Binswanger

Jenseits des Lustprinzips

Die bürgerlichen Parteien wollen die Steuern für Eigenheim­bewohner senken. Aber sie haben ein Problem: die bürgerlichen Finanz­direktoren.

Von Daniel Binswanger, 17.08.2019

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Die freudsche Psychoanalyse arbeitet mit dem Dualismus von Lust- und Realitäts­prinzip. Das Seelen­leben ist grundsätzlich auf Triebbefriedigung ausgerichtet – aber es muss sich wohl oder übel mit den in der Realität gegebenen Umständen arrangieren. Etwas Ähnliches lässt sich von politischen Systemen sagen: Politik wird bestimmt von Ideologien, Werte­präferenzen, Freund- und Feind­fixierungen. Sie schafft Gruppen- und Partei­zugehörigkeit, wirkt sinnstiftend und kanalisiert gesellschaftliche Konflikte. Ideologien sind das Lustprinzip der Politik.

Aber es gibt auch Realitäten. Es gibt das dichte Netz von Sachzwängen, Abhängigkeiten und Trade-offs. Es gibt die Notwendigkeit des Ausgleichs und des Kompromisses. Die reine Lehre hat praktikable Lösungen nur selten im Angebot. Das Realitäts­prinzip muss ideologischen Überschwang in Grenzen halten. Man nennt das politischen Realismus.

Im Seelenleben ist es schwer genug, aber wie finden die beiden Prinzipien in einem politischen System zusammen? Da bestehen von Land zu Land gewaltige Unterschiede.

Auch wenn gerne behauptet wird, der ideologische Links-rechts-Gegensatz sei überholt: Bis heute ist immer und überall die Steuer- und Finanz­politik das zentrale politische Kampffeld. Die Linke will hohe beziehungs­weise höhere Staats­ausgaben, um sozialen oder auch ökologischen Ausgleich zu schaffen. Die Rechte will niedrige beziehungs­weise niedrigere Steuern, um die Bürger zu entlasten.

Beide Programme richten sich an eine unterschiedliche Klientel und stehen für unterschiedliche Werte­präferenzen. Und beide bekommen es schnell mit dem Realitäts­prinzip zu tun: Man kann Staats­ausgaben nicht beliebig erhöhen, weil man sie finanzieren muss. Man kann Steuern nicht beliebig senken, weil sonst das Staatswesen seine Aufgaben nicht erfüllt. Auf welche Seite die ideologische Stossrichtung auch immer gehen mag: Irgendwann kommt der Realitycheck.

In Demokratien mit einem Regierungs-Oppositions-System verhelfen die Pendel­bewegungen der Machtwechsel dem Realitäts­prinzip zu seinem verzögerten Recht. Man nehme das Beispiel der USA. Seit den 1980er-Jahren will die amerikanische Rechte eigentlich immer nur eins: noch tiefere Steuern. Sie hat – mit Ausnahme von Vater Bush – die Abgaben permanent gesenkt. Und wie hat sie das abgefedert? Durch Schulden.

Sowohl unter Reagan als auch unter dem zweiten Bush als auch jetzt unter Trump sind die Staatsdefizite massiv gestiegen. Die amerikanische Rechte setzt hemmungslos auf deficit spending – unter Trump sogar in einer Aufschwung­phase – und vermeidet dadurch, dass ihre Steuer­geschenke allzu unerträgliche Konsequenzen haben. Ungezügelt wird einer Ideologie gefrönt – und das Realitäts­prinzip erst einmal suspendiert.

Die Sanierung der öffentlichen Finanzen haben die Republikaner hingegen erfolgreich an ihre Gegner outgesourct. Sowohl unter Clinton als auch unter Obama wurde das Staatsdefizit stark reduziert – nicht zuletzt weil die Republikaner, sobald sie nicht mehr an der Regierung waren, einen Propaganda­feldzug gegen die Todsünde der Schulden­wirtschaft gestartet haben. Es ist atemberaubend, zu welcher finanz­politischen Schizophrenie – oder sagen wir einfach: Verlogenheit – die amerikanische Rechte imstande ist. Sie folgt hemmungslos ihrem ideologischen Impuls. Doch das System muss gezwungener­massen für einen Kompensations­mechanismus sorgen.

Wie aber soll das funktionieren in einem demokratischen System, das den Wechsel von Regierung und Opposition gar nicht kennt? In der Schweiz beispielsweise?

Was in anderen Ländern durch den Pendelschwung der Mehrheits­verhältnisse bewerkstelligt wird, leisten bei uns bis zu einem gewissen Grad die föderalistischen Strukturen. Wenn das Parlament mal wieder ideologisch übersteuert, müssen eben die unteren Staats­ebenen das Realitäts­prinzip verteidigen. Faszinierend ist, wie irrelevant die Partei­zugehörigkeit der Akteure dann plötzlich werden kann. Wenn die Sachzwänge erst einmal zutage liegen, werden Sonntags­reden einfach unwichtig.

Dies zeigt sich nun wieder in lehrbuch­artiger Manier beim Tauziehen um die Abschaffung der Besteuerung des sogenannten Eigenmiet­wertes. Worum geht es? Wie so häufig: um Kohle, ziemlich viel Kohle. Die Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Ständerates ist damit befasst, eine parlamentarische Initiative auszuarbeiten, die das System der Besteuerung von Wohneigentum grundlegend verändern würde. Eine Studie der Immobilienberatungsfirma Wüest Partner schätzt die Entlastung für Eigenheim­besitzer beziehungs­weise die Steuer­ausfälle für den Staat, die durch die Abschaffung dieser Steuer entstehen würden, auf gegen 1,7 Milliarden Franken. So wie die Vorschläge heute ausgestaltet sind, könnten sie noch deutlich höher liegen.

Was ist der Eigenmietwert? Der helvetische Evergreen bürgerlicher Steuersenkungs­versuche. Seit zwanzig Jahren werden immer neue Anläufe genommen, um die fiskalische Belastung des Eigenmiet­werts aus der Welt zu schaffen. Und obwohl bisher alle gescheitert sind: Jetzt soll es endlich gelingen.

Im heutigen System müssen Haus­besitzerinnen den Mietwert ihrer Liegenschaften als Einkommen versteuern, auch wenn sie selber in ihrem Eigenheim wohnen und deshalb gar keine Miet­einnahmen haben. Die Tatsache, dass sie in ihrem eigenen Haus wohnen können, ohne Miete zu zahlen, wird vom Fiskus als geldwerte Sachleistung, als «Natural­einkommen», behandelt. Denn wenn ein Hausbesitzer seine Liegenschaft vermieten würde, müsste er die Einnahmen ebenfalls als Einkommen versteuern und zudem eine nicht abzugsfähige Miete zahlen an einem anderen Ort. Allerdings sind im heutigen System Schuld­zinsen und Unterhalts­kosten, die durch ein Eigenheim generiert werden, abzugsfähig. Auch bei der Investition in ein Rendite­objekt, in dem sie selber nicht wohnt, darf eine Immobilien­besitzerin ihre Kosten ja von den Mieteinnahmen abziehen.

Jetzt soll ein System­wechsel herbeigeführt werden: Der Eigenmietwert des Erstwohn­sitzes soll steuerfrei werden, im Gegenzug sollen aber auch Hypothekar­zinsen und der Unterhalt überhaupt nicht mehr oder nur noch teilweise abzugsfähig sein. Kritisiert wird die Eigenmietwert­besteuerung immer wieder, weil sie zum einen Rentner­haushalte, die ihre Hypotheken schon abbezahlt haben, relativ stark belasten kann und zum anderen, aufgrund der Abzugs­fähigkeit von Hypothekar­zinsen, einen Anreiz schafft, sich möglichst hoch zu verschulden. Die niedrigen Zinsen würden es heute für die Hausbesitzer­fraktion zu einem guten Geschäft machen, die Abzugs­fähigkeit der Zinskosten aufzugeben und stattdessen für den Eigenmiet­wert keine Steuern mehr entrichten zu müssen.

Doch in der Wissenschaft herrscht weitgehender Konsens, dass das heute bestehende Steuer­system das sinnvollste ist, und zwar über alle ideologischen Gräben hinweg. Eine Entlastung des Eigenmiet­wertes würde zu einer steuerlichen Benachteiligung der Mieter (60 Prozent der Schweizer Bevölkerung) und, so wie die Vorlage angedacht ist, auch zu einer Bevorzugung von sehr begüterten gegenüber wenig liquiden Immobilien­besitzerinnen führen. Zudem würde die Tatsache, dass nur der Hauptwohnsitz von der Eigenmietwert­besteuerung befreit werden soll, sämtliche Zweit­immobilien aber weiterhin nach dem bestehenden System belastet würden, Bürgern mit einem Ferien­domizil ein wahres Steuer­vermeidungs-Schlaraffen­land eröffnen.

Die bis anhin schärfste Zurückweisung des Initiativ­vorschlags ist einem Gutachten des Steuerrechtsexperten René Matteotti zu entnehmen. Es weist nicht nur aus, dass das heutige System ökonomisch und steuer­systematisch ausgewogener ist, sondern bestreitet sogar, dass die Besser­stellung von Eigenheim­besitzerinnen, welche die verschiedenen Varianten des Gesetzes­vorschlags bewirken würden, überhaupt verfassungs­konform ist. Bemerkenswert ist das Gutachten jedoch nicht nur deshalb, weil es den Vorarbeiten der Ständerats­kommission ein schallendes «ungenügend» erteilt. Bemerkenswert ist der Absender: die Konferenz der kantonalen Finanz­direktorinnen und Finanz­direktoren.

Die Finanzdirektoren­konferenz ist zwar von ihrer partei­politischen Zusammen­setzung her ein Gremium, wie es bürgerlicher überhaupt nicht mehr sein kann: Von den 26 Mitgliedern gehören nur gerade 2 zum linken Lager. SVP und FDP, die beiden Parteien, die aufs Engste mit dem mächtigen Hauseigentümer­verband verbandelt sind und seit Jahren an vorderster Front für die Abschaffung der Eigenmietwert­besteuerung kämpfen, verfügen in der Finanzdirektoren­konferenz über eine satte Mehrheit – aber das spielt offensichtlich nicht die geringste Rolle.

Denn auch bürgerliche Finanz­direktoren haben andere Sorgen als das ideologische Bekenntnis zur Steuer­entlastung: Sie müssen ihre Budgets im Griff haben. Sie brauchen Einnahmen. Und haben kein Problem, der Erosion ihres Steuer­substrats entschlossen entgegen­zutreten. Auch gegen die eigene Partei.

In der Schweiz, nicht weniger als in anderen Demokratien, entstehen immer wieder politische Konstellationen, in denen das System ideologisch übersteuert. Nachdem 2003 Christoph Blocher und Hans-Rudolf Merz in den Bundesrat gewählt wurden, sollte im Jahr 2004 ein grosses Steuerpaket durchgepeitscht werden, das bereits die Entlastung des Eigenmiet­wertes enthielt. Es scheiterte am Widerstand der Finanzdirektoren­konferenz unter der Leitung ihrer damaligen Präsidentin, einer SVP-Politikerin namens Eveline Widmer-Schlumpf.

Jetzt ist die Steuersenkungs­obsession in eine neue Runde gegangen. Zeit für den nächsten Realitycheck.

Illustration: Alex Solman

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