Architektur des Austauschs
Dieses Wochenende kommt eines der prägendsten Kunstprojekte der letzten Jahre an sein Ende. Die Robert-Walser-Skulptur von Thomas Hirschhorn in Biel setzt als Gesamtkunstwerk Massstäbe.
Von Max Glauner, 07.09.2019
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Es passt, ist stimmig, schön, mega urchig. Die Rede ist von einem der spektakulärsten und ästhetisch wie gesellschaftspolitisch nachhaltigsten Kunstwerke der letzten Jahre: Thomas Hirschhorns Robert-Walser-Skulptur auf dem Bahnhofsvorplatz von Biel. Morgen Sonntag ist Schluss. Rund einen Monat wird der Rückbau erfordern. Dann wird nichts mehr davon zu sehen sein.
Alltag wird einkehren auf dem hochfrequentierten Verkehrsknotenpunkt vor der dorischen Tempelfront des Bieler Bahnhofs aus dem Jahr 1923 – der letzten bürgerlichen Einschüchterungsgeste im Stadtbild, bevor der Modernismus auch in Biel um sich griff. Nur wenige hundert Meter weiter demonstrieren das Volkshaus expressiv (1932) und das Hotel Elite art-déco-modernistisch (1931), wo es kurz darauf sozial und architektonisch hingehen sollte.
Doch gegen solche baulichen Ewigkeiten setzt der 1957 in Bern geborene Hirschhorn eine lebendige, temporäre Architektur aus Holz, mehr Bühne als Behausung. Hier gelang 86 Tage lang, von 10 Uhr morgens an jeweils 12 Stunden pro Tag, woran zu Beginn eigentlich nur der Künstler richtig glauben konnte: ein Forum des fundamental egalitären Austauschs und Miteinander-Seins. Das Projekt ist stark lokal verankert, setzt aber Massstäbe weit über Biel und die Schweiz hinaus.
Gattungsfragen
Was hat es da die letzten Monate zu hören und zu sehen gegeben? Das ist auch eine Gattungsfrage. Hirschhorn hat seinem Projekt den Titel Robert-Walser-Skulptur gegeben. Doch der irritiert. Handelt es sich nicht vielmehr um eine Installation, eine Theaterbühne, eine öffentliche Akademie oder ein Sozialprojekt? Ja, es ist all das. Und nichts von alledem.
Was mit flüchtigem Blick beim Gang vom Zugperron zur Bushaltestelle zu sehen ist, gleicht eher einem Slum oder einer subkulturellen Wagenburg: Verlässt der Passant die Bahnhofshalle – längst bar ihrer Servicefunktion und für den blossen Durchgang zugerichtet –, kann er geradeaus zwar ungehindert das Weite suchen.
Will er aber gewohnt den schnellsten Weg nach rechts oder links einschlagen, wird ihm das verwehrt. Während nach rechts trutzig, das Billige der Konstruktion betonend, Pressspanplattenwände mit aufgesprühten Robert-Walser-Statements den neuen Weg zum Taxistand einrahmen, gibt sich die linke Seite hin zur Fast-Food-Kette offener: Hier führt eine Rampe hinauf und in einen Toilettencontainer hinein. An der Ecke zum Brückendurchgang zieht eine scheinbar spontan eingerichtete popkulturelle Gedenkstätte die Aufmerksamkeit auf sich: Fotos, Spruchzettel, Schuhe, Kerzen, Plastikblümchen.
Der Name des so erinnerten Toten: Carl Seelig. Ein Klick bei Wikipedia würde ihn verraten als Autor, Verleger, Förderer, Freund und Vormund Walsers, der bereits 1962 verstarb. Muss man wissen, dass es in Hirschhorns Werk immer wieder diese scheinbar improvisierten Schreine für längst Verstorbene wie Ingeborg Bachmann gegeben hat? Nein, es genügt wohl zu verstehen, dass der Künstler hier der gängigen Aufmerksamkeitsökonomie einen Streich spielen, das Licht auf einen lenken will, der im Schatten des gross erinnerten Walsers steht, der seinerseits unterschätzt und klein gemacht, lange Zeit ausserhalb des Kanons stand. Sicherlich gab es nicht wenige Besucher, die lediglich diese Ecke für Hirschhorns Walser-Skulptur hielten.
Feldforschung
Der verstaubte Begriff «Skulptur» in Hirschhorns Titel stellt sich in die Tradition der seit 1954 im Vier- bis Fünfjahresrhythmus in Biel durchgeführten «Schweizerischen Plastikausstellungen», der «Expositions suisses de sculpture». Damit beansprucht der Künstler bewusst die Lufthoheit für eine konzeptuelle und gesellschaftspolitisch engagierte Kunst, die unter dem Schlagwort «Soziale Plastik» – es stammt von Joseph Beuys – statt an den Kunstbetrieb und seinen Markt an den Veränderungswillen der Leute appelliert.
Hirschhorn und Beuys teilen zwar ihr soziales Engagement und das Prinzip der physischen Anwesenheit während ihrer Aktionen. Hirschhorn war über die gesamte Laufzeit des Projekts als Patron und Ansprechpartner vor Ort präsent, doch anders als der verschlossene Kunstschamane Beuys ging er auf die Leute zu, recherchierte drei Jahre in Biel und Umgebung und sprach mit den Menschen, vor allem mit jenen, die am Rande der Gesellschaft leben – Arbeitslosen, Migranten, Obdachlosen, Alkoholikern und Junkies, die den Bahnhofsvorplatz zum Treffpunkt nutzen. Feldforschung nennt er das.
Doch Hirschhorn ist kein Kümmerer, sondern ein Ermöglicher, der die angeworbenen Teilnehmerinnen und Institutionen im gesetzten Rahmen machen lässt. Er lud sie mit vielen anderen ein, sich am Projekt zu beteiligen, das mit der Holzkonstruktion lediglich seine bauliche Manifestation erfuhr. Betreut vom Künstler richtete sich so jeder nach seinen Bedürfnissen und im Respekt vor den anderen Teilnehmern in den Buden auf den Holzsockeln ein. Aus der Kooperation mit der Kuratorin, Institutionen wie dem Robert-Walser-Archiv und den Behörden erwuchs ein Kollaborativ, in dem Hirschhorn als Princeps inter pares agierte.
Erfahrungen dazu hatte Hirschhorn schon viel gesammelt: das «Deleuze Monument» (2000) in Avignon, das «Bataille Monument» (2011) zur Documenta 11 in einer Kassler Arbeitersiedlung oder das «Gramsci Monument» (2013) in der Bronx von New York. Bei diesen Arbeiten standen immer die Menschen vor Ort im Mittelpunkt. Statt gesellschaftlich Randständige ins mediale Licht der Konsensmitte zu stellen, ermöglicht Hirschhorn jeweils eine unverkrampfte Begegnung divergenter Gruppen. Anders als bei den vorherigen Projekten hat er jedoch in Biel nicht das «Zentrum» in die vernachlässigte Suburbia geholt, sondern von den Rändern her ins Zentrum blicken lassen.
Darum hat er die erhöhte Holzkonstruktion geschaffen, die sich zum Stadtzentrum hin mit einer Lesebühne einladend öffnet. Darum auch die literarische Rand- und Ausnahmefigur des in Biel geborenen Robert Walser als geistiges Epizentrum. Hirschhorn stellt ihn nicht als Bronzestatue auf einen Sockel, sondern in der Form, in der er für uns alle lebendig ist: in seinen Texten (als Graffiti), in Büchern (es gab Buchhandlung und Bibliothek), in Lesungen, Vorträgen von Wissenschaftlern, Laien, Literarinnen und Diskussionen mit dem Publikum unter freiem Himmel.
Auf dem letzten Rang des Amphitheaters sorgen Bar und Imbissbude für das leibliche Wohl. Auch sonst sind den Walser-Hommagen kaum Grenzen gesetzt worden, ein kauziger Weltfriedensaktivist hat in seinem Verschlag für Esperanto-Kurse geworben, eine pensionierte Domina stellte in einem weiteren ihr Werkzeug aus, und Genfer Kunststudentinnen dokumentierten – Walser der passionierte Spaziergänger – ihre Wanderungen in die Umgebung.
Kein Theater
Der Literaturwissenschaftler und Leiter des Berner Robert-Walser-Instituts, Reto Sorg, hat im Schnitt vier Tage in der Woche auf der Bieler Skulptur verbracht. Sein Institut ist mit jeweils um die vier Mitarbeiterinnen von Bern ins Provisorium gezogen. Im Vorfeld lieferte es das philologische Know-how, danach verrichtete es den Büroalltag auf der Skulptur, empfing Kollegen, hielt Sitzungen ab und organisierte einen Teil des Podiumprogramms mit Fachvorträgen.
Sorg zeigt sich im Gespräch erstaunt, mit welcher Achtung man sich hier begegnete. So redete er nicht nur mit eingefleischten Walser-Fans, sondern auch mit Leuten, die einen ganz anderen Bildungshintergrund haben. «Mich beeindruckte, von Alkoholikern und Junkies angesprochen und ernst genommen zu werden. Das wäre im akademischen Kontext undenkbar. Ich wurde täglich neugieriger», sagt Sorg. «Publikumsnähe und Transdisziplinarität ereignen sich hier tatsächlich. Andernorts werden sie nur herbeigeredet.»
Im Gegensatz zu Theaterformaten, die auf «Experten des Alltags» setzen, spielt hier keiner etwas vor. Sicher ist Reto Sorg in seiner Rolle als Leiter des Instituts vor Ort, ebenso wie Thomas Hirschhorn in seiner Rolle als Künstler und Patron. In dieser Funktion instruiert er aber nicht nur die Teilnehmer, schaut nach dem Rechten oder sortiert die Mikrokabel, sondern er ist für jeden direkt ansprechbar.
Diese Bühne ermöglicht echte Begegnungen. Die Robert-Walser-Skulptur ist nicht, wie häufig unterstellt worden ist, das Denkmal einer zerrütteten Gesellschaft, sondern das gelebte Hoffnungszeichen einer demokratisch besseren.
Max Glauner arbeitet als freier Kulturjournalist für den «Freitag», den «Tagesspiegel», die «Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung», Frieze.com, «Artforum» und «Kunstforum international». Er lebt in Berlin und Zürich und ist Dozent an der Zürcher Hochschule der Künste, wo er zu innovativen Produktions- und Aufführungsformaten sowie Strategien der Partizipation und Kollaboration lehrt und forscht.