Kiyaks Exil

Der Kapitalismus ist schlecht – aber gut!

Reiche fühlen sich arm. Nichts Neues. Aber dass Arme sich fast reich fühlen? Verrückt! Die Kolumnistin hat zugehört, sich gewundert und was gelernt.

Von Mely Kiyak, 08.10.2019

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«Wir müssen analysieren, warum die Leute lethargisch sind und gegen ihre Interessen wählen», sagte der Soziologe und Philosoph Moshe Zucker­mann vor einigen Wochen auf einem Podium in Frankfurt. Es ging um den Kapitalismus beziehungs­weise darum, dass es den Kapitalismus nicht gebe. Und um Alternativen zum Neo­liberalismus und seine, so implizierte es die Fragestellung, ökologische Zerstörung. Zucker­mann unterhielt sich mit Ulrike Herr­mann und Heiner Flass­beck (der hier in der Republik, wie ich im Archiv sehen konnte, bereits bekannt ist). Als ich dieses Gespräch verfolgte, liebe Republikanerinnen und Republikaner, musste ich die ganze Zeit an Sie denken, weil ich immerzu dachte, das passt doch genau hierher!

Es berieten sich also ein Geistes­wissenschaftler, eine Wirtschafts­redaktorin der TAZ (und gleichzeitig eine der erfolgreichsten Wirtschafts-Sachbuch­autorinnen Deutsch­lands) sowie ein Wirtschafts­wissenschaftler, der fast ein Jahrzehnt lang ehemaliger Chef­volkswirt der «Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung» in Genf war. Allen drei Diskutanten wird nachgesagt, dass sie links seien. Ebenso ihr Gastgeber, der Frank­furter Westend-Verlag, da er «linke» Bücher und Autoren verlege. Also linke Diskutanten, linkes Thema, super linke Veranstaltung – wie ich das hier so schreibe und Sie das lesen, wird hoffentlich klar, wie albern diese Einordnung ist.

Ist es links, wenn man das System überdenkt? Wenn man nach Verbesserung sucht? Ich glaube, jeder, der Lust hat, sich intensiv mit seiner Gegenwart zu befassen, ist zunächst einmal nicht «links», sondern «kritisch», was wahrscheinlich auch wieder als links eingeordnet wird, aber das ist jetzt wirklich eine Neben­baustelle einer Neben­baustelle. Es ist jeden­falls so, dass eine Problem­lage viel klarer und differenzierter erörtert wird, wenn die Stand­punkte der Diskutanten sich ähneln. Im Frankfurter Fall hatte keiner der drei Gesprächs­partner ein grund­sätzliches Problem mit dem Kapitalismus, sondern mit seiner Ausprägung.

Ich möchte über die Diskussion sprechen, weil ich erstens viel lernte. Und zweitens zeigen will, dass die wirklich bemerkens­werten Debatten über den Zusammen­hang zwischen Klima­wandel, Wirtschafts­ordnung und sozialer Frage – in Deutsch­land zumindest – nicht in den Medien statt­finden, sondern alternativ organisiert auf Theater­bühnen, in Stiftungen und Verlagen statt­finden. Es herrscht ein grotesk grosses Niveau­gefälle zwischen den Debatten der Zivil­gesellschaft und dem, was die klassischen Medien abbilden. Hier ist es seit einigen Jahren Mode, dass sich eine ganze Talk­show mit keiner anderen Frage beschäftigt als der, ob das Schweine­schnitzel in Zukunft noch gegessen werden darf. Neulich schaltete ich mal wieder in eine politische Gesprächs­show rein und dachte: «Ach guck, die wiederholen ja die Diskussion von vor einem Jahr.» Doch ich irrte. Man sprach mit den gleichen Leuten, nur wurde das Schnitzel durch den SUV ausgetauscht.

In Frankfurt sassen drei Denker auf der Bühne und sollten Alternativen zur jetzigen Situation entwickeln, und es stellt sich heraus, dass keiner der drei eine Wirtschafts­form benennen kann, die praktikabel und grund­legend anders wäre als das gegen­wärtige System. Und trotzdem teilen alle drei denselben Befund: So, wie es ist, darf es unmöglich weitergehen.

So viel also zum Vorurteil, dass Kapitalismus­kritik automatisch bedeutet, den Sozialismus zu befürworten. Wobei Zucker­mann schüchtern einwarf, dass das, was wir unter Sozialismus diskutieren, die DDR beispiels­weise, alles Mögliche war, aber sicher kein Sozialismus.

Flassbeck gestand in seinem Eingangs­statement: Ich bin Kapitalist. Deshalb lautete seine Lösung zur Rettung der Welt auch, dass es der Markt richten muss. Wenn Kohle, Stahl und Öl so teuer werden, werde die Nach­frage automatisch sinken. Bislang seien die Roh­stoffe nämlich zu billig. Allerdings will er sich für den Über­gang einen Zeit­raum von 150 Jahren lassen. Bis der Liter Benzin irgendwann in 100 Jahren 15 Euro koste, so Ulrike Herrmanns Einwand, gebe es aber keine Welt mehr. Da wusste auch der ehemalige Chef­ökonom der Uno keinen Rat und flippte von Minute zu Minute mehr aus. Weil er seine Idee so genial fand, drehte er fast durch, als niemand ihm folgen wollte. DER MARKT MUSS ES REGELN. Nur so bestünde «die Chance, das System aus der Sackgasse» zu bringen. NUR SO! Komisch, oder? Wenn einer fast ein Jahrzehnt für die Uno tätig war, alles ganz genau weiss und zur Verbesserung der Welt trotzdem nichts beitragen konnte.

Ulrike Herrmann charakterisierte den Kapitalismus als eine Wirtschafts­form, deren Wesens­merkmal Wachstum und Kredit seien. Das klingt erst mal schlecht, aber es sei der Kapitalismus, der zu mehr Wohl­stand geführt habe. Auf den Wohlstand seien aller­hand zivilisatorische Errungen­schaften gefolgt: die Einführung des Wahl­rechts für Frauen und Minder­heiten, eine Bildungs- und Gesundheits­politik für alle sozialen Klassen. Kurz: Demokratie. Ausserdem merkte sie noch an, dass die Frage nach einer Alternative zum Kapitalismus im Gegen­satz zu vielen anderen ordnungs­politischen Fragen kompliziert sei. Das Problem sei bekannt, aber es gebe – noch – keine Lösung.

Zuckermann stellte, so tun es die guten Philosophen stets, die Frage nach dem Warum, nachdem er eine sehr andere Begriffs­klärung anbot («Kapitalismus ist zunächst einmal die private Aneignung gesell­schaftlicher Arbeit»). Wer sei eigentlich mit dem «wir» gemeint, wenn die Rede davon sei, dass «wir» das System reformieren sollen, dass «wir aufhören müssten, die Ressourcen der Erde zu verschwenden». Ob damit eigentlich auch die Menschen in den Slums gemeint seien (er sei nämlich in einem Slum aufgewachsen und vermute, dass diese Leute nicht zum «wir» zählten). Und warum die Menschen, wie anfangs erwähnt, immer diejenigen wählen, die für den Schlamassel verantwortlich seien.

Und da hat Ulrike Herrmann (ab Minute 55) eine sehr schöne Bemerkung gemacht, die der Grund ist, dass ich überhaupt die ganze Kolumne hier schreibe. Sie erzählte, dass es in der Wirtschafts­forschung zahl­reiche Experimente zu dem Phänomen gebe, warum gerade die Wähler der unteren sozio­ökonomischen Klassen entgegen ihren Interessen und Bedürfnissen wählen und sich mit den falschen Parteien oder Politikern verbünden. Ich kannte bislang kein einziges dieser Forschungs­ergebnisse, und vielleicht geht es den Leserinnen und Lesern hier auch so, dass sie sich dafür interessieren, weshalb insbesondere arme Menschen diejenigen wählen, die die Ungleichheit manifestieren. Oder einfacher formuliert, ich greife jetzt auf Professor Zucker­mann zurück: Was führt dazu, dass «die Leute nicht die Revolution wählen»?

Ein Aspekt, so Herr­mann, sei das permanente Herab­blicken auf die Unter­schicht. Das ganze RTL2-Programm «ist eine einzige Verhöhnung der Unter­schicht», mit der Idee: «Weil ich nicht ganz unten bin, muss ich ja schon ganz oben sein.» Deswegen gebe es, um mit Marx zu sprechen, kein Klassen­bewusstsein und demzufolge auch keinen «Klassen­kampf».

Eine Vielzahl von Unter­suchungen belegen, dass alle Deutschen sich als Teil der Mitte begreifen. Dazu zitierte sie folgende qualitative Untersuchung des statistischen Bundes­amts, die sich sehr lustig anhörte, weshalb sich das Publikum auch kaputt­lachte. Aber das Ergebnis ist schrecklich bitter.

Da werden Leute gefragt: «Sagen Sie mal, wo, von 1 bis 10, ordnen Sie sich ein?»

Und dann kommt raus: Langzeit­arbeitslose, die objektiv zum untersten Zehntel gehören, sagen, sie sind bei vier. Und Milliardäre sagen, sie sind bei sechs.

Das heisst, wir haben eine extreme Klassengesellschaft, wenn man sich das objektiv ankuckt. Das oberste eine Prozent besitzt über 33 Prozent des Volksvermögens, aber in der subjektiven Wahrnehmung ist jeder Mittelschicht. Und auch das ist wichtig: Jeder ist Mittelschicht – aber kurz davor, reich zu werden!

Man hat die Leute gefragt: «Sagen Sie mal, was ist eigentlich Reichtum?»

Und dann haben Leute, die 1500 Euro im Monat haben, geantwortet: «Das fängt bei 2500 an.» Und Leute, die 3500 im Monat haben, sagen: «Reich ist, wenn man 4500 hat.»

Das Interessante ist, dass das bei Millionären auch so funktioniert. Wenn man zwei Millionen hat, sagt man nicht: «Ich bin reich.» Sondern dann sagt man, «der Reichtum fängt an, wenn man drei Millionen hat».

Jeder ist also kurz vor dem Sprung in den Reichtum, und deswegen dürfen die Reichen nicht besteuert werden, denn man könnte ja selber zu den Reichen gehören.

Und dabei, liebe Republikanerinnen und liebe Republikaner, will ich es für diese Woche bewenden lassen.

Vielleicht haben Sie Lust, sich das ganze Gespräch anzuschauen. (Hier ist die Diskussion und hier ist Teil 2 mit den anschliessenden Zuschauerfragen, lassen Sie sich das auf keinen Fall entgehen.)

Das Gespräch zeigt übrigens auch, wie rege unterhalb des medialen Radars darüber diskutiert wird, wie man anders leben kann, indem man nicht das Maximum für sich und sein eigenes Leben herausholt; sondern so viel wie nötig für so viele wie möglich aus dem ganzen Bums herausholen kann.

Selam
Ihre Kiyak

PS: «Merci vielmal», wie Sie immer so schön in Ihrem viel­sprachigen Land sagen, für Ihre freundlichen Willkommens­grüsse zu meinem Einstand. Ich habe mich riesig gefreut, um nicht zu sagen – in meinem Herzen klingelte es bayram! Als ich zum ersten Mal ein «Merci vielmal» hörte, klang es in meinen Ohren wie «Merci viermal». Ihre Worte jeden­falls waren Zucker­watte und baklava, mein vertrocknetes Herz floss dahin, dagegen sind die schmelzenden Pol­kappen staubige Wüste.

Merci fünfmal!

Illustration: Alex Solman

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