«Wenn die Demokratie attackiert wird, dann sollen die Medien nicht neutral sein»

Jay Rosen ist einer der einflussreichsten Medienforscher unserer Zeit. Sollen die Journalisten Trump bekämpfen? Gibt es so was wie Objektivität? Wie kommt der Journalismus aus der Krise – und was hält er von der Republik?

Ein Interview von Elia Blülle (Text) und Nick Lobeck (Bild), 27.07.2019

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«Die Agenda der Journalisten muss von den Zuschauerinnen, Hörern und Leserinnen kommen»: Jay Rosen.

Wer dem New Yorker Journalismus-Dozenten Jay Rosen zuhört, schlittert in eine dunkle Höhle, mit nur wenigen Licht­strahlen und Auswegen, von denen er die meisten auch nicht kennt. Die Wahl von Donald Trump und die Debatte um gefälschte Artikel beim «Spiegel» zeigen, dass die Medien in einer Krise stecken, die längst nicht mehr nur wirtschaftlich, sondern auch kulturell verschuldet ist.

Dazu schreibt und forscht Jay Rosen seit drei Jahrzehnten. Wer über die letzten Jahre seinen Blog «PressThink» gelesen hat, darf nun miterleben, wie treffsicher viele seiner Vorher­sagen waren. Rosen warnte bereits vor dem miserablen Zustand des amerikanischen Medien­systems, der fehlenden Bindung der Journalisten zu ihrem Publikum und den damit verbundenen Gefahren einer gesellschaftlichen Spaltung zu einer Zeit, als die meisten beim Gedanken an Donald Trump als Präsident der USA laut heraus­gelacht hätten.

Aber Jay Rosen übt nicht nur Kritik. Er hat auch eine Vision für die Zukunft. Er glaubt an den Qualitäts­journalismus und hat eine konkrete Vorstellung davon, wie man ihn fördern und erhalten kann. Das macht ihn zu einem der gefragtesten Medien­wissenschaftler unserer Zeit. Die Republik hat ihn in Zürich zum Gespräch getroffen.

Wenn Sie vor Publikum sprechen, beginnen Sie Ihren Vortrag meistens mit einem Witz. Haben Sie gerade einen auf Lager?
Die Schweiz ist zwar berühmt für ihre bewaffnete Neutralität, aber im Journalismus können sich die Schweizer keine inhaltliche Neutralität leisten.

Das ist kein Witz.
Stimmt, das ist kein Witz, aber eine Feststellung. Neutralität ist vielfach ein nobles Ziel, denn sie braucht Selbst­reflexion und Disziplin. Aber wenn die Demokratie und der Journalismus attackiert werden, dann sollen die Bürger einer demokratischen Gesellschaft und die Medien inhaltlich nicht neutral sein.

Neutralität ist doch eine journalistische Tugend. Was stört Sie daran?
Neutralität wird dann zum Problem, wenn sie falsche Ausgewogenheit fördert: zwei Positionen als gleichwertig einstuft und darstellt, obwohl sie das nicht sind. Der Anspruch auf absolute Neutralität hievt zudem Journalistinnen auf eine Bühne, die befreit ist von Meinung und Ideologie. Der Journalist sagt dem Medien­konsumenten: Ich habe keine Agenda, ich sage dir nur, wie es ist – und du musst mir glauben, denn das, was ich sage, ist Fakt. Die Menschen trauen diesem Konzept nicht mehr.

Journalistinnen sollten also ihre inhaltliche Neutralität aufgeben. Wie sollten sie sich stattdessen verhalten?
Sie müssen erklären, wie sie zu ihren Schlüssen kommen. Wieso über ein bestimmtes Thema berichtet wird. Warum sie jemanden zu Wort kommen lassen – und wieso jemand anderes nicht. Journalisten sollten ihre eigene Haltung transparent offenlegen und Position beziehen, wenn sie es für richtig halten. Dieser Transparenz vertrauen die Menschen viel mehr als einer vorgeschobenen Neutralität, die es so gar nicht gibt. Der Philosoph David Weinberger hat vor langer Zeit gesagt: Transparenz ist die neue Objektivität. Das heisst, ich sage dir nicht, dass ich keine Agenda habe, ich sage dir nicht, dass ich keine Prioritäten habe, ich lege meine Ziele offen dar.

Wie könnte das funktionieren?
Ich fände es zum Beispiel super, wenn alle Medien­häuser eine öffentlich einsehbare Liste veröffentlichen würden, auf der sie ihre publizistischen Prioritäten auflisten. Wenn dann jemand fragt, welche versteckte Agenda hinter der jeweiligen Bericht­erstattung stecke, können die Journalistinnen nur noch einen Link verschicken und sagen: «Here it is!»

Was bedeutet heute «Objektivität» im Journalismus?
Objektivität im Journalismus hat unterschiedliche Bedeutungen. Mit einigen habe ich kein Problem, mit anderen schon. Wenn Objektivität heisst, die Kultur, mit der du aufgewachsen bist, zu verlassen, um andere Blickwinkel einzunehmen, dann ist sie gut. Wenn Objektivität heisst, die eigenen Scheu­klappen zu kennen, dann ist sie gut. Wenn Objektivität heisst, die eigene Bericht­erstattung auf verifizierte Fakten zu stützen, dann ist sie gut. Aber wenn Objektivität heisst, die Unter­stützer sagen das, die Kritiker dies, und ich habe keine Ahnung, was die Wahrheit ist, dann habe ich damit ein Problem.

Wenn Journalisten aber immer und überall Position beziehen, schliesst sich dann nicht die «heilige Lücke» zwischen Aktivismus und Journalismus?
Journalismus ist etwas ganz anderes als Politik. Journalisten streben nicht nach Machtgewinn. Ihr Ziel kann vielmehr sein, dass politische Debatten fakten­basiert verlaufen – und Journalistinnen haben auch ein Recht, dafür zu kämpfen. Ich denke nicht, dass Aktivisten gute Journalisten wären, weil sie ihren Fokus auf den politischen Sieg legen – und nicht darauf, die Welt zu beschreiben. Das sind zwei grund­unterschiedliche Dinge. Menschen, deren primäres Motiv politischer Natur ist, sollten keine Journalisten werden.

Sie schrieben vor zwei Monaten in Ihrem Blog, dass Sie zynisch werden, je länger Sie über die Medien nachdenken.
In den USA, aber auch anderswo untergraben gewisse Menschen die Demokratie – und sie sind am Gewinnen. Dafür sind die USA ein gutes Beispiel: Es gab eine Zeit, da hätte man Politiker wie Donald Trump unter keinen Umständen in einer Republikanischen Partei akzeptiert. Und jetzt sind sie die Republikanische Partei. Ihr politischer Stil funktioniert – und die Bewegung hat unter anderem darum Erfolg, weil sie ihre Wähler dazu bringt, die Medien als wichtige demokratische Institution zu hassen. Für mich ist es sehr schwierig zu beobachten, wie unfähig das Medien­system und der professionelle Journalismus auf diese Entwicklung reagieren.

Was machen die Medien falsch?
Die amerikanische Presse ist in den Siebzigern und Achtzigern falsch abgezweigt. Sie interessierte sich nur noch für das politische Insidergame: Wie wird manipuliert, wie gewinnt man, wie verliert man, wo findet man die klugen, wo die unfähigen Politikerinnen? Journalisten verstanden es als ihren Job, das «Spiel der Politik» zu erklären, anstatt zu beschreiben, wie die Dinge innerhalb des Systems wirklich funktionieren. Das hat sie von ihrem Publikum distanziert.

Vor ein paar Wochen ist in den sozialen Netzwerken ein Chart mit dem Titel «An was Amerikaner sterben, was sie auf Google suchen und über was die Medien berichten» viral gegangen. Der Chart zeigt sehr gut, wie sich das Interesse der Journalisten von dem der Bevölkerung unterscheidet.
Dass es eine Differenz zwischen dem individuellen Interesse und der medialen Aufmerksamkeit gibt, ist bis zu einem gewissen Grad verständlich. Medien konzentrieren sich auf News; sie suchen nach dem Überraschenden und Aufregenden. Man erwartet also nicht, dass ein Sterbegrund wie Krebs im Jahr 2019 die News dominiert. Ich bin mir also nicht sicher, ob diese Zahlen ein Skandal sind. Was mir aber sofort aufgefallen ist, als ich diesen Chart zum ersten Mal gesehen habe: Die Journalisten vom «Guardian» und von der «New York Times» berichten fast gleich oft über dasselbe Thema. Jede Redaktion sollte doch einen eigenen Blick auf die Welt werfen.

Wie erklären Sie sich die Übereinstimmung?
Viele Medien beobachten sich horizontal und orientieren sich an der Bericht­erstattung der jeweils anderen, anstatt sich mit ihrem eigenen Publikum auseinander­zusetzen und eigene Frage­stellungen zu entwickeln.

Donald Trump hat in einem Tweet über vier demokratische, dunkelhäutige Kongress­abgeordnete geschrieben, dass sie zurück in ihre Heimat­länder gehen sollten. Das ist rassistisch. Und es hilft ihm erneut die Nachrichten zu dominieren. Wie sollten Journalisten darauf reagieren, ohne dass sie Trump geben, was er will?
Ich habe vor kurzem in einem Twitter-Thread beschrieben, wie die Journalisten über Trump berichten sollten. Es ist nicht nötig, ihn zum Haupt­charakter jeder Story zu machen. Wenn sich ein amerikanischer Präsident rassistisch äussert, müssen Journalistinnen darüber berichten. Aber man kann auch andere Figuren ins Zentrum stellen. Zum Beispiel die vier Kongress­abgeordneten. Oder die republikanischen Partei­vertreter, die sich entscheiden müssen, ob sie Trump trotzdem unterstützen wollen.

Kann es im Interesse der Journalistinnen sein, dass er weiterhin Präsident bleibt?
Obwohl der Hass auf die unabhängigen Medien Teil seiner Agenda ist, obwohl Trump die Journalistinnen als «Feinde des Volkes» diskreditiert, sehen es die amerikanischen Medien nicht als ihren Job, das amerikanische Stimmvolk davon abzuhalten, Trump ein weiteres Mal zu wählen. Die amerikanischen Journalisten fragen sich im Moment, wie sie über die Wahlen berichten sollten. Und nicht: Wie verhindern wir, dass dieses Desaster weitergeht? Wenn sie sich wieder mit dieser Haltung in den nächsten Wahlkampf stürzen, verraten sie ihren eigenen Berufsstand.

Verrat? Das ist ein harscher Vorwurf. Eine klare Positionierung könnte doch die gespaltene Gesellschaft noch stärker polarisieren und das Vertrauen in die Medien endgültig zerstören.
Das mag stimmen. Je kritischer die Medien über Trump und sein Verhalten berichten, desto stärker sind seine Unterstützer davon überzeugt, dass die Presse versucht, ihren Mann auszuschalten – und desto loyaler halten sie zu ihm. Wenn die Journalisten ihren Job machen, stärken sie auch die Verbindung zwischen Trump und seiner Bewegung. Das ist ein Problem. So funktioniert seine Strategie: Er macht die Medien zum Hassobjekt. Wie auch Migranten, Experten, Bürokraten. Und trotzdem sollten Journalistinnen deswegen nicht davor zurück­schrecken, eine klare Position zu beziehen. Das ist ihr Job.

Wie können die amerikanischen Medien diesen toxischen Kreislauf und die Polarisierung durchbrechen?
Der einzige Weg, wie man eine eigene, von Trump unabhängige News-Agenda entwickeln kann: Man muss seine eigene Öffentlichkeit verstehen. Die Agenda muss von den Zuschauerinnen, Hörern und Leserinnen kommen. Und wenn Journalisten verstehen, was ihrer Öffentlichkeit wichtig ist und sie bewegt, dann werden sie auch verstehen, wie sie über Trump und seine Regierung berichten müssen.

Das führt uns zum sogenannten Mitglieder­modell, das Sie unterstützen und das auch ein zentraler Aspekt des Republik-Bauplans ist. Die Idee dahinter: Medien­konsumenten sind nicht mehr nur Abonnentinnen, sondern wesentlich an der Publizistik und der Weiter­entwicklung des Journalismus beteiligt.
Ich bin begeistert von diesem Modell, weil fast alle Mitglieder­angebote werbefrei sind. Sie müssen sich nicht um Klickzahlen kümmern; sie haben keine Chronisten­pflicht; sie können dadurch bessere und vertiefte Arbeit leisten. Zudem kaufen die Konsumenten nicht einfach ein Produkt, sondern steigen in das fahrende Auto ein, helfen mit. Und weil die Unterstützerinnen an guten Journalismus glauben, braucht es auch keine digitale Paywall. Sie wollen schliesslich, dass alle etwas vom Journalismus haben, den sie finanzieren – auch die Nichtmitglieder. Damit hat die Öffentlichkeit als Ganzes Zugang zu den Inhalten, obwohl er nur von einigen wenigen getragen wird. Eine Mitgliedschaft heisst, dass Menschen direkte Verantwortung für den Journalismus und seine Qualität übernehmen, die sie bekommen.

Sie haben einen Tag in unserer Redaktion verbracht und sich umgeschaut. Real talk: Wie schlecht oder gut sieht es für die Republik aus?
Ich denke, die Republik-Mitarbeitenden haben eine gute Vorstellung davon, mit welchen Schwierigkeiten und Hürden sie konfrontiert sind. Sie wissen, es gibt einen einzigen Weg, um das Problem zu lösen: Experimente und trial and error. Sie haben alle die richtige Motivation und fragen Menschen um Hilfe, die diese Art von Journalismus unterstützen und ihre Mission teilen.

Wir versuchen einen nachhaltigen, überraschenden Journalismus zu entwickeln, der ein breites Publikum erreichen soll. An was könnten wir am ehesten scheitern?
Natürlich am Geld. Wenn es ausgeht, bevor die Probleme gelöst sind, sieht es schlecht aus. Ein anderer Feind ist der System­wandel: Der Beruf des Journalisten ist unter Bedingungen entstanden, die nicht mehr existieren. Das heisst nicht, dass der Beruf obsolet ist. Im Gegenteil: Wir brauchen mehr Journalistinnen denn je. Aber es ist schwierig, Journalisten, die im alten Medien­system aufgewachsen sind und es angeführt haben, dazu zu bringen, ihre Arbeit in ein neues Medien­system zu überführen und dem Internet anzupassen.

Warum?
Journalisten, die im alten System erfolgreich waren, haben Mühe loszulassen. Wenn Journalistinnen also zum Beispiel die wirtschaftlichen Rahmen­bedingungen ihres Unternehmens ignorieren, wie man das früher gut konnte, ist das für ein kleines Medien-Start-up wie die Republik ein existenzielles Problem.

Dürfen Journalistinnen ihr Publikum langweilen, wenn das Thema wichtig genug ist?
Manchmal müssen Journalisten in der Lage sein zu sagen: Dieses Thema interessiert dich nicht, aber es ist wirklich wichtig, dass du dich damit auseinandersetzt. Oder: Dieser Text deckt sich vielleicht nicht mit deinen Ansichten, aber trotzdem ist es wahr – und du solltest dir Zeit nehmen dafür. Die Enge der Verbindung zwischen der Journalistin und ihrer Öffentlichkeit entscheidet darüber, ob ihr das Publikum auch in schwieriges und unbequemes Gelände folgt.

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