Preis der Republik

Das höflichste «Leckt mich» der Welt

Andrea Nahles hat mit ihrem Rückzug aus der Politik auch auf den Sexismus und die Respektlosigkeiten sogenannter Parteifreunde reagiert. Der Ton, den sie dabei anschlug, ist vielsagend. Und preiswürdig.

Von der Republik-Jury, 06.06.2019

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Das höflichste «Leckt mich» der Welt
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Sehr geehrte Preisträgerin

Werte Republik-Leserinnen und -Leser

Liebe verbliebene Genossinnen

Weil auch Geschichten vom Aufhören einen Anfang haben, erlauben Sie uns, sehr geehrte Frau Nahles, zu Beginn ein wenig auszuholen und im Kalender zurückzublättern. In eine Zeit, von der das Datum beteuert, dass sie noch nicht allzu fern ist, auch wenn es sich für manche deutsche Wähler­seele um eine gefühlte Ewigkeit handeln mag.

Februar 2017: Nach Martin Schulz’ Ernennung zum Kanzler­kandidaten treten binnen weniger Tage 16’000 neue Mitglieder in die Partei ein. In den Umfragen geht es für die SPD steil nach oben, bald liegt sie bundesweit sogar vor der Union: der Schulz-Effekt. Sein Beliebtheits­wert ist deutlich über dem von Angela Merkel. Nachdem schon bei der Bundestags­wahl 2013 faktisch eine linke Mehrheit möglich gewesen wäre und dann doch die zweite GroKo unter Angela Merkel herauskam, wird Rot-Rot-Grün plötzlich wieder eine konkrete Option. Es herrscht Wechsel­stimmung, regelrechte Euphorie. Die Aussicht auf ein Ende der Grossen Koalition und die Politik der Alternativlosigkeit. Die Alternative dazu wäre nicht eine kleine, krakeelende Rechtsaussen­partei, die in diesen Tagen zurück in die einstelligen Umfrage­zahlen rutscht – sondern eine echte sozial­ökologische Zukunftspolitik.

Wer in jenen Tagen allerdings gehofft hatte, die SPD würde sich erneut als linke Partei begreifen, musste sich bald schon fragen lassen, wie es um seine politische Urteilskraft bestimmt sei. Und ob er nicht ähnlich realitätsblind sei wie jene Genossinnen und Genossen, die sich schliesslich auch bei dieser Regierungsehe mit Angela Merkel einreden würden, dieses Mal werde es schon gut gehen.

Schon im Januar 2017 hatte Sigmar Gabriel verlauten lassen: «Solange Sahra Wagenknecht Reden hält wie die AfD» – was ein Grossteil der Linken und selbst der Mitglieder von Wagenknechts eigener Partei klar verurteilte –, «gibt es für uns keine Möglichkeit für Rot-Rot-Grün.» Das Ergebnis ist bekannt: Man koalierte einmal mehr mit der CSU, deren gesamtes Wahl­programm darin bestand, Reden zu halten wie die AfD. Dazwischen hatte die Mannschaft um Schulz einen Wahlkampf zum Thema soziale Gerechtigkeit geführt – und im selben Atemzug den Rückzug von rot-rot-grünen Gedanken­spielen eingeläutet, wie aus Furcht, die Wählerschaft könnte die SPD womöglich noch für eine echte linke Partei halten.

Wie Sie, liebe Frau Nahles, wissen wir alle, was das Ende von diesem Lied des taktischen Zauderns und Zögerns war: eine nicht enden wollende Fermate der Demütigung nach einem historisch beispiel­losen Tiefpunkt. Der Schulz-Defekt. Und jetzt, wo der Karren im Dreck war, jetzt also durfte auch mal eine Frau übernehmen.

Die Sache hatte allerdings einen doppelten Haken.

Erstens: Der Koalitions­partner war immer noch derselbe.

Der Anfang, von dem wir eingangs sprachen, lag in Wirklichkeit ja schon 2005 bei der ersten oder spätestens 2013 bei der zweiten GroKo mit Merkel. Und so war für die dritte Auflage die Arbeits­teilung schon fest etabliert: Die SPD liefert die politischen Inhalte, die Union erntet den Lohn. Oder um mit der Aktualität zu sprechen: Die eine kriegt einen Doktorhut in Harvard nebst Sonderlob für den von der SPD durchgedrückten Mindest­lohn. Die andere muss derweil ihren Rücktritt verkünden.

Haken Nummer zwei: Die SPD war immer noch dieselbe.

Was für eine sprechende, herrenwitz­artige Metapher, wenn von der «alten Tante SPD» die Rede ist. Merke: viele alte Onkel = eine alte Tante. Für Ihren Rücktritt, liebe Frau Nahles, haben die Partei­oberen Scholz und Maas nun Sexismus als Mitursache ausgemacht. Vielleicht hätte es geholfen, manche Partei-Autorität hätte in den letzten Monaten schon den einen oder anderen Hinter­bänkler beim Verstoss gegen basalste Umgangs­formen zurückgepfiffen?

Aber auch als Sigmar Gabriel am Wahlsonntag zu bester Sendezeit die Forderung nach personellen Konsequenzen in die Kameras raunte und selbst nachdem Ihr Rücktritt dann verkündet war, hielten sich die Solidaritäts­bekundungen aus den eigenen Reihen in Grenzen. Die prononcierteste Ausnahme: ausgerechnet Kevin Kühnert, mit dem Sie sich damals duellierten bei der Frage, ob die SPD noch ein drittes Mal in die Grosse Koalition gehen sollte.

Bezeichnend ist auch das. Denn während manch altgedienter SPDler seit Jahren neidvoll Richtung Grüne grummelt, haben Genossen wie Kühnert verstanden, dass der Aufschwung des einstmals kleineren linken Partners auch etwas mit einer politischen Kultur zu tun hat. Mit Anstand und Respekt zum Beispiel. Und mit Geschlechter­gerechtigkeit.

Ein Dokument des Anstands, liebe Frau Nahles, ist auch Ihre Rücktrittserklärung. Nicht zuletzt dafür verleihen wir Ihnen den Preis der Republik.

Und nein, wir ersparen uns in diesem Zusammen­hang den Vergleich mit den Abgängen etwa der Herren Schröder und Lafontaine. Wir zitieren lieber Sie: «Bleibt beieinander und handelt besonnen. Ich hoffe sehr, dass es Euch gelingt, Vertrauen und gegenseitigen Respekt wieder zu stärken und so Personen zu finden, die ihr aus ganzer Kraft unterstützen könnt.»

Unüberhörbar, auch in diesen höflichen Worten, dass da jemand bereits von aussen spricht und «ihr» sagt, wo vorher «wir» war. «Mit solidarischen Grüssen / Andrea Nahles» – nach einer Abschieds­formel mit «Eure» war Ihnen, liebe Frau Nahles, offenbar nicht zumute. Und nach Heucheln auch nicht.

Was von Ihrer Arbeit bleiben wird – ausser reichlich Stoff zum Nachdenken, nicht nur für Genossen –, sind nicht zuletzt die Errungenschaften der einstigen Ministerin für Arbeit und Soziales: der Mindestlohn. Die Mütterrente.

Auch dafür gebührt Ihnen dieser Preis der Republik, dass Sie sozialpolitische Kernforderungen verwirklicht haben, selbst wenn der realpolitische Pragmatismus auch Sie zu vielen Kompromissen gezwungen hat.

Es ist ein Preis für die Umsetzung klassischer linker Politik in einer Partei, die nicht mehr links sein will, sondern Mitte.

Für die denkbar höflichste Art, «Leckt mich am Arsch» zu sagen.

Und nicht zuletzt dafür, dass Sie, während andere über Ihre Sanges­künste spötteln, das Liederbuch der Sozial­demokratie genauer studiert und erkannt haben: Nicht die SPD-Hymne «Wann wir schreiten Seit’ an Seit’» liefert in der Partei das Motto der Stunde. Eher schon die darauf reimende Biermann-Ballade: «Du, lass dich nicht verhärten, in dieser harten Zeit.»

Sie, Andrea Nahles, sind diesem Ethos gerecht geworden. Und des Kitsches waren Sie nie verdächtig.

Mit solidarischen Grüssen
Ihre Republik-Jury

Illustration: Doug Chayka

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