Theaterspektakel

Ein Festival für alle. Was heisst das?

Von Barbara Villiger Heilig, 26.08.2019

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Wenn Sie diesen Satz lesen, zählen Sie nicht zu den Nicht-Sehenden.

Das klingt umständlich. Trotzdem lasse ich den Satz stehen. Menschen mit Sehbehinderung hören das Wort «Blinde» ungern. Die Sprache, zum Glück ein bewegliches Instrument, passt sich an. Sie soll niemanden verletzen. «Blind» wird aus ihr nicht verschwinden, aber möglicher­weise bloss in übertragener Bedeutung überleben. Als blinder Sprach­passagier.

Der Blindenstock hat seinen Namen vorerst behalten, obwohl diejenigen, die auf ihn angewiesen sind, lieber von Langstock sprechen.

Am gestrigen Sonntag­nachmittag tastete ich mich mit Augen­binde und Blinden­stock über den Rummel- und Tummel­platz der Landiwiese: ein wildes Gewusel von Kindern, Eltern, Hunden, Artistinnen. Das Theater­spektakel hatte zusammen mit dem Verein Sensability den Workshop «Perspektivenwechsel» organisiert. Ein Verein, der sich für die Inklusion von Menschen mit Behinderungen einsetzt. Für Menschen, die über «andere» Fähigkeiten verfügen. Deshalb wird ability fett geschrieben.

Mir fehlen solche Fähigkeiten. Ich fühle mich komplett aufgeschmissen. Der Stock nützt nur bedingt. Bald verliere ich die Orientierung. Auch mit dem Tastmodell des Spektakel­geländes komme ich schlecht zurecht. Die Brailleschrift mit den Erklärungen: unleserlich für meine Finger. Sie sind blind.

«Beschränkt» findet Gabi Rechsteiner jene Spektakel-Gäste, die sie fragen, warum sie denn hierher­komme, obwohl sie nichts sehe. Es gebe doch auch sonst unendlich viel wahrzunehmen: Klänge, Düfte, Atmosphäre.

Gabi – wir duzen uns alle – arbeitet als Psychologin und gehört zum Beirat, der das Theater­spektakel bei Inklusions­fragen unterstützt. Man hat die letzten Jahre nicht verschlafen. Für Sehbehinderte existiert eine App, die zu ausgewählten Theater­vorstellungen Audio­deskriptionen liefert. Was auf der Bühne geschieht, wird kurz geschildert. Und Übertitel, wie sie bei fremdsprachigen Gastspielen üblich sind, werden eingesprochen.

Mit dem Langstock eine unbekannte Welt erkunden. Christian Altorfer

Für Hörbehinderte reicht das nicht. Je nach Grad der Einschränkung hilft ihnen die Induktions­schleife: Sie verbindet das Mikro der Schauspieler direkt mit dem Hörgerät. Ausserdem wird die Übertitelung ergänzt durch Hinweise auf Hintergrund­geräusche («ferner Donner», «das Handy klingelt»). Nur, was ich erst gestern erfuhr: Gehörlosen bereitet das Lesen oft Mühe.

Mit Ruben Rod, der an der Berufs­fachschule für Lernende mit Hör- und Kommunikations­behinderung (BSFH) unterrichtet, sitzt meine Gruppe nun am Tisch. Die Hälfte trägt Noise-Cancelling-Kopfhörer. Gespannt starre ich auf den Mund meines Gegenübers. Resultat: Ich verstehe nur Bahnhof.

Ruben hingegen liest unsere Lippen­bewegungen, falls wir nicht vergessen, dass wir uns frontal zu ihm wenden müssen. Er kann auch – keine Selbst­verständlichkeit bei Hör­behinderungen – artikulieren. Zusätzlich übersetzt er alles, was er sagt, mühelos in Gebärden­sprache. Im Theater existieren solche Über­setzungen viel zu selten. Aus finanziellen Gründen.

Musik, sagt Ruben, würden Gehörlose mithilfe von Resonanz­körpern wie Holzböden oder Ballonen spüren. Klassik sei schwierig, und überhaupt hörten sie «anders»: Rhythmus, Bässe. Dennoch ein sinnliches Erlebnis.

Mit zunehmender Lebens­erwartung sind auch immer mehr Seniorinnen und Senioren auf leichtere Zugänglichkeit zum Gesellschafts- und Kultur­leben angewiesen. Sie profitieren von den Bemühungen um Inklusion. Im Alter lässt nicht nur das Gehör nach. Die Mobilität verursacht ebenfalls Probleme. «Barriere­freiheit» ist ein drittes Stichwort unseres Workshops.

Weil die bestellten Rollstühle ausbleiben, findet der Selbst­versuch diesmal nicht statt. Ich bin heimlich erleichtert und schiebe Alex Oberholzer an ein schattiges Plätzchen. Ihn kennen Sie vermutlich als Filmkritiker von Radio 24. Dass ihm eine Hand und ein Fuss fehlen und er aufgrund seiner Kinder­lähmung eine Beinschiene braucht, merkt die Hörerschaft nicht.

Doch so souverän Alex, der sich jetzt unseren Fragen stellt, seinen Alltag meistert: die Anstrengung ist immens. Der Rollstuhl sei eine psychologische Schwelle gewesen, erzählt er, eine Art Eingeständnis der eigenen Schwäche. Und obwohl er längst nicht mehr auf ihn verzichten könnte, stört es ihn, nicht auf Augenhöhe mit der Umwelt zu sein. Ganz konkret, wenn er zu Gesprächs­partnern aufschauen muss – und auch noch die Sonne blendet.

Das ist nur eine von tausend Schwierigkeiten, die ein Leben mit Behinderung mit sich bringt. Ich sollte den Rollstuhl unbedingt in den Schatten rücken, der unterdessen weiter­gewandert ist, merke ich. Zu spät: Die Zeit ist um.

Sie war zu kurz an diesem Nachmittag, der mir Augen und Ohren auf eine neue Weise geöffnet hat. Haben Sie schon einmal wahrgenommen, wie viele Rampen über das Festival­gelände führen? Und dass ein hoher Bartresen dennoch ein Hindernis darstellt? Genau in diesem Moment sind Sie gefragt.

Zum beschriebenen Workshop

«Perspektivenwechsel» (bereits abgespielt)

Impressionen und Rezensionen von der Landiwiese

Kultur­redaktorin Barbara Villiger Heilig schreibt vom 15. August bis zum 1. September über das Zürcher Theater Spektakel. Ihre Kolumne erscheint an Werktagen. Hier gehts zur Sammlung der bisher erschienenen Beiträge – aus diesem Jahr und von 2018.

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