Preis der Republik

Mind the gap!

«Led by Donkeys» sind im besten Sinne nachtragend. Die Aktivisten erinnern Pro-Brexit-Politiker an ihre Aussagen von früher – mit verstörendem Ergebnis.

Von der Republik-Jury, 22.08.2019

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Mind the gap!
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Sehr geehrte Preisträger

Sehr geehrte Verlegerinnen und Verleger

Sehr geehrte Damen und Herren

Fellow chaps

Angefangen hat das alles – wie die meisten wirklich guten Ideen – bei einem Bier. Ein Dezember­abend, 2018: Da sassen Sie, verehrte Preisträger, im Pub und sprachen über die blockierten Brexit-Verhandlungen; darüber, wie draussen vor der Tür das Land im Chaos versinkt. Und Sie erinnerten sich an einen alten Tweet von David Cameron. Den hatte er abgesetzt, als er für den Premierminister­posten kandidierte – und der Brexit noch als Fieber­traum einiger Wirrköpfe galt.

Grossbritannien, schrieb Cameron damals, sei mit einer einfachen, aber unausweichlichen Entscheidung konfrontiert: «Stabilität und eine starke Regierung mit mir», oder Chaos mit einer linken Regierung.

Heute wissen wir: Statt die versprochene Stabilität zu garantieren, stürzte Cameron sein Land in den Brexit, in den Schlamassel.

Sie sassen also im Pub, sinnierten über Politiker­versprechen. Und dann sagte einer: Lasst uns diesen Cameron-Tweet auf ein Poster drucken.

Es war der Anfang Ihrer Aktionsgruppe «Led by Donkeys».

Liebe Anwesende, wir leben in ungewöhnlichen Zeiten. Der Präsident der Vereinigten Staaten macht dieser Tage seine Absicht kund, Grönland zu kaufen. Währenddessen ist diesseits des Atlantiks Gross­britannien auf bestem Wege, sich in Grönland zu verwandeln: in ein karges und frostiges Land mit einer jährlichen Wirtschafts­leistung, die irgendwo zwischen der von Buthan und Djibouti zu liegen kommt – oder jedenfalls deutlich tiefer als heute.

Das jedenfalls, sollte der neue britische Premier Boris Johnson sein Land tatsächlich ohne einen Austrittsvertrag aus der Europäischen Union schlittern lassen. Hier eine kleine Auswahl an Experten­prognosen dazu, was ein solcher «No-Deal-Brexit» für Folgen hätte.

«Wir werden Unsicherheit haben, unsere Wirtschaft wird sich verändern, Menschen werden ihren Job verlieren.»

«Die Verfügbarkeit von frischen Nahrungs­mitteln und Medizin wird ernsthaft infrage gestellt sein.»

Oder, besonders eindringlich:

«Wir können nicht garantieren, dass als Resultat eines No-Deal-Brexit niemand sterben wird.»

So manche Braue kraust sich jetzt im Publikum. Wir verstehen Ihre Skepsis, liebe Anwesende. Vermutlich denken Sie, dass man beim Schwarzmalen nicht gleich zu den schwärzesten Tönen greifen muss. Und wer, bitte schön, sollen schon diese apokalyptisch gestimmten «Experten» sein?

Nun, hier wird es interessant: Wir haben uns als Kronzeugen für die kolossale Dummheit eines Brexit ganz und gar unverdächtige Stimmen ausgesucht; sitzen sie doch alle in Boris Johnsons Kabinett, das gerade frohgemut Richtung No-Deal-Klippe donnert.

So warnte vor Unsicherheit und Jobverlust Brandon Lewis. Heute Minister für Sicherheit.

Nahrungsmittelknappheit erwartete Jo Johnson. Minister für Unternehmen und – sie ahnen es aufgrund des Namens – der Bruder des Premierministers.

Und von möglichen Toten sprach, besonders bezeichnend: der amtierende Gesundheitsminister.

Keines dieser Zitate ist älter als zwei Jahre. Nur scheinen die drei Minister über das Erinnerungs­vermögen eines Goldfisches zu verfügen. Denn sie alle tragen den No-Deal-Kurs unter­dessen nicht nur mit, sondern sie tingeln durchs ganze Land und werben aktiv für die Vertrags­losigkeit.

Es ist Ihr Verdienst, liebe Mitglieder von «Led by Donkeys», dass die neue Regierung sich an ihr Geschwätz von gestern erinnern muss. Schliesslich haben Sie all die alten Versprechen und Warnbotschaften auf Poster gedruckt – und im ganzen Land aufgehängt.

Seit dem schicksalhaften Abend im Pub mischen Sie Brexit-Britannien mit dieser simplen wie subversiven Methode auf. Und entlarven so den Opportunismus einer ganzen Politiker­kaste, ihre himmel­schreiende Inkompetenz besser, als es eine ganze Armee von Enthüllungs­journalisten könnte.

Geschätzte Mitglieder von «Led by Donkeys», aus drei Gründen ist es uns heute a real pleasure indeed, Ihnen den Preis der Republik zu verleihen.

Erstens: für Ihren Mut. Zugegeben, die ersten paar Monate waren Sie anonym unterwegs. Doch unterdessen stehen Sie – allesamt Familienväter – mit Namen und Gesicht zu Ihrer Aktion. Sie hängen Ihre Poster auch (und gerade) in Brexit-Hochburgen auf. Und das in Zeiten, in denen prominente Figuren auf beiden Seiten des Brexit-Grabens Polizeischutz beanspruchen.

Zweitens: für die bestechende Einfachheit der Methode. Aussagen aus der Vergangenheit – auf Postern in der Gegenwart. That’s it. Dazu, liebe Preisträger, passen auch Ihre Noms de Guerre, als Sie noch im Untergrund agierten. Sie nannten sich nicht etwa Kleisterman oder Abu al-Memoria, sondern schlicht Adam, Chris – und zweimal Richard.

Drittens, und hier müssen wir ein klein wenig ausholen, weil «Led by Donkeys» eine derzeit arg gebeutelte britische Qualität hochhält: für den Anstand. Oder die Etiquette, wie man in der bei manchen Briten ja nicht eben beliebten belgischen Hauptstadt sagen würde. Etiquette leitet sich aus dem Altfranzösischen estiquette respektive estequier ab, was so viel wie «anstecken» bedeutet.

Genau das tun Sie, liebe Preisträger. Sie heften Politikern ihre eigenen Worte an. Sie behaften sie auf ihre Aussagen. Was für konkrete Folgen ein No-Deal-Brexit haben wird, weiss niemand mit Sicherheit. Vielleicht kommt Britannia mit einem blauen Auge davon; vielleicht wird er die Nation in eine tiefe Krise stürzen. Sicher ist nur: Zu einem Ereignis dieser Tragweite heute dies, morgen das und übermorgen wieder das Gegenteil davon zu behaupten, ist bloody unanständig – ganz und gar unbritisch.

Nun denn, wir wollen Sie nicht weiter aufhalten. Die Briten hier im Publikum haben Notvorräte anzulegen und den künftigen Aufenthalts­status ihrer Liebsten abzuklären. Wir schliessen darum mit einem letzten Zitat aus der «Led by Donkeys»-Sammlung:

«Es gibt keine Desaster, nur neue Möglichkeiten. Und, selbstverständlich, Möglichkeiten für neue Desaster.»

Die Quelle: Dezember 2004, Boris Johnson.

Carry on then. Wir gratulieren.

Illustration: Doug Chayka

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