Happening

Lernen, wie geschriebenes Kino entsteht

Von Barbara Villiger Heilig, 23.10.2019

Teilen0 Beiträge

Die Republik ist ein digitales Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur – finanziert von seinen Leserinnen. Es ist komplett werbefrei und unabhängig. Überzeugen Sie sich selber: Lesen Sie 21 Tage lang kostenlos und unverbindlich Probe:

Alle zwei Wochen an jeweils zwei Tagen für je zwei Stunden trifft sich an der ETH Zürich ein gemischtes Publikum mit Pascale Kramer. Die Genfer Schrift­stellerin, die seit langem in Paris lebt, besetzt im laufenden Herbst­semester die Gastprofessur für französische Literatur und Kultur am GESS (Departement Geistes-, Sozial- und Staats­wissenschaften). Ausser den Studierenden empfängt sie Leserinnen und Leser, die sich für ihr Werk interessieren. Ich gehöre dazu. Jedes dieser Treffen am späten Dienstag- oder Mittwoch­nachmittag war bisher ein absolutes Highlight.

Es sind Vorlesungen im eigentlichen Sinn: Pascale Kramer liest vor. Manchmal aus eigenen Romanen. Hauptsächlich aber aus Büchern, deren Lektüre sie geprägt hat auf ihrem Weg zu der Schrift­stellerin, die sie heute ist (nebst weiteren namhaften Preisen erhielt sie 2017 den Schweizer Grand Prix Literatur für ihr Gesamt­werk). «Cheminement autodidacte en écriture» nennt sie die Veranstaltung, in der sie ihren – eben: autodidaktischen – Werdegang abschreitet. Das mag trocken klingen, ist es aber nicht. Im Gegenteil.

Gefühle kann man nicht erfinden

Kramer hat schon während der Schulzeit zu schreiben begonnen und ihren Erstling mit 21 Jahren veröffentlicht, damals noch in der West­schweiz (heute publiziert sie bei Flammarion, einem der grossen französischen Verlags­häuser). Das Studium brach sie ab, das Schreiben nicht. Ihre Lehrmeisterin war die Literatur. Wie, das erzählt sie nun an der ETH.

In ihrem Kurs stellt sie Wahl­verwandte vor. Den Anfang macht sie mit Hervé Guibert, der berühmt wurde durch die fast dokumentarischen Nahaufnahmen seiner eigenen HIV-Erkrankung (an der er 1991 gestorben ist). «Beobachten, beschreiben» sei seine Absicht gewesen, «nicht urteilen». In einer Zeit, als diese Krankheit erst gerade ins öffentliche Bewusstsein drang, wollte er «enthüllen» – bis zur Scham­grenze. Es gehe nicht um Fragen der Moral, betont Kramer. Sondern um das minutiöse Aufzeichnen subjektiven Erlebens: des Schocks der Diagnose, des Zusammen­bruchs einer persönlichen Welt, des Weiter­lebens auf Zeit. Und darum, wie sich solche Erfahrungen in Literatur verwandeln. Guibert war ein Poet. «Barbarisch und zart» nennt Kramer das Ergebnis seines Schreibens.

So, wie Guibert sich zeitweise im «Schatten» (ihr Ausdruck) von Thomas Bernhard bewegte, hat sich Pascale Kramer zeitweise in Guiberts Schatten bewegt. Er begleitete sie, als sie selbst Todkranke pflegte – den Vater, den Ehemann. Dem Thema des langsamen Sterbens widmete sie ihr Buch «Un homme ébranlé». Wobei die Autorin darin nicht als Ich auftritt. Ihre Domäne ist die Fiktion. Sie erfindet Figuren – in denen sich kondensiert, was für Kramer einfühlbar ist. Denn Gefühle kann man nicht erfinden.

Was sie begeistert am literarischen Schaffen: sich über Monate, sogar Jahre hinweg in andere Persönlichkeiten hineinzudenken. Ihrem Innenleben nachzuspüren. Ihre Gedanken auszuloten. Ihre Handlungen zu verstehen – oder auch nicht. Übergriffig wird die Autorin dabei nie. Immer wieder ersetzen äusserliche Schilderungen den Blick in die Seele. Eine Geste kann reichen, um den Zustand einer Figur zu suggerieren, ohne sie eindeutig festzunageln.

Wie oft wissen wir selber nicht genau, wie es uns geht? Und wie oft liegen andere falsch, die meinen, sie wüssten es?

Wie geschriebenes Kino

«Wahrheit» ist ein Begriff, der bei Kramer regelmässig auftaucht. Sie will Personen erfinden, die als «wahr» erscheinen: mit liebens­werten und unsympathischen Seiten, mit unauflösbaren Wider­sprüchen, mit biografischen Brüchen, die sie nicht zu erklären braucht.

Nach verschiedenen Stationen – Pascal Quignard, Marguerite Yourcenar – sind wir unterdessen mit Richard Ford und Philip Roth bei den Amerikanern angelangt. Pascale Kramer lebte eine Zeit lang in Los Angeles, wo sie mit der Film­industrie zu tun hatte. Auch das Kino war eine Erleuchtung, erzählt sie, und führt einen Ausschnitt von «In the Bedroom» vor: eine Frau, ihr Ex-Mann, die gemeinsamen Kinder. Alles ohne Untertitel, doch den Wortlaut der Dialoge braucht niemand, um die latente Gewalt der Szene zu erfassen. Auch Körper, auch Blicke können sprechen.

Kein Wunder, wirken Pascale Kramers Bücher wie geschriebenes Kino.

Ihr letzter Roman ist unlängst auf Deutsch erschienen: «Eine Familie» (am Festival «Zürich liest» wird sie ihn dieses Wochenende im Rahmen einer Schifffahrt präsentieren). Darin bündelt die Autorin, was immer im Fokus ihrer Aufmerksamkeit steht: hochkomplexe Beziehungen zwischen emotional eng verbundenen Individuen. Im Zentrum dieser Familie, einer patchwork family, steht Romain, der ältere Halbbruder dreier erwachsener Geschwister, und ihre Eltern. Romain ist schwerer Alkoholiker.

Kapitel für Kapitel wechselt die Perspektive von einem Familien­mitglied zum nächsten. Und mit der Perspektive wechselt von Mal zu Mal die Wahrnehmung des Geschehens. Das Buch ist ein Kaleidoskop. Doch zuinnerst klafft eine Leerstelle: Romain. Was ihn bewegt, weshalb er als Jugendlicher plötzlich mit dem exzessiven Trinken anfing, wie er sich fühlt in seinem erbärmlichen Obdachlosen­dasein: Es bleibt ein Geheimnis.

Romain sei ihr Ausgangs­punkt gewesen, sagt Pascale Kramer, die das Milieu der Rand­ständigen kennt. Doch beim Schreiben merkte sie, dass es ihr nicht gelang, sich in den Protagonisten zu versetzen. Es wäre ihr anmassend, respektlos vorgekommen. Trotzdem: Sie hat einen Umweg gefunden, um seine fragile Persönlichkeit durch alles Elend hindurch leuchten zu lassen.

Zu den Veranstaltungen

Die Vorlesung «Cheminement autodidacte en écriture» an der ETH Zürich findet noch bis im Dezember statt.

Am 26. Oktober stellt Pascale Kramer im Rahmen von «Zürich liest» ihren neuen Roman «Eine Familie» vor.

Sie sind sich immer noch nicht sicher, ob die Republik etwas für Sie ist? Dann testen Sie uns! Für 21 Tage, kostenlos und unverbindlich: