Binswanger

Saving Private Cassis

Die FDP hat einen Bundesrat zu viel, die Grünen haben einen zu wenig. Retten die Liberalen ihren zweiten Sitz trotzdem? Scheitern könnte die Wahl von Regula Rytz ausgerechnet an der SP und der grünen Mitte.

Von Daniel Binswanger, 23.11.2019

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Höflich, zurückhaltend, mit beherrschten Umgangs­formen. Kurz: im Auftritt ausgesprochen bürgerlich. Wenn es eine Politikerin gibt in Bern, auf die diese Beschreibung zutrifft, dann ist es Regula Rytz (wobei Simonetta Sommaruga ebenfalls auf die vorderen Ränge käme). Sicherlich ist Stil in der Politik nicht alles. Aber wir Eidgenossen, die mit stilvoller Politik nicht unbedingt im Übermass traktiert werden, würden vermutlich gut daran tun, sie nicht vorauseilend gering zu schätzen. Worauf denn gründet eine Kollegial­regierung, wenn nicht auf dem Umgang, den man miteinander pflegt?

Robert Habeck, der Co-Vorsitzende der deutschen Grünen, der Integrative, Solide, der Superrealo, der gute Aussichten hat, die deutsche Mitte zu erobern und nächster Bundes­kanzler zu werden, propagiert die grüne «Bündnisfähigkeit» in Bezug auf alle demokratischen Parteien (nicht die AfD). Vor den Wahlen war er in Zürich. Für seine Schweizer Präsidentinnen-Kollegin hatte er nur Lob: Regula Rytz’ Stil des Politisierens sei stets auf offenen Dialog und realistischen Kompromiss bedacht. Wie der seine.

Habecks Einschätzung ist sicher nicht interessefrei, aber immer noch nüchterner als die verblüffende Hysterie, die nun durch den Schweizer Blätter­wald wogt – und die auch aus Ecken kommt, aus denen man sie nicht unbedingt erwartet hätte.

Die Sache mit der Konkordanz­fähigkeit

Dass die NZZ die Operation «Saving Private Cassis» lanciert und nicht zurückschreckt vor halsbrecherischen Begründungs­konstrukten, weshalb, wie Inlandchef Michael Schoenenberger schreibt, die Grünen keinesfalls die «Spielregeln der Konkordanz» eigenmächtig ändern dürfen, ist nicht überraschend – und irgendwie auch herzerwärmend. Nostalgisch veranlagten Gemütern kann es ja immer wieder mal geschehen, dass sie sich zurück­sehnen nach den Zeiten, als die NZZ wenigstens ein verlässliches Partei­blatt war. Erstaunlicher ist schon, dass auch der «Tages-Anzeiger» ermahnt, die Grünen müssten erst noch – und zwar jetzt, subito, im Eilverfahren – ihre «Konkordanz­fähigkeit» unter Beweis stellen. Es gehe schliesslich um die «Stabilität des Landes».

Sicherlich sind die Grünen eine linke Partei, in mancher Hinsicht sogar noch ein klein wenig linker als die SP. Warum um Gottes willen soll das aber ihre Konkordanz­fähigkeit in Zweifel stellen? Die Grünen sind in allen sachpolitischen Dossiers – Europa, Steuern, Renten und natürlich Klima – glasklar positioniert, in der Regel relativ nahe bei der SP.

Muss wirklich daran erinnert werden, dass die Bundes­versammlung der SVP eine Konkordanz­fähigkeit zugesteht, die sogar für zwei Sitze gut genug sein soll? Dass Ueli Maurer, der eiserne Partei­soldat und skrupellose Scharf­macher, der die SVP mit immer weiter gesteigerter Polarisierung und immer noch radikalerer Propaganda zu ihrer heutigen Grösse geführt hat, seit über zehn Jahren im Bundesrat einsitzt? «Kä Luscht»-Maurer ist nun schon zum zweiten Mal Bundes­präsident, aber die manierliche Frau Rytz soll ihre Konkordanz­fähigkeit erst noch belegen? Echt jetzt?

Natürlich gibt es auch substanzielle Gründe, die gegen die Wahl von Rytz sprechen. Die Anpassung von Regierungs­macht an den faktischen Wähler­anteil der verschiedenen Kräfte ist zwar das Hauptziel von parlamentarischen Regierungs­systemen, aber stets nur sehr partiell umsetzbar. Hierzulande kann man aber in Anspruch nehmen, dass die Verzerrung der realen Macht­verhältnisse durch die Schweizer Landes­regierung wesentlich weniger stark ist als in Ländern mit dem harten Dualismus von Regierung und Opposition.

Trump hat noch nicht einmal 50 Prozent der amerikanischen Wähler hinter sich – und dennoch kontrolliert er die Exekutiv­macht zu 100 Prozent. Auch die Wahl von Rytz und die Abwahl von Cassis würde zu einem Bundesrat führen, welcher der arithmetischen Konkordanz nur teilweise gerecht würde. Nur teilweise – aber immer noch besser als (fast) alle anderen Optionen.

Der FDP fehlen 13,5 Prozent

Arithmetisch betrachtet ist die Sache nicht kompliziert: 14,3 Prozent Stimmenanteil geben das Recht auf einen der sieben Bundesrats­sitze. Die Grünen mit ihren 13,2 Prozent und ihren 28 Nationalräten liegen ganz nahe bei diesem Anteil, es fehlen ihnen 1,1 Prozent. Ihr Anspruch ist unbestreitbar. Am massivsten steht dem Wähler­willen die FDP-Vertretung im Bundesrat entgegen: Um Anrecht auf zwei Sitze zu haben, müsste die FDP 28,6 Prozent der Stimmen auf sich vereinen. Sie kommt aber nur auf 15,1 Prozent. Es fehlen ihr 13,5 Prozent. Rein arithmetisch betrachtet wäre Regula Rytz im Bundesrat zwölfmal legitimer als Ignazio Cassis. Und das ist noch nicht einmal das Hauptargument.

Entscheidend ist der Untergang der rechts­bürgerlichen Mehrheit. Wichtiger als die Proportionen der Stimmen­anteile ist für die Legitimität der Landes­regierung die Abbildung der Mehrheits­verhältnisse. Gemeinsam mit der Lega und dem Mouvement citoyens genevois kontrollierten SVP und FDP im letzten Nationalrat 101 Sitze, also mehr als 50 Prozent. Heute sind es noch 83 Sitze, also gut 40 Prozent. Und dann sollen sie in der Regierung vier Vertreter haben, das heisst die Mehrheit und einen Anspruch auf 57,2 Prozent der Entscheidungs­macht? Das wäre eine krasse Miss­achtung des Volkswillens.

Wenn FDP und SVP drei Sitze bekämen, der rot-grüne Block ebenfalls drei Sitze und die CVP in der Mitte das Zünglein an der Waage spielen würde, wäre die Linke im Bundesrat zwar stark überrepräsentiert (sie hätte 42,9 Prozent der Regierungs­macht, kommt aber nur auf 30 Prozent Wähleranteil), aber die Verteilung der Kräfte wäre deutlich näher bei den Wählerinnen als mit einem Erhalt der rechten Mehrheit im Bundesrat.

Ein Risiko für die SP

Allerdings gäbe es auch noch eine andere Lösung des Problems – und sie könnte dazu führen, dass wir doch keine grüne Bundesrätin bekommen werden. Rein arithmetisch betrachtet wäre eine Zweier­vertretung des rot-grünen Blocks im Bundesrat – ein SP- und ein grüner Sitz – vollkommen in Ordnung. Da kann man der SVP nur recht geben. Solange die FDP mit zwei Sitzen so massiv übervertreten ist, wäre es zwar absurd, den immerhin um 10 Nationalräte stärkeren Sozial­demokraten einen Bundesrat wegzunehmen. Aber wenn Cassis jetzt abgewählt wird, ist es nur eine Frage der Zeit, bis auch der zweite SP-Sitz zur Disposition steht – es sei denn, die Genossen legen bei den nächsten Wahlen wieder substanziell zu. So verlockend es für sie wäre, einen dritten linken Sitz zu bekommen: Die SP wird sich gut überlegen, ob sie dieses Risiko eingehen will.

Auch in der politischen Mitte könnte sich Widerstand gegen die Rytz-Kandidatur regen. Zwar wäre es klar im Interesse der CVP, sich selber in die Position der Mehrheits­beschafferin zwischen einem linken und einem rechten Block zu bringen. Es bedeutete einen entscheidenden Macht­zuwachs und könnte die Christ­demokraten zu neuer Grösse führen. Trotz ihrer Mitte­positionierung versteht sich die CVP aber dezidiert als bürgerliche Partei und steht der FDP viel näher als den Grünen. Ob sie genügend strategische Kalt­schnäuzigkeit aufbringen wird, um Cassis abzuwählen, ist daher nicht gesichert.

De facto noch grösser dürften jedoch die Widerstände der ökologischen Mitte, das heisst der Grün­liberalen, sein. Sie haben schon bei den Zürcher Ständerats­wahlen Stimm­freigabe beschlossen, und auch die Wahl zwischen Cassis und Rytz ist für sie politisch nicht eindeutig. Vor allem aber hat die GLP ein klares macht­taktisches Interesse an einer Verhinderung von Rytz: Noch ist ihr Wähleranteil zu klein, aber wenn die Partei in vier Jahren noch einmal 2 oder 3 Prozent zulegen sollte und wenn dann im Bundesrat die grünen Kräfte immer noch nicht vertreten wären – dann wäre sie wohl an der Reihe und könnte für die Mitte einen zweiten Sitz beanspruchen. Wenn mit Rytz das grüne Wähler­segment schon abgedeckt wäre, würde das sehr viel schwieriger.

Wird am 11. Dezember die erste grüne Bundesrätin gewählt? Es wäre unbestreitbar die einzig vernünftige Reaktion auf die grüne Welle, auf den Linksrutsch und auf die Frauenwahl im Parlament. Ironischer­weise besteht jedoch eine gute Chance, dass die Kandidatur von Rytz scheitern wird – am Wider­stand der Linken und der grünen Mitte.

Illustration: Alex Solman

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