am MAZ sind neben Viehhändler, «Kassensturz» und den Rechtsvertretern nur gerade zwei Zuschauer vor Ort.

Die Viehhändler rügen in ihrer Beschwerde gleich drei Fehler: Erstens seien es nicht zwölf Millionen Franken Subventionen, sondern nur acht. Das zeige eine Berechnung des Fleischhandel­verbandes Proviande. Zweitens habe der Bundesrat in der Vernehmlassung zur Agrarpolitik 22 nicht beantragt, die Subventionen abzuschaffen. Und drittens stimme es nicht, dass die Viehhändler Preis­absprachen treffen. Bei den Versteigerungen spiele der Markt.

Der «Kassensturz» kontert: Die zwölf Millionen Subventionen beruhten auf offiziellen Zahlen des Bundesamts für Landwirtschaft (BLW). Die Zahlen von Proviande seien zum Zeitpunkt der Ausstrahlungen nicht vorgelegen (und auch nicht nachvollziehbar). Und es stimme zwar, dass der Bundesrat im Rahmen der Vernehmlassung zur Agrarpolitik 22 nicht direkt die Abschaffung dieser Subventionen beantragt habe, doch habe er seit 2004 verschiedentlich zum Ausdruck gebracht, dass er sie abschaffen wolle. Die Preis­absprachen der Viehhändler liessen sich zudem auf drei unterschiedliche Quellen stützen und würden auch durch die Versteigerung bestätigt, die mit versteckter Kamera gefilmt wurde.

Zwölf oder acht Millionen Franken? Antrag auf Abschaffung oder nicht? Preisabsprachen oder freier Markt? Fake News oder Wahrheit?

UBI-Vizepräsidentin Catherine Müller ergreift als Erste das Wort. Der «Kassensturz» stütze sich bei der Berechnung der Subventionen auf Angaben des Bundesamts für Landwirtschaft (BLW). Auf solche Zahlen dürfe sich das Konsumenten­magazin verlassen, sagt Müller. Es gebe ja keine verifizierten Zahlen – auch die Schätzungen von Proviande seien das nicht.

Die Aussage des BLW-Vizedirektors, dass der Bundesrat in der laufenden Vernehmlassung die Subventionen abschaffen wolle, ist gemäss Müller zwar falsch, aber eben nicht ganz: Der Bundesrat wolle diese Subventionen seit Jahren abschaffen – entgegen der Meinung von Parlament, Viehhändlern und Bauern. Der Fehler habe also den Gesamteindruck nicht verfälscht, so die Vizepräsidentin.

Und immerhin könne der «Kassensturz» den Vorwurf der Preis­absprachen auf drei unabhängige Quellen und die Aufnahmen mit versteckter Kamera stützen. Der Viehhändler­verband habe dazu und zu den weiteren Vorwürfen in der Sendung Stellung nehmen können. «Sachgerecht», meint Müller und beantragt, die Beschwerde abzuweisen. Zum Schluss fügt sie noch bei: «Dass ich fleischabstinent bin, hat auf meinen Entscheid keinen Einfluss.»

Nun äussern sich reihum alle Richterinnen und Richter. Maja Sieber, Juristin aus Zürich, gibt zu bedenken, dass die zwölf Millionen Franken Subventionen wohl nicht korrekt seien. Mehrkosten hätten noch abgezogen werden müssen. «Doch ab wann ist ein Fehler rechtlich relevant?», fragt sie in die Runde und gibt die Antwort gleich selbst: nur wenn die Information prägend ist für den Sende­schwerpunkt. Und das sei sie hier nicht: Die Beurteilung des Publikums wäre nicht anders ausgefallen, wenn nur von acht statt zwölf Millionen Subventionen die Rede gewesen wäre. Diese Zahlen hätten eine untergeordnete Informations­bedeutung.

Dem pflichten im Resultat alle Richter und Richterinnen bei. Sie weisen die Beschwerde mit neun zu null Stimmen ab.

Am kritischsten äussert sich Pierre Rieder, Leiter des UBI-Sekretariats und somit Beisitzer ohne Stimmrecht. Es sei in der Sendung zu wenig deutlich geworden, dass die Höhe der Subventionen umstritten ist, kritisiert er. Immerhin stelle der «Kassensturz» auf Schätzungen des Bundesamts ab, jene des Verbands seien jedoch zumindest teilweise ignoriert worden. Rieders Gesamteindruck: sachgerecht – trotz Mängeln.

Wahrheit im grossen Ganzen verträgt also eine (mögliche) Unwahrheit im Detail.

Die Vertreter des Viehhändler­verbands und die Leiterin des «Kassensturzes» verlassen das Schulzimmer. Um eine Lektion in journalistischer Wahrheits­suche reicher. Der Entscheid ist noch nicht rechtskräftig. Der Viehhändler­verband prüft, ob er ihn ans Bundesgericht weiterzieht.

Illustration: Till Lauer

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