Strassberg

Verständnis haben und nichts verstehen

Wir können uns in so vieles einfühlen: den Trump-Wähler, die AfD-Wählerin und deren Angst vor Migration. Oder projizieren wir einfach unsere eigenen Ängste?

Von Daniel Strassberg, 11.06.2019

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Empathie ist die Bereitschaft, sich in die Einstellungen anderer Menschen einzufühlen. Die Einfühlung ist nicht bloss eine unter vielen Fähigkeiten des Menschen, sie macht seine Humanität erst aus. Die Evolution hat die sogenannten Spiegel­neuronen erfunden und das Gehirn durch sie sozial gemacht (tatsächlich spricht man von social brain!). Das ermöglicht gesellschaftliche Kooperation, die wiederum, wie Ökonomen gezeigt haben, die bessere wirtschaftliche Grundlage bildet als Kampf und Konkurrenz. In der Psycho­therapie braucht es ohnehin Empathie und Verständnis. Und überhaupt: Das Einzige, was den Menschen noch vom Roboter abhebt, ist die Empathie.

Alle sind sich also einig, dass Empathie eine gute Sache ist.

Alle, bis auf einen.

«Mitleid ist bei einem Menschen, der nach der Leitung der Vernunft lebt, an und für sich schlecht und unnütz.» (Spinoza, «Ethik», IV. Teil, 50. Lehrsatz)

Baruch de Spinoza (1632–1677) war kein Psychopath, er war durchaus dafür, Menschen in Not zu helfen. Doch hielt er die Empathie für eine schlechte Beraterin, schlechter jedenfalls als die Vernunft.

Da blökt einer gewaltig gegen die heute allgemein verbreitete Verständnis­seligkeit. Die besagt bekanntlich: Der kleine Mann wird nicht ernst genommen. Mit leeren Versprechungen locken ihn die da oben an die Urne, nur um ihn am nächsten Tag wieder zu vergessen. Da haben wir Verständnis für seine Wut. Ausländer konkurrenzieren ihn im Billig­lohn­sektor und im sozialen Wohnungs­bau. Da haben wir schon Verständnis, wenn er dann mal ausländer­feindliche Parolen schreit. Während er langsam die soziale Leiter hinabsteigt, kümmert sich die sogenannte Linke um die Toiletten­probleme der LGBT-Menschen. Kein Wunder, wenn er dann AfD wählt. Da haben wir auch Verständnis. Die in Brüssel erlassen dauernd neue unsinnige Vorschriften, da haben wir für den erstarkenden Nationalismus schon auch ein wenig Verständnis. Und wenn dauernd politische Korrektheit eingefordert wird, kann es niemanden erstaunen, wenn Trump an die Macht kommt.

Natürlich ist das alles nicht gut, aber Verständnis haben wir dennoch.

Wir reden hier nicht von jener fast vegetativen Empathie, die sich reflexartig einstellt, wenn wir einen Menschen leiden sehen. Diese Form der Empathie ist von moralischen Überzeugungen und vernünftigen Überlegungen unabhängig, hat aber auch nur eine geringe Reich­weite. Das Verständnis, von dem hier die Rede ist, gilt Gefühlen, die von Annahmen über ihre Ursachen begleitet sind. Wer wütend ist, vermeint zu wissen, weshalb er wütend ist, wer fröhlich ist, glaubt die Gründe dafür zu kennen, wer Angst hat, glaubt zu wissen, wovor er sich fürchtet. Und wer zornig über seine soziale Deklassierung ist, glaubt zu wissen, dass Ausländer daran schuld sind.

Die neue liberale Verständnis­kultur, die unter dem Slogan «Man muss die Ängste der Bevölkerung ernst nehmen» segelt, bringt nicht nur für die Emotionen des «kleinen Mannes» Verständnis auf, sondern sie verpflichtet sich auf seine Gründe. Als wäre es ein Zeichen der Respekt­losigkeit, sich in den anderen zwar einzufühlen, aber seine Motivation und seine Gründe in Zweifel zu ziehen. Wer aber eine Spinnen­phobie behandeln will, indem er für die Gefährlichkeit der Spinnen Verständnis zeigt, steht auf verlorenem Posten. Er wird nie verstehen, woran der andere leidet, das Verständnis versperrt ihm den Weg zum Verstehen. Jede Psycho­therapeutin weiss, dass der Weg zur Gesundung über eine Mischung von Empathie und Empathie­verweigerung führt. Oder um mit Spinoza zu sprechen: eine Mischung aus Mitleid und Vernunft. Natürlich muss man Verständnis für die Ängste der Deklassierten haben, aber ihre oft absurden Gründe gleich miteinzukaufen, zeugt von Denkfaulheit. Oder Schlimmerem. Was in aller Welt hat die Migration mit der rasant wachsenden Schere zwischen Arm und Reich zu tun?

Echtes Verständnis zu zeigen, heisst, vorgebliche Gründe nicht zu akzeptieren. Und zwar, weil der Mensch sich selbst nicht durchsichtig ist. «Was weiss der Mensch eigentlich von sich selbst!», schreibt Nietzsche schon 1873. «Ja, vermöchte er auch nur sich einmal vollständig, hingelegt wie in einen erleuchteten Glaskasten, zu percipiren?» Freud hat daraus dann die Lehre des Unbewussten geschöpft: Weil der Mensch seine wahren Gründe nicht kennt, erfindet er im Nach­hinein Gründe. Denn er kann ohne Gründe nicht leben.

Woher also die Empathie­trunkenheit, die auch vor den linken Liberalen nicht haltmacht? Die Zeit, da Europa eine Insel der Seligen und die Schweiz eine Insel der Allerseligsten war, geht sehr bald zu Ende. Der Klima­wandel wird die Migration unabhängig von jedem politischen Willen befördern, technologisch und ökonomisch gerät Europa ins Hinter­treffen, die demokratischen Volks­parteien befinden sich in einem malignen Zersetzungs­prozess, es bleibt eine Pseudo­demokratie bestehend aus einer post­faschistischen Rechten und einer konturlosen, post­politischen Mitte übrig.

Der liberale Linke gerät dadurch in einen inneren Wider­streit zwischen seinen Ängsten und seinen Überzeugungen. Er möchte an seiner weltoffenen, altruistischen Werthaltung festhalten und gleichzeitig sein Auto, sein Einfamilien­häuschen mit Garten und seine Ferien­wohnung im Tessin behalten. Und das bei gesicherter Alters­rente und gesichertem Wahlrecht. Ach ja, die Kultur ist ihm auch wichtig!

Wenn er nun seine eigenen Ängste auf den kleinen Mann projiziert, kann er zugleich seinen Altruismus bewahren und seine Privilegien verteidigen – er schottet sich ja nicht für sich, sondern für den kleinen Mann ab.

Es ist allemal einfacher, Verständnis zu haben, als sich selbst zu verstehen.

Illustration: Michela Buttignol

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