Preis der Republik

Ein Stück mit Gras bewachsener Dreck

Die Rütliwiese hat Grosses geleistet. Während Jahrzehnten mimte sie die Rolle eines nationalen Symbols. Nun ist sie überreif für den Kompost.

Von der Republik-Jury, 01.08.2019

Ein Stück mit Gras bewachsener Dreck
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Verehrtes Preistragendes

Geschätzte Verlegerinnen und Verleger

Meine Damen und Herren

Erlauben Sie uns eine Vorbemerkung: Wir haben festgestellt, dass es zwar die _Preisträger_in und den _Preisträg_er gibt, aber eine sächliche Form, ein Neutrum des Begriffs, kennt die deutsche Sprache nicht.

Dabei bist du, liebes Preistragendes, mehr als nur eine – weibliche – Wiese. Du bist das Rütli, ’s Rütli. Und auch wenn dieser Name für irgendeine gerodete Lichtung stehen könnte, so weiss doch jedes Schweizer Kind, wer gemeint ist, wenn von dir die Rede ist.

Du bist die Wiese der Nation. Ein Symbol der Einheit. Heimstatt militärischer Events und rechts­radikaler Aufzüge mit und ohne Glatzen samt folgender Reclaim-the-Rütli-Bemühungen von Patriotinnen, die sich vom Faschismus abzugrenzen versuchen.

Früher gab es dich auch in einer Ausführung mit G. «Grütli» heisst du noch heute auf Französisch und Italienisch. Doch im Deutschen ist das G jetzt stumm, wie in «Erdoğan». Und stumm warst lange auch du.

Eigentlich bist du bloss ein schwer zugänglicher, überdüngter Flecken am Vierwaldstätter­see, auf den gelegentlich ein paar Kühe kacken. Aber wir projizieren gerne das Schicksal der Schweiz in dich hinein, haben dich zum Geburts­ort unseres Landes gemacht – und den 1. August zu seinem Geburtstag.

Dabei ist das alles Mumpitz, historisch ähnlich akkurat wie ein Animations­film von Disney.

Selbst wenn man Aegidius Tschudis Dichtungen über die Gründung der «Eidgenossenschaft» aus dem 16. Jahr­hundert für bare Münze nimmt, fällt nicht viel Vernünftiges hinten raus. Ausser, dass ein gewisser Werner Stauffacher aus Steinen bei Schwyz gegen lokale Bau­vorschriften verstossen hat. Herr Stauffacher hatte nämlich anstelle eines Holz­hauses ein Stein­haus gebaut. Statt den Fehler einzugestehen, suchte Stauffacher Verbündete im Kampf gegen die ihn drang­salierenden Behörden. So könnte durchaus eine andere Inter­pretation der von Tschudi geschilderten Vorgänge lauten.

Dass Friedrich Schiller 300 Jahre später in seinem Werk back to the roots ging und den Gründungs­mythos zum Helden­epos ausbaute, kann man einem Dramatiker kaum verübeln. Etwas befremdend ist, dass einige der heutigen Schweizerinnen und Schweizer zu glauben scheinen, beim Schauspiel «Wilhelm Tell» handle es sich um eine historische Dokumentation in Form gereimter Dialoge.

Wie man die Geschichte dreht und wendet, liebes Rütli, du bist nicht mehr als ein hoch­gejubeltes, schwer zugängliches Wiesli. Würdest du heute Karriere machen, dann als talent­freier Instagram-Star, der mit einer Mischung aus Zufall und gekauften Followern Berühmt­heit erlangt.

Deine Prominenz verdankst du einem historischen Unfall. Nach dem Sonderbunds­krieg 1847 überliess man den gedemütigten Katholiken in der Zentralschweiz wenigstens den Gründungs­mythos. Man schenkte den Verlierern das Rütli. Dabei hatte die moderne Schweiz, 1848 mit liberaler Verfassung besiegelt, so gar nichts mit den mittel­alterlichen Legenden gemein. Doch der reinstallierte Rütli-Mythos war wie Viagra für die tattrigen Zentral­schweizer Stände. Erst gerade eben waren sie zu Boden geworfen worden, nun konnten sie wieder aufrecht stehen.

Diesen Preis der Republik, liebes Rütli, überreichen wir dir nicht, weil wir in dir etwas Grosses sehen. Sondern weil du es geschafft hast, Generationen von Schweizern und Schweizerinnen etwas vorzugaukeln, wo nichts ist. Du bist die hoch­staplerischste Wiese des Landes. Und für diese Leistung gebührt dir Anerkennung, wie wir sie einem Tom Ripley oder einem Felix Krull zollen.

Und jetzt bitten wir dich, das Feld zu räumen. Nimm diesen Preis und zieh dich zurück. Überlasse das Rampen­licht einem neuen National­symbol. Einem, das nicht auf drei alte Männer und ihren als Freiheits­drang getarnten Egoismus zurückgeht.

Woran denken wir? An die Gründung des modernen Bundes­staates? Oder das Experiment helvetische Republik, das ihm vorausging?

Wie wärs mit der Uhren­industrie als nationalem Symbol: Pünktlich­keit, Zuverlässig­keit, Hochwertig­keit. Sind das nicht Begriffe, bei denen sich vor Stolz uns die Brust wölbt? Auch wenn – oder gerade weil – es Flüchtlinge aus Frankreich waren, die der Uhr­macherei in der Schweiz einen entscheidenden Schub verliehen.

Oder nehmen wir doch das Rote Kreuz, den Inbegriff des unparteiischen, humanitären Engagements? Oder, eng mit ihm verknüpft, die Genfer Konvention, in ihrer frühesten Form 1864 begründet?

Wieso nicht die Schlacht von Marignano als Symbol? Damit könnten auch Konservative gut leben. Die Niederlage der eidgenössischen Truppen killte die aufkeimenden Grossmachts­fantasien der Schweizer und schenkte dem Land die Neutralität.

Oder wir erinnern uns an den vorerst letzten grossen, wenn auch späten Sieg von Gerechtigkeit und Demokratie, die Einführung des Frauen­stimmrechts?

Moment! Da war doch noch die Abschaffung der administrativen Versorgung, 1981. Ab da galten in der Schweiz endlich die Menschen­rechte, und Leute konnten nicht mehr ohne Urteil weggesperrt werden.

Unser Land hätte so viele Dinge, auf die es stolz sein könnte. Bitte nimm es uns nicht übel. Aber ein mit Gras bewachsenes Stück Dreck an einem See ist der falsche Symbol­träger.

Wir wünschen dir, liebes Rütli, eine Zukunft ohne historischen Ballast. Du sollst wieder ein stink­normaler kleiner Fleck Boden sein, wie alle anderen Flecken auch. Befreit von den einstigen Machen­schaften der Nationen­bastler, Geschichtspimper und Werte-hinein-Interpretierer.

Ihnen, liebe Gäste, verehrtes Publikum, wünschen wir einen schönen ersten August. Blicken Sie auf die Welt hinaus. Die Sicht aufs Rütli bietet keine ausreichenden Perspektiven.

Vielen Dank.

Der Preis der Republik – vorgelesen

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Illustration: Doug Chayka

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