Leicht und poetisch: Jannis Kounellis, «Senza titolo (Da inventare sul posto)», 1972. Elisabetta Cattalano

Kunst

Hereinspaziert!

Kunstmuseum Liechtenstein: «Entrare nell’opera»

Die italienische Arte povera gilt vielen als ernst, schwer, grau. Zu Unrecht. Eine Ausstellung in Vaduz zeigt, dass die Avantgarde­bewegung ihre Wurzeln im Theater, in der Performance, im Fest hat. Ein grosses Vergnügen, nicht nur für Kunstfans.

Von Max Glauner, 09.08.2019

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Nach Italien? Dazu muss keiner über den Gotthard reisen. Ein Ticket nach Vaduz genügt. Dort wartet eine der momentan wichtigsten und schönsten Kunst­ausstellungen im deutsch­sprachigen Raum: «Entrare nell’opera. Prozesse und Aktionen in der Arte povera». Was kaum bekannt ist: Liechtenstein besitzt ausserhalb des Ursprungs­landes die grösste Sammlung der italienischen Avantgarde­bewegung, die in den Sechziger- und Siebziger­jahren Kunstgeschichte schrieb.

Nachdem zur Jahrtausendwende ein Basler Architektur­büro einen eleganten Museums­neubau in den Zwergstaat gewuchtet hatte, wurde 2010 eine erste Überblicks­schau zur Arte povera mit dem Titel «Che fare?» (was tun?) ausgerichtet.

Nun, fast ein Jahrzehnt später, folgt ihre notwendige Ergänzung, wenn nicht ihre Korrektur. Zum einen entdeckt man plötzlich, dass die Arte povera, eine Kunstform, die viele in Schwarz, Grau und Braun abgespeichert haben, in Wahrheit bunt und lebendig war. Zum andern: Die Werke, die häufig erdenschwer mit Steinen, Torf und Blei inszeniert wurden, hatten ihren Ursprung im Theater, in der Performance, im Happening und im Fest. Selbst Arbeiten, die schon längst zu Museums­kunst geworden sind, wie etwa die berühmten Glas-Iglus von Mario Merz, haben einen theatralen, performativen Hinter­grund, stammen von Handlungen und Aktionen im Hier und Jetzt.

Gefragt waren Wahrhaftigkeit und Präsenz, nicht Objekte zum Kaufen, Anbeten, An-die-Wand-Hängen. Aus diesem Grund hat Italien auch die amerikanische Pop-Art abgelehnt; zu konformistisch, zu waren­fetischistisch. Die Siebdruck­blümchen von Warhol – ein Gräuel. Dagegen setzte eine Schar junger Männer Bewegung, Aktion, das Fest des Lebens. Nur eine einzige, allerdings wichtige Frau gehörte zu der Gruppe, die am 20. Juli dieses Jahres hochbetagt verstorbene Marisa Merz.

Marisa Merz, «Scarpette» (Schühchen), 1968, Strand von Fregene, 1970. Claudio Abate

Das später gut verkaufte Marken­label Arte povera (arme Kunst) leitet sich direkt von einer Forderung des polnischen Theater­manns Jerzy Grotowski ab. Gegen Pomp und Eventkultur plädierte er für ein «armes Theater», eine nackte Bühne mit Menschen, die etwas zu sagen haben. Der Arte povera gingen zunächst azioni povere (arme Aktionen) voraus. Sie präludierten die studentischen Proteste gegen Politik und Establishment, gegen die Rassen­trennung und den Vietnam­krieg. «Entrare nell’opera», «rein ins Werk», «ran ans Werk», bedeutete, der revolutionären Gesellschafts­veränderung spielerisch gestaltete Verhaltens- und Handlungs­anweisungen anzutragen. Mit den azioni povere in Liechtenstein lässt sich die Geschichte der gesellschaftlichen Umwälzungen der Sechziger­jahre neu entdecken. Und wie brandaktuell ihre Energie auch heute erscheint.

Schon der Auftakt präsentiert sich nicht grau und bleiern, sondern leicht und poetisch: Obwohl der Künstler Jannis Kounellis, 1936 in Griechenland geboren und nach dem Kunst­studium in Rom geblieben, zu Lebzeiten nur Schwarzweiss­abzüge seiner Fotografien zuliess, haben die vier Kuratorinnen der Ausstellung ein Farbfoto ausfindig gemacht und gross­formatig an der Eingangs­wand aufgezogen. Es zeigt eine Aufführung von Kounellis vor seinem Gemälde «Senza titolo (Da inventare sul posto)» (ohne Titel, vor Ort zu erfinden) in der Römer Galerie L’Attico 1972.

Ein Stehgeiger spielt in der Ecke, eine Ballerina tanzt im Tutu. Das monochrome Gemälde mit seinen raschen, hellroten Pinsel­strichen, unter denen Noten zu erkennen sind, ist im Saal des Museums gleich hinter den Stellwänden des Entrees zu bestaunen. Es ist mehr als ein Bühnenbild, bleibt aber untrennbar mit der fotografierten Szene verbunden. Auf dem Bild wirkt die Szene süsslich. Gewollt? Oder wurde sie bei der Aufführung ironisch gebrochen? Tatsächlich spielte der Geiger nur die auf dem Gemälde sichtbare Notation, Bruchstücke aus Strawinskys «Pulcinella» von 1920, ein Ballett­klassiker der Moderne. Auch das Gemälde im Ausstellungs­saal wirkt bei näherer Betrachtung verspielt – die Pinsel­striche decken die Leinwand nach unten hin nicht mehr ab, verweigern gleichsam ihren Auftrag.

Angriffige Lebendigkeit vermittelt sich auch mit der nächsten Arbeit: «Le trombe del giudizio» (die Trompeten des Jüngsten Gerichts) aus dem Jahr 1968 von Michelangelo Pistoletto. Drei imposante Schall­trichter am Eingang des Saals rufen förmlich danach, vom Betrachter geblasen zu werden. Auch wenn sie wie Posaunen aussehen, handelt es sich um Verstärker, durch die der Dorfplatz von Pistolettos Heimatort in den 1940er-Jahren mit Reden des Duce beschallt wurde. Das dazugehörige Schwarzweiss­foto zeigt den Künstler mit seiner Frau Maria beim Blasen der Instrumente. Er eignet sich das Propaganda­instrument an, um wie mit einer tibetischen Zeremonial­trompete der Welt den Ungeist auszutreiben.

Michelangelo Pistoletto, «Le trombe del giudizio», 1968. Die aktuelle Ausstellungsansicht ... Ines Agostinelli
... und eine Aufführung mit Michelangelo Pistoletto und Ehegattin Maria Poppi. Fondazione Pistoletto

Es erstaunt, welche Ausdrucks- und Formen­vielfalt die azioni povere entwickelten. Die Aktionen gehen oft direkt ins Objekt über und bleiben darin sichtbar. Am eindrucks­vollsten in Giovanni Anselmos berühmter «Torsione» (Drehung), 1968. An einem massiven Haken hängt ein grobes Wolltuch, das vom Künstler durch einen Metallstab so weit in sich verdreht wurde, wie es möglich war. Nun hält der Stab an der Wand verkeilt die zwar stabil wirkende, in Wirklichkeit aber äusserst labile Konstruktion.

Auch in anderen Arbeiten finden sich Konzept und Performance überzeugend enggeführt. Bei Marisa Merz zum Beispiel, der Frau von Mario Merz und einzigen Künstlerin im Männerclub der Arte povera, die ein wichtiges, eigenständiges Werk entwickelte. Einzigartig ihre «Scarpette» von 1968, Strick-Cinderella-Pantoffeln aus Nylon­fäden und Kupfer­draht, die das «weibliche» Medium vor Augen und zugleich ad absurdum führen.

Die verspielte Liebe der italienischen Künstler zu Oper und Theater dokumentiert das «Teatrino» (1964) des vier Jahre nach der Vollendung bei einem Motorrad­unfall verstorbenen Pino Pascali. Nur einen Vernissage-Abend lang stand es mit absurden Aufzieh­puppen im Eingang der Buchhandlung des linken Verlegers Giangiacomo Feltrinelli in Rom.

Doch auch die ganz grosse Geste wurde gesucht. Fotos zeigen Jannis Kounellis hoch zu Ross in einer Galerie, eine Apollo-Maske vor dem Gesicht. Er verharrte Stunden in dieser Pose, ein befremdliches Tableau vivant, dem jegliches Vorbild fehlt. 1969 liess der Künstler bei der Installation «Cavalli» gar zwölf veritable Pferde in der Galerie L’Attico in Rom anschirren und von den Emporen aus betrachten.

Natürlich kommt in der Vaduzer Ausstellung auch der Betrachter ins Bild. «Buco» (Loch) von Luciano Fabro besteht aus einer von gewundenen Linien durchbrochenen Glas- und Spiegelwand, in der sich der Betrachter und ein allfälliges Gegenüber bruchstück­haft erblicken können – eine faszinierende Scharade des Blicks, von An- und Abwesenheit.

Michelangelo Pistoletto nimmt diese Idee auf und appliziert auf Glasplatten fotorealistische Motive wie die nackte Schöne beim Teetrinken, «Donna nuda che beve il tè», 1971, die in ihrer selbst­genügsamen Zurück­haltung plötzlich nicht mehr allein ist. Zur aktionistischen Partizipation rufen schliesslich acht in unterschiedlicher Höhe von der Decke hängende Mikrofone, «Microfoni», 1969, von Gilberto Zorio. Wer will, kann sich auf bereit­gelegte Leichtbeton­blöcke stellen und in die Mikrofone sprechen, singen, schreien, sich weitertragen lassen durch ein Echo, das die interaktive Skulptur aufzulösen scheint.

Gilberto Zorio, «Microfoni», 1969. Ines Agostinelli

Nach dieser wunderbaren Erfahrung stellt sich der Ausstellungs­besucher allerdings zu Recht die Frage, warum die Kuratorinnen auf Ausflüge in die Musik und die Popkultur verzichtet haben. Der legendäre, von 1966 bis 1969 betriebene Beatschuppen Piper Pluriclub in Turin wird zwar mit durchsichtigen Plaste-Kostümen von Alighiero e Boetti und einer Zeitleiste aus Memorabilien durch den Designer Trini Castelli dokumentiert. Doch vom Sound der Kultlocation bleibt nur eine matte Ahnung.

In den Jahren 1978/1979 verstummt die aus dem Theater geborene Avantgarde. Mit dem Tod der RAF-Terroristen im Untersuchungs­gefängnis Stuttgart-Stammheim und der Ermordung Aldo Moros in Italien stirbt auch die Hoffnung auf Veränderung aus dem Geist des Aktionismus.

Eindrückliche Bilder hierfür schafft der Künstler Eliseo Mattiacci. Von der revolutionären Aufbruch­stimmung bleibt bei ihm nur noch das leise Atmen des Künstlers auf Band hinter einer gespenstisch hohlen Maske an der Wand, «Respirare» von 1978. Seinem Publikum gibt er wie zum Ausgleich für das schwindende Künstlertum im gleichen Jahr die Chance, das Wort ESSERE (sein) mit dem Hammer in eine Bleiplatte zu schlagen. So sehr sich der Benutzer dabei auch müht, es wird ihm nicht gelingen, die sechs Buchstaben sauber in die Unterlage zu hämmern: Wir schlagen immer schief und krumm. Eine der starken Arbeiten in einer starken Ausstellung.

Zur Ausstellung

«Entrare nell’opera» im Kunstmuseum Liechtenstein dauert noch bis zum 1. September. Alle Informationen finden Sie hier.

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