Er ist wie jeder Brite eine Sphinx

Eine Einladung nach Zürich – mit Vorlauf: Unser Autor beschreibt, wie er Tom McCarthy in der «Kronenhalle» verpasst, aber in einem Windkanal schliesslich doch noch trifft. Und, klar, auch im Werk des exzentrischen Künstlers.

Von Stefan Zweifel, 26.04.2019

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Nekronaut, Dieb, Autor: Tom McCarthy. Muir Vidler/13Photo

Der britische Künstler und Autor Tom McCarthy ist ein Phänomen: Sein komplexer Roman «8½ Millionen» erschien 2005 in einem kleinen, alternativen Pariser Kunstverlag und mauserte sich zu einem internationalen Longseller, der immer weitere Kreise kreativer Köpfe in der Kunst- und Theater­szene inspirierte. «Statistiken zeigen», schrieb der Regisseur Milo Rau in einem Essay über dieses Buch, «dass der durchschnittliche westeuropäische Bürger einen Roman pro Jahr liest. Bitte lesen Sie diesen.»

Um einen solchen Roman hingegen zu schreiben, empfiehlt McCarthy den jungen Autoren, nicht in Literatur­instituten zu studieren, sondern «ein Jahr lang zu flippern». Tom McCarthy selber hat in seinem abenteuerlichen Leben nicht nur geflippert, sondern auch schon als Aktmodell und Barmann gearbeitet.

Und er leitet als General­sekretär eine Art Geheim­gesellschaft: Die International Necronautical Society (INS) erkundet die Schönheit des Todes und feiert die Geburt der Moderne aus dem Autounfall von James Dean. 2003 hackte die INS die Website der BBC und fügte in deren Quellcode eigene Propaganda ein. Was den Surrealisten die Erotik war, ist den Nekronauten der Tod: «Der Tod», so heisst es in ihrem Gründungs­manifest von 1999, «ist eine Art Raum, den wir kartografieren, betreten, kolonialisieren und schliesslich bewohnen wollen.»

Tim und Struppi im Reich der Theorie

Vor vier Jahren hielt McCarthy im Zürcher Cabaret Voltaire einen Vortrag, der mich so begeisterte, dass ich den Autor unlängst zu einem Gespräch ans Schauspielhaus Zürich einlud. Anlass: «Schreibmaschinen, Bomben, Quallen» – seine soeben auf Deutsch erschienenen Essays.

Nach Zürich reiste McCarthy freilich nicht aus London an, sondern aus Berlin, wohin er vor dem Brexit flüchtete. Er deutet den Populismus als ein politisches Reenactment, das den Briten die Möglichkeit vorspiegelt, sich aus der Globalisierung in eine splendid isolation zurückzuziehen – wie zu Zeiten, als die alte Kolonial­macht unabhängig von Recht und Ethik die Welt nach eigenem Gutdünken ausbeuten konnte.

Lustvoll dekonstruiert McCarthy diese simple Weltsicht. Schliesslich orientiert sich sein Denken am französischen Dreigestirn Gilles Deleuze, Jacques Derrida und Roland Barthes. Kein Wunder, brummt mir beim Vorbereiten des Gesprächs der Kopf. Zum Glück erläutert McCarthy das Denken der Philosophen mit Ausflügen ins Triviale: Der Kopfstoss von Zinédine Zidane verkörpert für ihn das Ende der Literatur, denn die beiden Z der Initialen bohrten sich ins ZZ von Materazzi und löschten das Alphabet aus. Oder er verwandelt Barthes’ Studie «S/Z» über Balzac in seine eigene Studie «RG» über Hergé: «Tim und Struppi und das Geheimnis der Literatur».

Barthes zeigt, dass Balzac, der Kronzeuge des Realismus, nicht die Realität in seine Bücher bannte, sondern lediglich die Kopie von Codes, die eine codierte Realität simulieren. In Balzacs Erzählung «Sarrasine» geht es um die reiche, alte Zambinella. Einst wurde sie auf den Opern­bühnen als Inbild der Weiblichkeit verehrt – doch zuletzt zeigte sich, dass die Frau gar keine Frau war, sondern ein Kastrat. Genauso bei Tim und Struppi: Die Sängerin namens «Casta-fiore» entpuppt sich als keusche – oder kastrierte – Blume, als eine Frau ohne Kitzler. Die Comicalben kreisen genauso wie die realistischen Romane um eine Leerstelle des Realen.

Qualle und Quelle von Martin Suter

Gegen die Vorherrschaft des stromlinien­förmigen Realismus in der Literatur, der unsere Bestseller­listen dominiert, propagiert Tom McCarthy komplexe Texte. Seine Essays sollen den Kahn des Realen zum Kentern bringen. Denn jeder Essay, so meint McCarthy, ist eine Qualle, die gallertartig und glibbrig den Motor des Dampfers realistischer Bestseller zum Erliegen bringt, so wie einst ein Quallen­teppich das nuklear­getriebene Kriegsschiff USS Ronald Reagan lahmlegte. Und eigentlich hätte sein Longseller «8½ Millionen» den – Jahre später erschienenen – Bestseller «Die Zeit, die Zeit» von Martin Suter zum Kentern bringen müssen.

In beiden Büchern werden Räume, ja ganze Häuser unter grossem Aufwand detailgenau rückgebaut – sogar kleine Motive wiederholen sich. Da wurde McCarthy offenbar Opfer seiner eigenen Theorie, denn er hat in einem seiner Manifeste die Literatur als Kunst des Stehlens definiert: «Kunst wird von den drei R beherrscht: Repetition, Repetition und Repetition. Deswegen glauben wir, dass Künstler weiter das tun sollen, was sie immer schon getan haben: stehlen. Kunst ist ein Repetitions­mechanismus, der über Diebstahl, Fälschung, Kopie und Einverleibung funktioniert.»

James Joyce: Hochkultur als Exkrement

Vor dem öffentlichen Gespräch im Schauspiel­haus wollen wir uns zu zweit treffen. Ich bin leider verspätet. Tom McCarthy beschreibt mir, wo er sitzt: in einer «altmodischen Brasserie» mitten im Herzen Zürichs. Mir dämmert: die «Kronenhalle». Um etwas Zeit zu gewinnen, lenke ich ihn ab mit dem Hinweis, dass dort, hinter dem Windfang, jener Tisch steht, an dem James Joyce Teile seines Romans «Ulysses» schrieb, vom Windfang «behütet», wie Joyce in einer Notiz vermerkt, und doch dem Strom seiner inneren Monologe ausgesetzt. Ich höre förmlich, wie Tom McCarthy aufspringt und, tänzelnd fast, zu dem Tisch geht, zum Tisch von James Joyce, seinem Vorbild, dessen Grab er früher bereits besucht hat.

Ihn, James Joyce, feiert er im zentralen Essay seiner Sammlung als Materialisten, der die «niedere Materie», die Innereien von Tieren und die Gebär­mütter der Frauen, zum Sprechen brachte. Er entweihte das heilige Bild von Joyce an einem internationalen Kongress mit einem Vortrag über die exkrementelle Drift seiner Schriften, in denen die Materie eine Hauptrolle spielt: Selbst den Käse beschreibt Joyce als «Leiche der Milch».

McCarthys Kronzeuge: Georges Bataille. Der verfemte Denker aus Paris. Bataille hatte gegen die Ideologie der Hoch­kultur die Kraft der «niederen Materie» gefeiert, die sich nicht dem homogenen Zwang der Vernunft unterwerfen lässt, sondern sich als heterogene Masse dem Zugriff all unserer Kategorien entzieht und uns daran erinnert, dass unser Kopf zwar erhaben unter dem Licht der Sonne im Schein des Wahren, Guten und Schönen wandelt, unsere Füsse aber im Urschlamm feststecken. In jenem kreativen Chaos, das mit Picasso, Alberto Giacometti oder Francis Bacon die Museen und Kunst­paläste eroberte.

Die Aufgabe der Literatur sieht McCarthy darin, sich an diesem Widerständigen zu reiben. Eine Art Gegen­entwurf zur Konsum­welt, in der der Mensch nur noch ein stromlinien­förmiges Subjekt ist, das in Totalrasur durch die Welt des Sex gleitet und dabei gerade jener erotischen Reibung entgeht, die uns das «Abjekte», das Verdrängte und Verworfene, bietet.

Im Windkanal der Gegenwart

Tom McCarthy treffe ich vor unserem Gespräch dann schliesslich doch – mitten im Windkanal auf dem Dach der Zürcher Hochschule der Künste. Dorthin hat er mich bestellt, weil er nicht mehr länger in der «Kronen­halle» warten wollte.

Ja, er hat Wind davon gekriegt, dass ein paar Forscher in Zürich einen historischen Windkanal aus Holz und Metall nachgebaut haben, und sitzt nun da, umströmt von schmalen Rauch­streifen, die im Laserlicht violettrot leuchten und seinen Kopf umkringeln. Fast sieht er aus wie Eraserhead aus dem Film von David Lynch. Doch was sich in seinem Gehirn genau abspielt, man kann es aus den Kringeln, die sich hinter seinem Kopf bilden, nicht so recht ablesen. Er ist wie jeder Brite eine Sphinx. Und wie jede Sphinx stellt er die grossen Rätsel­fragen des Jetzt.

Wie verwandelt sich Materie in Information? Wie zeichnet sich in Big Data jenes endgültige Buch ab, in das, wie der französische Autor Stéphane Mallarmé vor über hundert Jahren munkelte, die Welt mündet? Wie können Autoren die Wucht und die Kraft von Google und Facebook in literarische Konstrukte überführen, die den Lesern einen kreativen Ausweg aus der totalen Überwachung ins Reich der Fantasie eröffnen? Wie kann man die Forschung literarisch fruchtbar machen? Das gelingt keinem so zwingend wie ihm. Tom McCarthy.

Er verwickelt die Forscher auf dem Dach der Kunst­hochschule in Spekulationen darüber, dass der Rauch und die Schwingungen der Luftzüge zeigen, wie man eine Art geistige Skulptur von Gegen­ständen schaffen kann, wo die Materie Form wird und zugleich reine Information. Diese Frage durchstürmt all seine Bücher.

Sein letzter Roman «Satin Island», der für den Man Booker Prize nominiert war, kreist um einen Ethnologen. Der Held ist ein Fan von Claude Lévi-Strauss, der weltweit die Strukturen von Mythen verglich, und muss als erste Aufgabe für die Jeansmarke Levi Strauss ein «Narrativ» entwickeln, um den Absatzmarkt zu vergrössern. Willkommen in der Gesellschaft des Spektakels und reinen Scheins.

Durch eine Arbeit über die Riten in der Londoner Clubszene bekannt geworden, wird der Protagonist schliesslich von einer weltumspannenden Firma angeheuert, um die patterns, die Muster der Gegenwart, zu durchleuchten. Als Ethnologe studiert er nicht ferne Stämme von Eingeborenen, sondern London und die Angestellten einer globalen Firma. Er soll den ultimativen Bericht über die Gegenwart verfassen. Doch dabei zeichnet sich ab, dass der Autor, wie Roland Barthes schon gewusst hat, tot ist. Das totale Buch schreibt sich selbst – im World Wide Web. Eine unheimliche Erfolgs­geschichte, die die Autoren auslöscht. Doch McCarthy zeigt, dass die Fantasie der Menschen diese Tendenz überwölben kann.

Ich frage mich, ob er zu unserem Gespräch im Schauspiel­haus nur zugesagt hat, weil er diesen Windkanal testen und die Forscher der Kunst­hochschule treffen wollte, denn offenbar spielt ein solcher Kanal eine Schlüssel­rolle in seinem nächsten Buch, in dem er die Muster der Gegenwart und der aktuellen Forschung wieder einmal in Metaphern bannen will.

Ich setze mich in den Windkanal. Die roten Rauch­streifen teilen sich vor meinem Auge. Mein Kopf wird zum Raum­schiff, der Sog des Lichtes verspricht Tod und Wieder­geburt zugleich. Ein seltsames Gefühl. Bin ich jetzt ein Nekronaut? Nein. Ich sitze lediglich an jenem Punkt, an den McCarthy alle Leser und Autoren entführen will. Dort, wo der Roman trotz Barthes’ Diktum vom Tod des Autors neu geboren wird, aus den Strukturen der Wissenschaft, die Materie in Information umwandelt. Genau so wie McCarthy den realistischen Roman in ein komplexes Gedanken­experiment überführt, der den Kopf zum Rauschen bringt.

Ich stehe auf und fühle mich gewappnet für das Gespräch.

Zum Autor

Stefan Zweifel ist studierter Philosoph, Übersetzer, Literatur­kritiker und Ausstellungs­kurator. Von 2007 bis 2014 zählte er zum Team des «Literaturclubs» beim Schweizer Fernsehen, die letzten zwei Jahre als Moderator. Er lebt in Zürich.

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