Faktencheck

Professor Rainer Wallny, Vorsteher des Physikdepartements an der ETH, wies die Recherchen zu seiner Rolle in der Affäre Carollo zurück und bezeichnete sie als «Groschenroman». Die «SonntagsZeitung» schrieb am 7. April, die Republik habe «nachweislich falsche Vorwürfe» verbreitet. Ein Faktencheck.

Von Silvan Aeschlimann, Dennis Bühler und Dominik Osswald, 29.04.2019

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Die Gegendarstellung der ETH finden Sie am Ende des Artikels.


1. Wallnys erste Handlung in der Affäre

Am 26. Januar, Wallny ist gerade in den USA, kontaktiert Marignano ihn per E-Mail. Später sprechen die beiden via Skype. Wallny erfährt «gänzlich unvorbereitet», wie er sagt, von den Mobbingvorwürfen gegenüber Carollo.

Aus: «SonntagsZeitung» vom 7. April 2019.

Dass Rainer Wallny bis zum 26. Januar 2017 nichts von Mobbingvorwürfen gegen Marcella Carollo weiss, ist möglich – die Republik hat dazu nichts geschrieben. Falsch ist hingegen, dass er «gänzlich unvorbereitet» davon erfährt. Seit Dezember 2016 war Wallny bekannt, dass Carollo das Arbeitsverhältnis mit Doktorandin Elisabetta Marignano (Name geändert) wegen fehlender Fortschritte beenden wollte. Am 20. Januar 2017 beriet er Carollo konkret, wie im Konflikt mit der Doktorandin zu verfahren sei. Die Doktorandin weigerte sich, eine Vereinbarung zur Übergabe der Forschungsdaten zu unterschreiben – obwohl diese der ETH gehören. Wallny schrieb in seiner Funktion als stellvertretender Departementsvorsteher in einer E-Mail an Carollo: Falls nichts anderes nütze, könne man Doktorandin Marignano drohen, sie wegen «Fehlverhalten/Sabotage» zu verklagen. Ausserdem sei es ratsam, ein «geheimes Backup» der Daten zu erstellen. Falls die Doktorandin meine, sie könne ihre Kündigung verhindern, wenn sie die Daten als «Geiseln» nehme, sei das «naiv».

2. Wallnys «Schlichtung»

Geschlichtet wurde aber durchaus. Die von Carollo unilateral eingeleitete Trennung von Marignano war ein Fakt: «Das Verhältnis zwischen Doktormutter und Doktorandin kann auf Wunsch jeder Partei geschieden werden», sagt Wallny. «In der informellen Schlichtung nach Artikel 17.1 der Doktoratsverordnung ging es daher im Wesentlichen um die Modalitäten dieser Trennung, wie zum Beispiel um die Klärung von Datenauswertungs- und Autorenrechten allfälliger Publikationen.»

Über diese Modalitäten unterhielten sich Carollo, Wallny, Prorektor Doktorat Antonio Togni und Studiendirektor Manfred Sigrist bei einem Treffen am 9. Februar 2017. «Ziel war es, eine beidseitig akzeptable Auflösungsvereinbarung zu vermitteln», sagt Wallny. War das Teil einer Schlichtung gemäss Artikel 17.1 der Doktoratsverordnung? «Ja», sagt Wallny. Dokumente, die der SonntagsZeitung vorliegen, bestätigen das. Die «Republik» interpretiert die Sitzung anders: «Dass beim Treffen am 9. 2. geschlichtet wurde, zeigen unsere Recherchen nicht», schreibt einer der Autoren auf Anfrage.

Aus: «SonntagsZeitung» vom 7. April 2019.

An dieser Stelle ist es entscheidend, zwischen dem Konflikt um die Datenübergabe und den Mobbingvorwürfen zu unterscheiden. Bei seiner Aussage, er habe nach Artikel 17.1 der Doktoratsverordnung geschlichtet, bezieht sich Wallny auf den Datenkonflikt, den die Republik in ihrer Recherche nur am Rande erwähnte – er spielte im Zusammenhang mit der Mobbingaffäre keine Rolle.

Dass Wallny am 9. Februar 2017 verspricht, sich für ein Agreement einzusetzen, damit Doktorandin Marignano die Daten aushändigt, trifft zu. Doch hat er dies in der Folge nie getan, wie die Recherchen der Republik zeigen.

In der Stellungnahme des damaligen ETH-Präsidenten Lino Guzzella an den ETH-Rat vom 21. August 2017 heisst es, Wallny habe Marignano im Dezember/Januar 2017 erlaubt, ihre Daten im Sinne einer Güterabwägung auf einen privaten Server zu verschieben und die Zugriffsrechte so zu setzen, dass Carollo nicht mehr auf sie zugreifen konnte. Trifft dies zu, spielt Rainer Wallny Anfang 2017 ein doppeltes Spiel: Während er einerseits Carollo rät, Marignano mit einer Klage zu drohen, falls diese die Daten als «Geisel» nehmen sollte, hilft er andererseits der Doktorandin, ebendies zu tun.

Dies ist jedoch ein Nebenschauplatz, der von der zentralen Frage ablenkt: Hat die ETH Zürich versucht, nach dem Aufkommen der Mobbingvorwürfe zwischen Professorin Carollo und der Doktorandin zu schlichten, so wie dies die Doktoratsverordnung vorschreibt? Die Aussage von Professor Wallny in der «SonntagsZeitung», im Fall Carollo am 9. Februar 2017 geschlichtet zu haben, steht klar im Widerspruch zu den internen Dokumenten, die der Republik vorliegen:

  • In einer Chronologie zum Personalgeschäft Carollo, die der damalige ETH-Präsident Lino Guzzella dem ETH-Rat am 21. August 2017 übergibt, ist das Treffen vom 9. Februar 2017 wie folgt beschrieben: «Besprechung der Prof. R. Wallny (StV DV D-PHYS) und M. Sigrist (Studiendelegierter) sowie Prorektor Doktorat mit MC: Vorhalt der Testimonials und Hinweis auf Verstoss gegen Grundregeln in der Führung und im Verhalten (Führungsgrundsätze) gemäss Compliance Guide S. 9 Ergebnis: MC uneinsichtig, fühlt sich ‹aggressiert›.»

  • Im Anschluss an das Treffen verschickt Wallny am 10. Februar 2017 eine E-Mail an Rektorin Sarah Springman. Darin steht: «Als nächstes haben wir Marcella angeboten, trotzdem nochmals über die Vorwürfe im Dossier zu reden – im Vorgespräch mit mir hatte sie sich bei mir beklagt, dass es ja immer noch nicht wirklich klar sei, was man ihr eigentlich vorwürfe [sic!], obwohl sie 3 Stunden mit Antonio [Togni] darüber gesprochen hatte. Ich habe ihr daraufhin aus dem Compliance Guide vorgelesen und ihr mitgeteilt, dass die Vorwürfe mehr oder weniger alle Führungsgrundsätze (pg 7) betreffen und ihr nochmals allgemein ausgeführt, was man ihr im Dossier zur Last legt.» Wallny betont, dass es nicht seine Aufgabe sei, den Wahrheitsgehalt der Vorwürfe zu eruieren. Allerdings löst er einige Wochen später basierend auf diesen nach wie vor ungeprüften Vorwürfen das gesamte Astronomie-Institut auf, nachdem er sich mit Vizepräsident Ulrich Weidmann darauf geeinigt hat, dass diese drastische Massnahme einer sorgfältigen Untersuchung vorzuziehen sei. In der zitierten E-Mail an Rektorin Springman warnt Wallny zudem: «Es kann gut sein, dass Marcella dann noch mehr Informationen aus dem Dossier erfahren will, die sie dann zu entkräften versuchen wird.»

  • In einer Aktennotiz des externen Untersuchungsleiters Markus Rüssli heisst es nach einem Gespräch mit Prorektor Antonio Togni: Es sei am 9. Februar 2017 darum gegangen, Carollo mit dem Inhalt der Testimonials und den Vorgaben des Compliance-Guide zu konfrontieren. «Ihr wird erklärt, dass ein Verstoss vorliegt, falls die Vorwürfe stimmen würden.» Das Gespräch sei sehr emotional verlaufen.

Die «SonntagsZeitung» zitiert die Entgegnung der Republik-Autoren verkürzt und damit sinnentstellend. Das Original-Zitat lautet: «Dass beim Treffen am 9. 2. geschlichtet wurde, zeigen unsere Recherchen nicht. Hingegen, dass sich Wallny und Togni mit den Worten ‹haben wir einen Schlachtplan› auf das Treffen vorbereiteten.»

3. Wallny und der Posten des Departementsvorstehers

In der Erzählung des Online-Magazins verfolgte Wallny dabei folgende Strategie: «Das Astronomie-Institut möchte er auflösen und Carollo und Lilly zu unabhängigen Professoren ernennen, die losgelöst von der Hierarchie des Physikdepartements agieren. Ohne Zugehörigkeit zu einem Institut müsste Lilly als Departementsleiter abtreten.»

Das ist falsch, wie ein Blick in die Geschäftsordnung des Departements zeigt. Gemäss dieser ETH-Richtlinie hätte Lilly auch mit einer selbstständigen Professur Departementsvorsteher bleiben können. Der angebliche «Geniestreich» wäre wirkungslos. Zudem ist Lilly am 11. Mai 2017 von seinem Amt zurückgetreten, lange bevor das Institut für Astronomie im August stillgelegt wurde. Der «Republik»-Autor geht auf Anfrage nicht näher auf diese Widersprüche ein. Er weicht aus: «Fakt ist: Der Vertrauensentzug gegenüber Lilly hat dazu geführt, dass dieser zurücktrat.»

Aus: «SonntagsZeitung» vom 7. April 2019.

Tatsächlich trifft es zu, dass Simon Lilly gemäss ETH-Richtlinie auch als unabhängiger Professor hätte Vorsteher bleiben können. Das ist insofern nicht relevant, als dies nach unserem Kenntnisstand noch nie vorkam. Irreführend ist der Hinweis der «SonntagsZeitung», Lilly sei fast drei Monate vor der Stilllegung des Astronomie-Instituts zurückgetreten. Richtig ist: Am 3. April 2017 einigten sich Wallny und Weidmann auf die Auflösung des Astronomie-Instituts, die am 4. Mai 2017 von ETH-Präsident Lino Guzzella abgesegnet wurde. Am 10. Mai 2017 wurde Lilly darüber informiert, der tags darauf mit sofortiger Wirkung zurücktrat.

Noch weitere Thesen des Online-Magazins halten einer Überprüfung nicht stand. «Die Nachfolge Lillys als Departementschef solle eine Findungskommission bestimmen, geleitet von Rainer Wallny, der sich einige Monate später selber finden und an die Spitze aufsteigen wird», schreibt die «Republik». Doch Wallny war, wie er sagt, gar nicht Teil der Findungskommission. Das bestätigt Andreas Vaterlaus, Prorektor für Curriculumsentwicklung der ETH: «Die Findungskommission bestand seinerzeit aus Manfred Sigrist, Andreas Wallraff und mir.»

Folglich konnte sich Wallny nicht selbst als Departementschef finden. Die «Republik» hält an ihrer Darstellung fest. «Dies aufgrund der uns vorliegenden Dokumente und der Aussagen mehrerer unabhängiger Quellen», schreibt einer der Autoren auf Anfrage. Entsprechende Dokumente konnte er bis Samstag nicht liefern.

Aus: «SonntagsZeitung» vom 7. April 2019.

Tatsächlich hat Wallny die Findungskommission nicht geleitet – sondern die Organisation der Findungskommission. Eine unscharfe Formulierung, wie wir gerne einräumen. Im Kern ändert dies nichts an der Tatsache, dass sich Rainer Wallny selber für den Posten des Departementsvorstehers fand. Wie genau das funktionierte, zeichnet die Republik in einem aktuellen Beitrag nach: «Wie an der ETH Posten vergeben werden – der Groschenroman».

Ohnehin stellt sich die Frage, warum Wallny die Leitung des Physik-Departements hätte anstreben sollen. «Erstens gibt es keinerlei persönlichen Gewinn im Ausüben der Pflichten eines Departementsvorstehers», sagt Wallny. Zweitens sei es wegen des hohen administrativen Aufwands vor allem eine Bürde. «Es bleibt weniger Zeit für die eigene Forschung, die bei Professorinnen und Professoren ein viel höheres Ansehen geniesst als administrative Aufgaben.»

Aus: «SonntagsZeitung» vom 7. April 2019

Professor Rainer Wallny und die «SonntagsZeitung» verschweigen, dass Departementsvorsteher rund 15’000 Franken höhere Jahreslöhne erhalten. Auch wenn dies nicht viel sein mag für einen gut verdienenden ETH-Professor, so ist es doch ein «persönlicher Gewinn». Vor allem aber ist der Posten mit Macht und Einfluss verbunden, gerade auch angesichts der ETH-typischen Vielzahl an undurchsichtigen und informellen Entscheidungs­prozessen. Vorsteher haben insbesondere in den Departementsausschüssen, wo über die Vergabe von Forschungsgeldern entschieden wird, eine Führungsrolle inne.

4. Wallny und die Administrativuntersuchung

Hat sich Marcella Carollo des Mobbings schuldig gemacht? Die Astronomie-Professorin wirft Wallny und anderen Beteiligten vor, sie hätten die in den Testimonials gemachten Anschuldigungen ungeprüft übernommen und sie von Beginn an vorverurteilt. Dem widerspricht Wallny: «Die Behandlung mutmasslichen ethischen Fehlverhaltens liegt jenseits der Kompetenzen des Departements, weshalb wir uns eine Überprüfung der Vorwürfe nicht anmassten.» Die Klärung der Vorwürfe übergibt Wallny vorschriftsgemäss an die Schulleitung. «Die Vorwürfe wurden dann durch die externe und unabhängige Administrativuntersuchung überprüft.»

Aus: «SonntagsZeitung» vom 7. April 2019.

Dass die Administrativuntersuchung schwere Mängel aufweist, verschweigt Wallny. Sie sind inzwischen auch durch den von der ETH veröffentlichten Bericht der Entlassungskommission belegt. Von der «SonntagsZeitung» unhinterfragt, blendet Rainer Wallnys Verweis auf die Administrativuntersuchung zudem die fatale Chronologie der Ereignisse aus. Zur Erinnerung: Die Administrativuntersuchung begann erst ein Jahr nach Aufkommen der Mobbingvorwürfe, als der ETH-Rat die Schulleitung überstimmte. In seinem Beschluss vom 23. Oktober 2017 hält der Rat fest, dass die Vorwürfe gegen Carollo noch nicht erwiesen sind. Doch als man Untersuchungsführer Markus Rüssli Ende 2017 auf Wahrheitsfindung schickt, ist das Astronomie-Institut bereits aufgelöst und Marcella Carollo durch einen Bericht der «NZZ am Sonntag» als «mobbende Professorin» an den öffentlichen Pranger gestellt. Rüssli kommt zum Schluss, Carollo sei zu entlassen. Doch die daraufhin von der ETH einberufene Entlassungs­kommission widerspricht seiner Empfehlung und rät, auf eine Entlassung sei zu verzichten.

Bisher unveröffentlichtes Material zeigt zudem, dass Rainer Wallny ein besonderes Interesse daran zu haben schien, dass die Administrativuntersuchung zum richtigen Resultat kommt. In einer E-Mail an ETH-Vizepräsident Ulrich Weidmann schreibt Wallny am 1. November 2017, «dass der Administrativuntersuchung Glaubwürdigkeit verliehen werden könnte, wenn Vertrauenspersonen der Beteiligten wie Du und ich hinstehen und für diese Untersuchung ‹bürgen›‚ damit wir einen ‹buy in› der Beteiligten erreichen können. Ihr Verhalten ist nach all den Wochen nicht immer ganz rational, aber das ist vielleicht verständlich bzw. sicher ein fact of life.» Weidmann findet die Idee gut und leitet sie weiter an die Generalsekretärin. Auch diese bedankt sich für den Vorschlag. Wallny antwortet, dass er dann «einen Einblick in den Plan» bräuchte und «eine Beziehung zu dem Untersuchungsführer» aufbauen sollte. «Sodass ich mich persönlich verbürgen kann, dass alles auf gutem Weg ist.» Daraufhin wird Wallny von Andreas Lerch, dem Leiter des ETH-Rechtsdienstes, zurechtgewiesen: Es sei wichtig zu verstehen und zu akzeptieren, dass der externe Anwalt die Untersuchung nach seinem Gutdünken, unbeeinflusst von jeglichen ETH-internen Stellen, durchführen und definieren werde. «In diesem Sinne braucht es weder eine besondere Vermittlung durch Sie, noch wäre dies mit Blick auf die Unabhängigkeit und Verfahrenshygiene angezeigt.»


Gegendarstellung der ETH

  • Die Republik schreibt (S. 2): «Allerdings löst er [Rainer Wallny] einige Wochen später basierend auf diesen nach wie vor ungeprüften Vorwürfen das gesamte Astronomie-Institut auf, nachdem er sich mit Vizepräsident Ulrich Weidmann darauf geeinigt hat, dass diese drastische Massnahme einer sorgfältigen Unter­suchung vorzuziehen sei.» Das trifft nicht zu.

Zutreffend ist: Den Vorschlag für die Neuorganisation im Bereich Astrophysik hat die Schul­leitung zusammen mit der Departements­leitung erarbeitet. Der Entscheid wurde daraufhin vom ETH-Präsidenten gefällt.

ETH Zürich

Die Redaktion hält an ihrer Darstellung fest.

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