Binswanger

Ohne Zukunft keine Wahrheit

Warum ist die Politik postfaktisch geworden? Warum nähern sich westliche Staaten immer mehr Russland an? Wie Propaganda-Strategien rund um den Globus die Realität verändern.

Von Daniel Binswanger, 16.11.2019

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Ich habe Russland 2010 verlassen, weil ich erschöpft davon war, in einem System zu leben, in dem «nichts wahr und alles möglich ist», wie ich es in meinem letzten Buch formulierte. Es war eine Welt, in der das Spektakel den sinnvollen Diskurs verdrängt hatte und in der nur noch das Bauch­gefühl eine Möglichkeit bot, sich im Nebel der Desinformation zu orientieren. Ich kehrte nach London zurück, weil ich in einer Welt leben wollte, in der Worte eine Bedeutung haben, in der Fakten nicht mit auftrumpfendem Zynismus als «blosse PR» oder als «Informations­krieg» abqualifiziert werden. Aber dann kam das Jahr 2016 (und das Brexit-Referendum; Anmerkung der Redaktion). Plötzlich schien das mir vertraute Russland mich erneut zu umgeben: der radikale Relativismus, der behauptet, dass die Wahrheit ohnehin nicht feststellbar ist; eine Zukunft, die zusammen­schrumpft zu einer aggressiven Nostalgie; Ideologien, die durch Verschwörungs­theorien ersetzt werden.

Das ist eine Schlüssel­passage aus «This is Not Propaganda. Adventures in the War Against Reality» (Das ist keine Propaganda. Abenteuer im Krieg gegen die Realität), dem neuen Buch von Peter Pomerantsev. Das Werk, das aus einer ungewöhnlichen Mischung von auto­biografischem Essay, rund um den Globus führenden Reportagen und hoch informierten Analysen besteht, ist eine beeindruckende Reflexion über das Politische in einer postfaktischen Welt.

Als Sohn sowjetischer Dissidenten, die vom KGB drangsaliert und schliesslich ins englische Exil getrieben wurden, und als früher Kritiker der «postmodernen Diktatur» in Putins Russland ist Pomerantsev ein idealer Beobachter der heutigen Polit­kommunikation. Nicht so sehr deshalb, weil Russland seinen «Informations­krieg» in die verschiedensten Länder getragen hat und sowohl die amerikanischen Präsidentschafts­wahlen als auch das Brexit-Referendum mit Desinformations­kampagnen beeinflusste. Viel bedeutender ist, dass Russland die Avantgarde der zeitgenössischen Propaganda­techniken darstellt. Dass sich heute rund um den Globus – ob mit oder ohne direkte Intervention von Putins Trollfabriken – die politische Auseinander­setzung zu russifizieren droht.

Beispielsweise auf den Philippinen. Als der Pöbler und Rechts­populist Rodrigo Duterte im November 2015 seine Kandidatur fürs Präsidenten­amt lancierte, machte er den sogenannten war on drugs zur Haupt­botschaft seiner Kampagne. Bekanntlich bestand diese sogenannte Anti-Drogen-Politik, nachdem Duterte gewählt worden war, in der willkürlichen Ermordung Tausender «Verdächtiger» durch Todes­schwadronen oder Polizisten (die Regierung selber kommt auf 4200 «ausser­gerichtliche» Exekutionen, die NGOs kommen auf mehr als 20’000).

Wie Trolle das dominierende Thema bestimmen

Was weniger bekannt ist: Die Fokussierung von Dutertes Kampagne auf den Kampf gegen vermeintliche Drogen­kriminalität – und die Popularität des barbarischen Blutbades, das seit seinem Amtsantritt nun täglich veranstaltet wird – wurde von langer Hand durch eine Kampagne in den sozialen Netzwerken vorbereitet. Erst gründete Dutertes PR-Team in allen Regionen lokale Facebook-Gruppen, in denen im örtlichen Dialekt unverfänglich über lokale Ereignisse und Klatsch diskutiert wurde. Nach sechs Monaten hatten alle diese Gruppen mehr als 100’000 Follower. Dann begannen seine Trolle, in diesen Foren regelmässig über lokale Verbrechen zu berichten und diese, ob begründet oder nicht, mit der Drogen­kriminalität in Verbindung zu bringen. Erst einmal, dann zweimal, schliesslich dreimal am Tag. Drogen­kriminalität wurde zum alles dominierenden Thema. Dutertes Umfrage­werte explodierten.

Pomerantsev geht diesen Formen der Propaganda in den verschiedensten Kontexten nach, in Serbien, in Mexiko, Estland, der Ukraine, Syrien und natürlich in Gross­britannien. Überall nimmt die politische Kommunikation die Form von stark durch die sozialen Netzwerke gesteuerten Informations­kriegen an, die nicht nur den Unterschied von wahr und falsch bis zur Unkenntlichkeit relativieren, sondern sich in einem völligen Nebel der Frontlinien, Partei­bildungen und politischen Zuordnungen entfalten. Der Informations­krieg gedeiht nur auf der Basis von ideologischer Konfusion. Deshalb war das Russland der Neunziger­jahre sein erstes Testfeld, die Macht, die den Kalten Krieg verloren hatte und in die weltanschauliche Orientierungs­losigkeit abstürzte, schon zu einer Zeit, als man im Westen noch glaubte, man habe unwider­ruflich den Lauf der Welt­geschichte für sich entschieden.

«Man muss eine Märchen­geschichte konstruieren»

Pomerantsev lässt ausführlich einen der Pioniere heutiger Polit­kommunikation zu Wort kommen, Gleb Pavlovsky, den wichtigsten Spindoktor, der 1996 die Jelzin- und 2000 die Putin-Kampagne betreute. Pavlovsky kam aufgrund von Umfragen zum Schluss, dass es in Russland nicht mehr möglich sei, ein mehrheits­fähiges ideologisches Programm anzubieten. Links, rechts, liberal, bolschewistisch, russophil, sowjet­nostalgisch: Die ideologischen Kategorisierungen machten immer weniger Sinn, wurden mit immer ungewisseren Inhalten assoziiert.

Er beschloss deshalb, eine Mehrheit zu schaffen, unter Verzicht auf ein politisches Programm: «Man fängt die Leute ein für eine kurze Periode, eigentlich nur für einen Augenblick, aber so, dass sie alle gemeinsam für dieselbe Person stimmen können. Um das hinzubekommen, muss man eine Märchen­geschichte konstruieren, die sie alle teilen.» Das Märchen, das Jelzins Präsidentschafts­kampagne 1996 zugrunde lag, war die Angst, es werde ein Bürger­krieg ausbrechen, wenn er nicht im Amt bestätigt wird. Jelzin war unpopulär, aber die Angst vor dem Chaos war stärker.

Pavlovsky ist überzeugt, dass Russland dem Westen den Weg weist: «Ich denke, dass Russland der erste Staat ist, der diesen Weg ging, und dass der Westen ihn nun einholen wird. Die westliche Welt befindet sich heute in einer Phase des Proto-Putinismus.» Also dort, wo Russland Ende der Neunziger­jahre stand.

Die Lektion von Pavlovsky perfekt gelernt zu haben scheint jedenfalls Thomas Borwick, der Leiter der Pro-Brexit-Digital­kampagne. Auch er kam zur Feststellung einer weitgehend fraktionierten Wählerschaft und griff deshalb zu einem sehr differenzierten Targeting für die verschiedenen Wähler­gruppen, das mit über 70 unterschiedlichen Botschaften operierte.

Die mit Abstand erfolgreichste Targeting-Botschaft der Pro-Brexit-Digital­kampagne war der Tierschutz. Tierschutz wird zwar von der EU-Mitgliedschaft kaum tangiert, aber er ist ein sehr populäres Anliegen, und die Brexit-Kampagne skandalisierte die Tatsache, dass in Spanien immer noch Stierkämpfe abgehalten werden. Das funktionierte.

Polarisierung, fehlende Zukunft, offene Verbrechen

Pomerantsevs Buch trieft von solchen atemberaubend absurden Beispielen – aber es bietet auch eine tiefgründige Analyse der zugrunde liegenden Entwicklungen. Am wichtigsten sind drei Konklusionen:

1. Wir leben in einer Zeit der immer stärkeren Polarisierung, das heisst, so sollte man meinen, der immer unversöhnlicher konsolidierten ideologischen Blöcke. De facto geschieht aber das Gegenteil: Politische Identitäten werden immer diffuser, flüchtiger, fluider. Hier liegt das Geheimnis des heutigen Populismus. Er ist eigentlich das Gegenteil einer Wiederkehr der Identitäts­politik. Populismus redet im Namen des «Volkes», genau deshalb, weil ein politisch homogenes Volk, heute mehr denn je, eine Fata Morgana ist. «In einer Epoche, in der alle Leit­ideologien untergegangen sind, in der ein glaubwürdiger Wettstreit der Konzepte für die Zukunft nicht mehr stattfindet, besteht das Ziel darin, disparate Gruppen um einen Begriff des «Volkes» zusammen­zubinden, mit möglichst amorphen und starken Emotionen, die jeder auf eigene Weise interpretieren kann, und mit Feinden, die diese Emotionen bedrohen», schreibt Pomerantsev.

2. Fakten werden deshalb immer unwichtiger, weil uns die Zukunft abhanden­kommt. Eine Politik, die ein Zukunfts­projekt hat, die etwas erreichen will, muss sich mit der Wirklichkeit, so wie sie ist, auseinander­setzen. Zu Zeiten von Stalin etwa hat die sowjetische Propaganda zwar auch permanent absurde Lügen verbreitet, aber sie konnte sich nicht offen um die Wahrheit foutieren. Sie musste in Anspruch nehmen, die Wissenschaft auf ihrer Seite zu haben. Sie agierte im Namen eines (pseudo-)rationalen Zukunfts­projekts. Trump und Putin können vollkommen ungeniert irgend­welchen Unsinn erzählen. Es spielt de facto keine Rolle mehr. Sie legitimieren sich nicht durch das Versprechen eines gesellschaftlichen Fortschritts.

«Das 20. Jahrhundert begann mit Utopien und endet mit Nostalgien», sagte die Literatur­wissenschaftlerin Svetlana Boym, die Pomerantsev prominent zitiert. Der postfaktische Populismus unserer Zeit – ob in Moskau, Washington, Istanbul oder Budapest – ist immer nostalgisch gestimmt. Sein Glutkern besteht darin, das Phantom vergangener Grösse wieder­auferstehen zu lassen – und er hütet sich davor, es an historischen Fakten zu messen.

3. In der Vergangenheit wurden verbrecherische Handlungen von Staaten mit grossem Aufwand kaschiert, selbst ein Menschheits­verbrechen wie der Holocaust. Heute liegen die Verbrechen offen zutage, und der «Informations-Overkill» neutralisiert sie fast von allein. 22 Terabyte Video­material gibt es in den Archiven der Weisshelme über die monatelange Bombardierung von Aleppo durch russische und Assad-treue Verbände, über die Tausenden von zivilen Opfern, die Bombardierungen von Kranken­häusern und Schulen. Die meisten dieser Videos wurden quasi live gestreamt. Die Welt­öffentlichkeit sass in der ersten Reihe, aber geändert hat es nichts. Auch das ist eine Facette unserer postfaktischen Epoche.

Es ist ein abgründiges, dystopisches Bild der heutigen Welt, das Pomerantsev durch seine Reportagen und Gespräche rund um den Globus entstehen lässt. Manche Schweizer Leserin wird mit Erleichterung zur Feststellung kommen, dass uns von den Extremen postfaktischer Politik so einiges trennt. Wer aber würde ausschliessen wollen, dass wir uns darauf zubewegen?

Illustration: Alex Solman

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