Preis der Republik

Greta goes Olga

In Russland wächst der Widerstand gegen Wladimir Putin. An vorderster Front: eine 17-Jährige.

Von der Republik-Jury, 08.08.2019

Greta goes Olga
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Verehrte Preisträgerin

Geschätzte Verlegerinnen und Verleger

Meine Damen und Herren

«Unglücklich das Land, das Helden nötig hat», heisst es bei Brecht, und wie gerne würden wir diese zeitlose Weisheit bekräftigen! Gerade Ihr Fall, verehrte Preis­trägerin, macht jedoch deutlich, dass sie heute nur noch in einer verschärften, gewisser­massen einer Hardcore-Version ihre Gültigkeit hat: «Unglücklich die Welt, die von Mädchen im Teenager­alter gerettet werden muss – weil leider sonst keiner mehr da ist, der den Job macht.»

Sie, verehrte Olga Misik, führen diesen Stand der Dinge aufs Dramatischste vor Augen. Und nein, es ist kein schönes Licht, das dadurch auf unseren Planeten fällt. Aber Sie, und daran wollen wir uns halten, erstrahlen darob in desto hellerem Glanz. Wir sind beeindruckt, wir verneigen uns, wir schöpfen dank Ihrer Zivil­courage in schwarzer Nacht von neuem Hoffnung. Und überreichen Ihnen demutsvoll den Preis der Republik.

Gerade mal 17 Jahre alt sind Sie und haben erst kürzlich die Schule abgeschlossen. Doch jetzt werden Sie zur Symbolfigur des Widerstands gegen Wladimir Putins Pseudo­demokratie. Sie vollzogen den subversiven Akt par excellence: Sie lasen. Genauer noch: Sie lasen die russische Verfassung.

Da der starke Mann im Kreml beschlossen hat, seine Demokratie-Farce vollends ad absurdum zu führen und unliebsame Kandidaten ganz einfach nicht mehr zu den Wahlen zuzulassen, ist es in den vergangenen Wochen in Moskau zu heftigen Protesten gekommen. Putin tat, was seines­gleichen in solchen Fällen eben tut: nieder­knüppeln, verhaften, wegsperren. Doch mitten in den Demonstrationen waren Sie, verehrte Olga, und griffen zur ultimativen Waffe: Sie lasen mit unbeirrbarer Stimme die Verfassung vor. Den Passus über die Versammlungs­freiheit. Und warum niemand, theoretisch wirklich niemand, in Russland das Recht hat, auf friedliche Demonstranten die Krawall­polizisten loszulassen.

Sie sassen dabei auf dem Boden, zu Füssen ebenjener Krawall­polizisten, die in ihren Robocop-Monturen genau so bedrohlich wirkten, wie sie sind – und dennoch nicht mehr weiterwussten. Kann man das Vorlesen der Verfassung zur ungesetzlichen Tat erklären? Kann man eine zierliche 17-Jährige vor laufenden Kameras nieder­knüppeln? Geht dummer­weise nicht, nicht einmal in Moskau. Natürlich wurden Sie später, als die Kameras nicht mehr liefen, dann doch noch unsanft festgenommen. Aber das Video Ihrer Lesung ist viral gegangen. Und jetzt sind Sie das neue Gesicht des Anti-Putin-Widerstands. Ein Symbol der Demokratie. Eine Jugend­bewegte des Verfassungs­patriotismus, ganz buchstäblich.

Greta goes Olga? Das ist sicherlich eine etwas verkürzte Sicht der Dinge, aber völlig falsch scheint es auch wieder nicht. Es wird ja immer deutlicher: Wir leben in Zeiten der radikalen Polarisierung. In vielen Teilen der Welt klafft die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander, in der Politik werden rund um den Globus – auch in den sogenannt ältesten Demokratien – Lügen und Invektiven zum bevorzugten Mittel. Fast sehnen wir uns zurück nach den idyllischen Zeiten, als man unter Polarisierung noch verstand, dass Juso und SVP sich wieder einmal zoffen. Heute denken wir bei diesem Stichwort eher an den Rassisten im Weissen Haus, an den Lügner in der Downing Street, an den Putin-Freund, der die italienischen Häfen dichtmacht. Wie hiess es doch so treffend im «Guardian»: Die Killer­clowns haben übernommen – will sagen ältere weisse Männer mit Neigung zu grotesker Selbst­inszenierung, einem Frisur­problem und einem bösen Plan.

Aber wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch – und Polarisierung hat immer zwei Seiten. Und so steht den Clowns nun eben eine Macht gegenüber: junge, häufig sehr, sehr junge, engagierte Frauen. Wir wollen nicht pauschalisieren, aber vielleicht weist Greta der Welt ja nicht nur in Klima­fragen den Weg. Jedenfalls wird der Pol des Widerstands nun zunehmend von ihren Alters­genossinnen besetzt. Auf das Heute wirft das kein besonders gutes Licht. Aber für die Zukunft ist es eine grossartige Nachricht.

Und noch aus einem weiteren Grund, geehrte Olga Misik, schenken gerade Sie uns wieder Hoffnung. In aller Bescheidenheit: Diesmal ist der Preis der Republik auch als Förder­preis gedacht. Nach Ihrer Entlassung aus dem Polizei­gewahrsam haben Sie mit «Buzzfeed» über Ihre Pläne gesprochen. Sie wollen jetzt Journalismus studieren, sich in ein Berufs­feld begeben, das von Killerclowns weiss Gott nicht unversehrt geblieben ist und Gegenmächte dringend nötig hat. Sie sagten: «Ich will die Wahrheit über Politik und Menschen­rechte schreiben.» Geschätzte künftige Kollegin, wir können es kaum erwarten. Wir ziehen den Hut. Und seien Sie willkommen!

Illustration Doug Chayka

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